Plötzlich ist alles anders – z. B. für Eltern, deren 2-jähriges Kind einen bösartigen, unheilbaren Tumor hat
für ein querschnittgelähmtes Unfallopfer für die Angehörigen des Opfers eines tödlichen Verkehrsunfalls
für die Familie, die in einem Unwetter alles verloren hat.
Leiden trifft und erschüttert uns Menschen im Kern unserer Existenz. Es durchkreuzt unser Leben in dramatischer Weise. Wie die Erfahrung der Liebe auf der positiven Seite, so ist auf der negativen Seite das Leiden eine existentiell umwerfende Erfahrung.
Leiden gehört zum Leben
Leiden gehört zum menschlichen Leben. Wo Leben ist, da ist auch Leiden. (Genau diese Erkenntnis stand auch am Anfang des religiösen Weges von Buddha. Seine Formulierung war noch kompromissloser: Leben ist Leiden.) Leiden ist Teil des Lebens, denn zum Leben gehören auch Krankheit, Sterben und Tod. Und wo menschliche Freiheit ist, da ist auch die Möglichkeit des Bösen, denn Menschen können ihre Freiheit missbrauchen, können andere ausbeuten, quälen, foltern, verstümmeln, töten – also leidend machen. Menschheitsgeschichte ist Leidensgeschichte. Und weil Menschen in der Welt leben, sind sie den Launen der Natur ausgesetzt und können Opfer von Naturkatastrophen werden. Und schliesslich: Weil Menschen Beziehungswesen sind, schmerzt sie der Verlust ihrer Angehörigen und Nächsten. Leiden gehört zum Leben aller Menschen, und doch wirft es viele Fragen auf. Warum ich? Warum gerade jetzt? Ist das gerecht? Wozu das alles?
Warum? – Die Frage bleibt ohne Antwort
Es gehört zur Leiderfahrung, dass es ununterbrochen in uns fragt «Warum?» und wir ohne Antwort bleiben. Oft ist diese Frage nur mehr ein stummer, verzweifelter Schrei. Dieser Aufschrei, der die Menschheitsgeschichte durchzieht, trifft die Religionen im Innersten. Im Raum des Gottesglaubens verschärfen sich die Fragen: Warum lässt der gute Gott uns leiden? Wenn Leiden zur Schöpfung gehört, warum dann diese Schutzlosigkeit der Menschen? Warum hat das Leiden die Macht, Menschen zu korrumpieren, kaputt zu machen? Es ist die zum Himmel schreiende Masslosigkeit und Ungerechtigkeit, die quält. Wo bleibt Gott? Warum setzt er der Vernichtung keine Grenzen? Das Leiden ist zweifellos die ernsthafteste Infragestellung Gottes. Schon der griechische Philosoph Epikur hat ca. 300 vor Christus die Ausweglosigkeit auf den Punkt gebracht: «Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht (dann ist er schwach, nicht allmächtig). Oder er kann es und will es nicht (dann ist er missgünstig, nicht gut). Oder er kann es nicht und will es nicht (dann ist er weder allmächtig noch gut). Oder er kann es und will es – woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?» An diesem Dilemma haben sich im Laufe der Jahrhunderte Philosophen, Theologinnen und Theologen die Zähne ausgebissen. Viele führte die Leidensfrage in den Atheismus. Denn es gibt keine stichhaltigen theologischen Antworten auf die Warum-Frage. An der Frage des Leidens zerbrechen alle theoretischen Antworten.
Das Buch Ijob – keine vorschnellen Erklärungen
Ungefähr zeitgleich zu Epikur entstand das biblische Buch Ijob. Es befasst sich mit den damals in Israel verbreiteten Erklärungsversuchen für das Leiden. Erzählt wird die Geschichte vom gerechten Gutsherr Ijob, der sich stets an alle religiösen Weisungen gehalten hat. Mit einem Schlag verliert er all sein Hab und Gut. Seine Söhne kommen ums Leben. Krank und elend hockt er schliesslich auf einem Aschehaufen, von Geschwüren bedeckt. Er weint, klagt und schreit: Warum muss ich so leiden? Wäre ich doch besser gar nicht geboren! Da kommen Ijobs Freunde, um ihn zu trösten. Sie scheinen zu wissen, dass in den meisten Fällen Dasein das Einzige ist, was wir tun können. «Und sie setzten sich zu ihm auf die Erde sieben Tage und sieben Nächte lang, ohne dass einer ein Wort zu ihm redete; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr gross war.» (Ijob 2,12) Dann aber versuchen sie doch, ihm sein Leiden verständlich zu machen, und beginnen auf ihn einzureden. Die Freunde sind überzeugt, dass Ijob nicht schuldlos leidet. Das weisheitliche Denken ihrer Zeit sagt, dass Tugend belohnt, Sünde bestraft wird. «Bedenk doch! Wer geht ohne Schuld zugrunde? Wo werden Redliche im Stich gelassen? Wohin ich schaue: Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch!» (Ijob 4,7-8) Für die drei Freunde lässt sich vom Schicksal eines Menschen eindeutig auf das Verhalten zurückschliessen: Wer ins Elend kommt, hat gesündigt und ist von Gott abgefallen. Ebenso klar ist für sie, was Ijob nun tun muss: Umkehren und Sühne leisten. «Kehrst Du zum Allmächtigen um, wirst Du aufgerichtet.» (Ijob 22,23) Das Leiden soll ihrer Ansicht nach dem Menschen bewusst machen, wie klein und ohnmächtig er ist und ihn an die Allmacht Gottes verweisen. Damit greifen Ijobs Freunde auf ein zweites Erklärungsmodell ihrer Zeit zurück. Leiden ist ein Erziehungsmittel Gottes. «Ja, selig der Mensch, den Gott zurechtweist. Die Zucht des Allmächtigen verschmähe nicht! Denn er verwundet und er verbindet, er schlägt, doch seine Hände heilen auch.» (Ijob 5,17-18) Ein Gottesbild, das über lange Zeit viel Unglück angerichtet hat!
Dem Leiden standhalten
Die drei Freunde vermögen Ijob in seinem Schmerz nicht zu erreichen. Denn für ihn ist die Ordnung, in der seine Freunde leben, in die Brüche gegangen. Was ihm widerfährt – dieses Übermass an Leiden! – kann in keinem Verhältnis zu seinem Tun stehen. Ijobs Welt ist verhältnislos geworden. Was über ihn hereingebrochen ist, trägt chaotische Züge. Seiner Leiderfahrung vermögen die Freunde nicht gerecht zu werden. Im Gegenteil, mit ihren vorschnellen Erklärungen lenken sie ab von dem, was ist. Sie verharmlosen sein Leiden, indem sie es einzuordnen versuchen in ein sinnvolles Ganzes. Ijob wehrt sich standhaft gegen die «frommen» Argumente seiner Freunde. Er lässt sich das Klagen nicht verbieten und beharrt guten Gewissens auf seiner Unschuld. Sein Kampf ist auch ein Ringen um Anerkennung. «Habt endlich die Güte, wendet euch mir zu, ich lüge euch nicht ins Gesicht.» (Ijob 6,28) Es ist der verzweifelte Versuch, der Wirklichkeit in ihrem Schrecken standzuhalten und nichts schönzureden. Es ist auch eine klare Absage an Schuldzuweisungen.
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