Ein Leben in Fülle – für alle

Es war eine typische Lehrerfrage: «Was würdest Du Jesus fragen, wenn er in unsere Zeit käme?» In etwa kann ich mich noch an meine Antwort erinnern. In meinem Gedächtnis haften geblieben aber ist vor allem die Bemerkung eines Mitschülers: «Ich würde ihn fragen, ob er mit mir ein Bier trinken kommt!» So banal, und gleichzeitig lag da so viel drin. Eine Offenheit und ein Interesse dem anderen gegenüber. Die Bereitschaft, sich auf die Begegnung in ihrer Dynamik einzulassen. Freundlichkeit und ein gewisses Selbstbewusstsein auch. Als Theologin sehe ich heute darin auch die Fähigkeit, Jesus frei zu lassen statt ihn vorschnell auf unsere Fragen, Bedürfnisse und Wertungen hin zu lesen. Hier kann Jesus aus den Bildern steigen und sich zeigen als der, der er ist – der Lebendige.

«Ein Fresser und Säufer» (Lukas 7,34)

Wir wissen, Zuschreibungen der gegnerischen Seite sind mit Vorsicht zu geniessen. Doch Jesus scheint wirklich gerne gegessen, getrunken und gefeiert zu haben. So berichten alle Evangelien von vielen Mahlgemeinschaften. Wir finden Jesus im Haus des angesehenen Simon. Er sitzt zu Tisch beim reichen Lazarus. Ebenso beim randständigen Zöllner Zachäus oder bei einfachen Fischersleuten, der Schwiegermutter des Petrus etwa. Er feiert die Hochzeit von Kana mit und nimmt seine Gefolgschaft in Schutz, als sie am Sabbat Ähren reisst, um den Hunger zu stillen (Markus 2). Ein Asket wie Johannes der Täufer war Jesus auf keinen Fall, sonst hätte man ihn nicht als Fresser und Säufer verunglimpfen können.

Was hatte Jesus zu feiern?

Ganz kurz gesagt: Er feierte das Anbrechen des Reiches Gottes. Das klingt vielleicht aufs erste recht fromm und passt so gar nicht zum Essen und Trinken und Feiern. Und doch steht das Gottesreich im Mittelpunkt dessen, was Jesus von Nazaret verkündet hat und woran er sein Leben orientiert hat. Bereits bei seinem ersten öffentlichen Auftreten – so überliefert das Markusevangelium –, verkündete er: «Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!» (Markus 1,15)

Was bedeutet «Gottesreich»?

Wenn das Gottesreich wirklich «da» ist, ist ein anderes Leben möglich. Ein Leben nach den Massstäben Gottes, die da sind:

  • Gerechtigkeit und Barmherzigkeit,
  • jedem Menschen die Würde als Tochter oder Sohn Gottes zusprechen,
  • jedem Menschen das Leben mit allen seinen Möglichkeiten zutrauen.

Das Gottesreich meint alle. Es ist die Einladung zu einem grossen Fest, dem Fest des Lebens in Fülle.

Leben im Gottesreich

Vom Gottesreich ist Jesus derart erfüllt, dass er sein ganzes Leben danach ausrichtet. Er verhält sich wie einer, der bereits im Gottesreich lebt. Er lebt, was er sagt, und ist auf faszinierende Weise gerecht und barmherzig. Er spricht jedem Menschen eine ganz besondere Würde zu. Und da Jesus das Gottesreich als Einladung Gottes zu einem Fest versteht – und selbst oft mit dem Hunger kämpft, lässt er sich immer wieder zum Essen einladen. Und da Gott keine Unterschiede in seiner Liebe zu den Menschen macht, setzt er sich mit allen an einen Tisch. Alle sollen ein Leben haben, in dem ihnen etwas zugetraut wird. Zum Gottesreich gehören also auch die, die nach den herrschenden Massstäben oft ausgeschlossen sind: von Chancen, von Gemeinschaft, von Gütern, von Anerkennung, vom Gottesdienst, von Vergebung, von Heilung.

Geschenkte Freiheit

Das Gottesreich schenkt Freiheit. Dies macht eine Gegebenheit, die uns Lukas berichtet, in besonderer Weise deutlich (Lukas 7,36-50). Da sitzt Jesus eines Abends bei Simon zu Tische. Als Pharisäer gehört Simon zu einer Gruppe von Laien, die in einer Zeit verwirrender Fremdeinflüsse entschieden für einen jüdischen Weg eintritt, für ein Leben nach dem religiösen Gesetz. Das Land ist unter römischer Besatzung und kulturell vom Hellenismus fasziniert. Jesus lässt sich nun von einer Frau, die ungeladen in die Männerrunde platzt, berühren und die Füsse salben. In den Augen Simons hat er sich damit eindeutig diskreditiert. Denn die Frau ist eine stadtbekannte Sünderin. Sie hält sich nicht an das religiöse Gesetz. Dieses  regelt das Leben bis ins letzte Detail, bestimmt über Kontakte, die man pflegen darf, so dass schon am Beruf ablesbar ist, ob jemand zu den SünderInnen zählt. Neben den Zöllnern und Hirten gehören auch die Dirnen dazu. Möglich, dass die «stadtbekannte Sünderin» zu den mittellosen Frauen gehört, die ihr Überleben als Prostituierte erkämpfen. Simon klärt Jesus nicht auf, noch greift er ein. Die Frau ist es wohl nicht wert, dass er sich mit ihr abgibt. Sie zählt nicht. Simon konzentriert sich ganz auf Jesus. Und sein Urteil steht fest: Dieser Mensch kann kein Prophet Gottes sein!

Tischordnung und Gesellschaftsordnung

Zur Zeit Jesu sah man bereits an der Tischordnung, welchen Rang jemand in der Gesellschaft hatte. Man setzte sich nur mit seinesgleichen an den Tisch. Daran hat sich bis heute gar nicht so viel geändert. Die Einladung des Pharisäers zeigt, dass Simon in Jesus einen frommen Mann sah. Mit ihm konnte er sich ruhig an einen Tisch setzen, musste doch die Mahlgemeinschaft nach damaliger Überzeugung auch vor Gott als Gemeinschaft Bestand haben. Wenn Jesus nun mit Sünderinnen und Zöllnern zusammen sass, verwischte er die klaren Grenzen zwischen Göttlichem und Sündhaftem, zwischen Gut und Böse. Ein Tun mit unabsehbaren Folgen auf gesellschaftlicher, politischer und religiöser Ebene! Für Jesus gehörte es zum Anbrechen der Gottesherrschaft.

Vergebung erfahren – Würde bekommen

Konzentriert auf die Frage, wie er Jesus einzuschätzen hat, verpasst Simon Wesentliches. Die Frau kommt in sein Haus, um Jesus ihre grosse Dankbarkeit auszudrücken. Sie ist ihm begegnet oder hat von ihm gehört, und darin Vergebung und Anerkennung erfahren. Sie, die sich selbst oft verachtet, hat erfahren, dass sie angenommen ist. Sie weiss nun, dass sie (in Gottes Augen) eine Tochter Abrahams ist. Dies gibt ihr Kraft, ihren Alltag zu bestehen oder gar mit Hilfe anderer einen Neuanfang zu realisieren. «Deine Sünden sind dir vergeben», stellt Jesus fest. Ein solches Wort löst bei den Gästen Diskussionen aus. Für Jesus jedoch ist klar: Die Liebe, die diese Frau ihm erweist, ist Zeichen dafür, dass sie die Erfahrung der Vergebung gemacht hat. «Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie mir so Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.» Wer sich Gott öffnet und aus seiner Zuwendung lebt, der wird einer grossen Liebe fähig. Übrigens: Was es in Simon auslöst, wenn Jesus zur Sünderin sagt: «Dein Glaube hat dir geholfen», darüber schweigt Lukas sich aus. Ob Simon seinen prüfenden Blick aufzugeben vermag und sich einlassen kann auf die Einladung zum grossen gemeinsamen Fest, das ein gutes Leben für alle verspricht?

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