Der beneidete Engel
In seinem Buch «Der beneidete Engel» schreibt Gottfried Bachl, wie er als Bub zur Weihnachtszeit in der Kirche jeweils die ganze Messe hindurch den Engel bestaunte, der an einem Seil über der Krippe und dem Jesusstall schwebte. Ja, mehr noch, wie er ihn beneidete. Ruhig hing er da oben im Licht, über den Ecken und Winkeln. Ihm konnte nichts geschehen. Er war unverletzlich und sah alles, wusste alles. Er hatte den Überblick. So anders die Welt des Jungen. Er wusste, sie war zu unheimlichen Wechseln fähig. So fuhren zwischen den friedlichen Personenzügen immer häufiger Kriegszüge und Gefangenentransporte durchs Land. Die Häuser kamen ihm vor wie Labyrinthe. Die Gesichter der Menschen waren wichtig, doch nicht immer verlässlich. In sie hineinsehen konnte der Bub nicht. Ja, kannte er sich selbst? Mit Entsetzen stellte er fest, dass Gedanken ihn einfach überfielen. Beim Milchkannen Holen packte ihn die Vorstellung, das Weltenhaus könnte leer sein: Der Schrecken liess ihn nicht mehr los. «Der Engel war ein Kristall, er selbst eine Zwetschge. Gabriel sah durch und durch, er aber kannte seinen Kern nicht, wusste nicht, ob dort nicht Würmer hausten, ob er nicht ganz anders war, als er war.»
Unverfügbar fremd
Der Bub macht eine Erfahrung, um die wir uns gerne drücken. Doch es ist eine Erfahrung, die an Wesentliches rührt. Wir sind uns selbst letztlich entzogen. Der Junge wird grösser werden, sich besser kennen lernen, eine eigene Identität entwickeln, und doch wird dieses irritierende Stück Fremdheit bleiben. Wir sind nicht glasklar durchschaubar und berechenbar wie der Kristall. So geht es uns auch mit anderen Menschen, besonders jenen, die uns nahe sind. Wir kennen sie und kennen sie doch nicht. Es bleibt ein Geheimnis um jeden Menschen, und das ist gut so. In dieser Erfahrung, dass der oder die andere, ja, dass sogar ich selbst mir nicht restlos gegeben (erklär- und greifbar) bin, rühren wir an die Mitte der Person. Als Christinnen und Christen verstehen wir diesen unverfügbaren Kern als etwas Heiliges, ja, Göttliches im Menschen. Wir glauben, dass wir in der Erfahrung der menschlichen Unverfügbarkeit (Liebe, Achtung) immer auch dem Unverfügbaren, dem grossen Geheimnis begegnen, das wir Gott nennen. Die Erfahrung des Jungen, die im Zweifel bestand, ist eine Erfahrung Gottes. Gott ist ihm jedoch nicht einfach gegeben wie eine Sache. In seinem Zweifel sucht der Bub ihn, er ruft nach ihm. Gotteserfahrung ist ein Spiel von Ruf und Antwort.
Gerufen
«[…] ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir!» (Jesaja 43,1). «[…] Gott hat mich schon im Mutterleib berufen, als ich noch im Schoss meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt» (Jesaja 49,1). «Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir […]» (Apostelgeschichte 17,28). Die Überzeugung, dass Gott immer schon da und uns nahe ist, findet in der Bibel vielfältigen Ausdruck. Gott hat uns ins Dasein geliebt. Als sein Geschöpf stehen wir immer schon mit ihm in Beziehung. Unser Leben ist immer schon Antwort: Dankes-, Such- und immer wieder auch Hilferuf. Wir müssen nicht alles aus uns heraus schaffen, brauchen uns nicht krampfhaft um uns zu sorgen. Ja, wir sind immer mehr, als wir sind. Wir haben Anteil an der Schöpfung, Anteil an Gott. Die ganze Schöpfung, so betonte die junge Kirche, ist Bild und Spur Gottes. Wir brauchen die Welt nicht aufzuteilen in heilig und profan, Materie und Geist, Leib und Seele. Alles wurde von der göttlichen Liebe ins Leben gerufen und alles verweist uns an sie.
Menschlich
So benötigt der Junge kein besonderes Wissen, keinen besonderen Platz, keine besondere Leistung, um Gott zu begegnen. Seine Sehnsucht, engelgleich über allem zu schweben und alles zu verstehen, führt ihn nicht nur von seinem Menschsein, sondern auch von Gott weg. Unser Weg führt über unser je eigenes Menschsein: Einfach Mensch sein, wahrhaft Mensch. Der Mystiker Niklaus von Kues formuliert Gottes Zusage an uns mit folgenden Worten: «Sei Du Dein, dann werde ich Dein sein.» Frömmigkeit bedeutet nicht Ausstieg aus der Leiblichkeit, aus dem Dunklen, Bedrängenden, sondern sich Einlassen in diese Welt mit ihren Nöten und Freuden, mit ihren Möglichkeiten und Chancen. Leben ist nichts für Perfektionisten. Der Drang, vollkommen zu sein, macht uns unmenschlich. Leben fordert Geduld, Bejahung, Unsicherheit, Vergebung, Gelassenheit – ganz einfach: Menschlichkeit.
Solidarisch
Der Junge weiss es intuitiv: Eine solche engelsgleiche Erhebung würde ihn um die Geschwisterlichkeit des Lebens bringen. «Der Vater, die Mutter blieben dann unten, die Brüder, die Schwestern, die Katzen, die Hasen, alles, was er gern hatte. Was blieb ihm dann? Das Vergnügen der Heiterkeit über den Leuten, auf die er hinabsehen konnte. Wenn aber unten etwas passierte, musste er nicht kopfüber hinab in die Schürze der Mutter? Einen Hasen retten? Dem Vater helfen?» Leben heisst Mitsein. Wir sind nicht der Nabel der Welt, auch wenn wir die Welt gerne um uns herum ordnen, alles auf uns hin lesen. Wir können uns nicht alles aussuchen. Unsere Geschichte beginnt nicht bei Null.
Wir stehen immer schon in einem Geflecht von Beziehungen, sind immer schon gefordert und in Verantwortung genommen, immer schon in eine Schuld- und Freiheitsgeschichte eingeschrieben. Wie gehen wir damit um?
Bedürftig
Wir sind gerne souverän, lieben es ungebunden und frei zu sein, wollen stets mit eigener Stimme sprechen. Doch wer immer alles allein kann, ist bald allein. Wer nichts annehmen kann, hat nichts zu geben. Einsamkeit prägt die westliche Welt. Darüber vergessen wir, dass wir immer aus anderem leben – aus der Liebe der Eltern und Freund:innen, aus dem Zuspruch der anderen, von der Arbeit Fremder. Ja, selbst unsere Sprache – Muttersprache – ist geliehen. Wir sind immer mehr als wir selbst! Wir dürfen aus der Hoffnung der anderen leben, wo wir selbst nicht mehr zu hoffen vermögen. Als Teil einer grossen Glaubensgemeinschaft dürfen wir teilhaben an der Erfahrung der anderen, können uns einklicken in ihre Geschichte, die Welt mit anderen Augen betrachten.
Verschieden
Die zwei Schöpfungsberichte betonen das Mitsein auf ihre je eigene Weise. «Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.» So schafft Gott in Genesis 2 dem Menschen ein Gegenüber, ihm ebenbürtig. Aus dem Erdling (Adam) werden Mann und Frau. Leider ist der Text und v.a. seine Geschichte patriarchal geprägt. Dies hängt auch damit zusammen, dass man im Urtext auf ein Wort trifft, das man nicht kennt, das in der ganz Bibel nirgendwo sonst zu finden ist. Die Tradition überlegte sich, was der Mann entbehren könne und übersetzte mit «Rippe». Die Frau ist dem Mann jedoch nicht entbehrlich. Die Pointe liegt gerade darauf, dass die Frau aus der Mitte genommen ist, aus dem Rückgrat, ohne das Adam nicht sein kann. Der andere Schöpfungsbericht in Genesis 1 hält fest, dass die Menschen immer schon zweigeschlechtlich sind. «Männlich und weiblich schuf er sie» (Genesis 1,27). Kein Geschlecht hat den Vorrang vor dem anderen. Eine Hierarchisierung (die Frau sei dem Mann untertan) lässt sich mit diesem Grundtext der Bibel nicht rechtfertigen. Festgehalten wird auch, dass die Differenz der Geschlechter zur guten Schöpfung gehört. Dasselbe gilt für die Differenz, die ich zwischen mir und dem anderen spüre. Sie oder er sieht und erlebt die Dinge anders als ich. Wir sollten der Versuchung widerstehen, die anderen Menschen uns gleichzumachen bzw. ihnen anzugleichen. Herrschaft wie Unterwerfung zerstören die Vielfalt und Verschiedenheit. Gerecht ist eine Beziehung, wenn sie im Gleichgewicht ist, d.h. wenn beide Seiten als Person ernstgenommen und geachtet werden.
Wir brauchen Menschen, die «ich» sagen können. Nichts ist schwieriger, als mit Menschen eine Beziehung zu leben, die sich ständig verleugnen und kleinmachen, die unfähig sind, sich kenntlich zu machen und ihre Bedürfnisse auszudrücken. Doch wer immer nur «ich» sagt, hat nicht nur ein sehr beschränktes Vokabular, beschränkt ist auch seine Welt. In allem begegnet er nur sich selbst. Etwas anderes gibt es nicht. Dieses Bedürfnis beispielweise, dem kranken Menschen gegenüber von meinen Krankheiten oder den Krankheiten meiner Bekannten zu erzählen… Warum nicht einfach mal zu hören, mal ganz beim anderen sein, die Welt mit seinen Augen ansehen? Wir brauchen Menschen, die «wir» sagen, ja, wichtiger noch: Menschen, die «Du» sagen können.
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