«Ich habe die Klagen meines Volkes gehört»

Drei Fragen aus der Geschichte

Als Ende 2004 ein Tsunami Hunderttausende Menschen in Südostasien ins Unglück stürzte, wurde bei vielen Menschen die Frage laut: Wo war Gott?

Andererseits wissen manche Menschen ganz genau, wo Gott ist. Als in den 70er Jahren die Immunschwächekrankheit AIDS auftrat und bekannt wurde, dass vor allem Homosexuelle davon betroffen sind, wurde in manchen christlichen Kreisen davon gesprochen, dass Gott diese Strafe wegen der Sünde der Homosexualität geschickt habe. Und als George W. Bush seine Truppen im Irak einmarschieren liess, hatte er keine Hemmungen zu erklären: «Gott ist auf unserer Seite.»

Drei Erfahrungen aus unserer jüngsten Geschichte, die die Frage laut werden liessen, ob und wenn ja wie Gott in die Geschichte eingreift.

Der Auszug als zentrale Erfahrung

Für das Judentum ist die Geschichte vom Auszug aus Ägypten, der Exodus nicht einfach eine «alte Geschichte». Es ist die Gründungsgeschichte des Volkes Israel. Jahr für Jahr wird diese Geschichte am jüdischen Paschafest erzählt, während sich die Familien zu einem festlichen Mahl versammelt haben. Dabei ist das Erzählen nicht nur Erinnerung, sondern vor allem Vergegenwärtigung. «In allen Zeitaltern ist jeder verpflichtet, sich zu betrachten, als ob er gleichsam selbst aus Ägypten gegangen wäre», sagt die Liturgie zum Paschafest.

Jeder jüdische Mensch weiss auf Grund dieser Erzählung, dass er als Mensch zur Freiheit berufen ist, weil sein Gott gegen jede Unterdrückung eingreift. Immer wieder wird davon erzählt und werden Lieder darüber gesungen. Auch politisches Engagement wird damit begründet. Wir bemühen uns um Gerechtigkeit, weil wir die Erfahrung der Ungerechtigkeit kennen. Wir sind selbst einst Sklaven gewesen. Und so wie in Ägypten soll es bei uns nie mehr werden.

Die Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten ist auch ganz zentral dafür, was wir uns für ein Bild von Gott machen. Gott hört und sieht unser Leid und jedes andere Leid. Gott ist leidenschaftlich engagiert gegen Situationen der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Gott ist ein Gott der Freiheit und Gerechtigkeit. Gott ist bei uns, vor allem, wenn wir unter Ungerechtigkeit leiden oder uns um Gerechtigkeit bemühen. Von daher ergibt sich ganz logisch eine Solidarität mit allen Armen, Schwachen und Unterdrückten. Auf deren Seite steht der Gott der Freiheit und Gerechtigkeit, und nicht auf Seiten der Mächtigen, die ihn für ihre Machtspielchen missbrauchen, oder der «Frommen», die sich über die leidenden AIDS-Kranken auch noch moralisch erheben, statt ihnen zu helfen.

Die Gefahr des Missbrauchs – das Ringen um Gott

Immer wieder besteht die Gefahr, dass Menschen Gott missbrauchen. Dass sie ihre eigenen Interessen mit Gott begründen. Dass sie das, was ihnen dient, als göttliches Eingreifen ausgeben. Die Bibel weiss um diese Gefahr. Die gesamte Bibel durchzieht dieses Ringen um das rechte Verständnis von Gott. Es ist keinesfalls immer sofort klar, wer für den Gott der Freiheit und Gerechtigkeit eintritt und wer nicht. Darüber wird auch in der Bibel gestritten. Und nur zu oft erweist sich erst im Nachhinein, welcher Weg der bessere gewesen wäre. Die biblische Geschichte ist durchgehend auch eine Geschichte von Schuldigwerden und neuen Anfängen.

Kein Gott der Mächtigen

Eindeutig allerdings scheint für die Bibel zu sein, dass Gott stets auf der Seite der Schwächeren zu finden ist. Kein Machtmensch, keine Supermacht kann sich auf den Gott der Bibel berufen, wenn Menschen unterdrückt und Völker versklavt werden. Im Munde dieser Mächtigen werden Bibelzitate zum blanken Hohn. Und auch die Regierenden in Israel mussten sich immer wieder von den Prophetinnen und Propheten zurechtweisen lassen, wenn sie die Menschenrechte verletzten.

Für uns Christen ist Jesus von Nazaret Vorbild. Er hat sich wie die Propheten auf die Seite der Schwachen gestellt und gesagt: «Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch gross sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.» (Markus 10,42-44)

Und wenn Christinnen und Christen in der Osternacht die Bibellesung vom Auszug aus Ägypten und der wunderbaren Rettung am Schilfmeer hören, dann erinnern sie sich an ihre eigenen Befreiungserfahrungen. Und wenn sie darüber erschrecken, dass diese Befreiung so viele Opfer gekostet hat, die als tote Ägypter am Meeresstrand liegen, dann sei Ihnen die folgende jüdische Geschichte erzählt: «Als die Ägypter im Meer versinken, wollen die Engel im Himmel ein Lob anstimmen. Da spricht der Heilige, gepriesen sei er, jedoch zu ihnen: ‹Meiner Hände Werk versinkt im Meer, und ihr wollt ein Lied anstimmen?›» Gott kann sich nicht freuen an den toten Ägyptern, selbst wenn die Freiheit nicht anders zu haben war.

Eine grosse Verantwortung

Einzustehen für Freiheit und Gerechtigkeit auf dieser Welt ist gefährlich. Gefährlich auch deshalb, weil der gute Wille nur allzu leicht in Aggression umschlagen kann. Vor allem dann, wenn es keine Erfolgserlebnisse gibt. Die Geschichte ist voll von enttäuschten Idealisten, die schliesslich zur Gewalt gegriffen und die anfangs gute Intention missbraucht haben. Das kann aber nicht der Wille Gottes sein. Viel eher will Gott uns – wie Mose und das Volk Israel – ermutigen zu befreiendem und solidarischem Handeln.

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