Mose: Zunächst Mord und Ausreden

Im Unterschied zu den Frauen, die sich mit ihrem eigenen Leben für das Leben anderer einsetzten und damit auch Mose retteten, beginnt Mose in der biblischen Erzählung mit einem Mord und sieben Ausreden gegenüber Gott.

Unter Einsatz ihres eigenen Lebens haben Frauen Mose das Leben gerettet.Aber die erste Tat des Mose geht in die genau entgegengesetzte Richtung:

«11 Zu jener Zeit, als Mose heranwuchs, ging er hinaus zu seinen Brüdern und sah, wie sie ihre Fronarbeit verrichteten. Da sah er, wie ein Ägypter einen Hebräer, einen seiner Brüder, erschlug. 12 Da schaute er sich nach allen Seiten um. Als er sah, dass niemand da war, erschlug er den Ägypter und verscharrte ihn im Sand.» (Exodus 2,11f)

Moses erste Tat ist ein Totschlag oder sogar ein Mord. Anders kann man dieses vorsätzliche Tun («er schaute sich nach allen Seiten um») wohl kaum bezeichnen. Was für eine aussergewöhnliche Einführung der Mose-Figur! Wie aussergewöhnlich auch, dass eben dieser Mose dem Volk einmal die Gebote Gottes übergeben wird, unter anderem mit dem Gebot: «Du sollst nicht töten!» (Exodus 20,13 par. Deuteronomium 5,17).

Welch’ langer Weg wird auf erzählerischer Ebene zu Beginn der Mose-Erzählung angedeutet. Denn jetzt, nach seinem Totschlag, kann Mose nicht einmal einen einfachen Streit zwischen zwei Hebräern schlichten (Exodus 2,13-15). Bei seinem Versuch hält ihm einer der Streitenden sofort vor: «Wer hat dich zum Aufseher und Richter über uns gesetzt? Willst du mich umbringen, wie du den Ägypter umgebracht hast?» (Exodus 2,14).

Seine erste Tat bestimmt den Fortgang der Erzählung (vgl. Exodus 2,15-22): Mose bekommt Angst. Der Pharao hört von dem Vorfall und will Mose töten. Doch Mose entkommt und kann nach Midian flüchten. Dort hilft er den sieben Töchtern des Priesters von Midian bei einem Brunnenstreit, wird in dessen Haus aufgenommen und bekommt die Tochter Zippora zur Frau. Mit ihr hat er einen Sohn, den er Gerschom nennt.

Hier könnte die Erzählung für Mose zu Ende sein. Viele Heldenerzählungen in der antiken Welt und darüber hinaus enden mit einer geglückten Flucht des Helden und der Gründung einer Familie. Doch Mose hat nicht als Held begonnen, eher schon als Antiheld, und er ist erst am Anfang seines Weges.

Marc Chagall, 1963, Moïse devant le Buisson Ardent

Moses Berufung (Exodus 3,1–4,18)

In Exodus 2,23-25 wird erzählt, dass der Pharao starb und Gott das Stöhnen der Israelit:innen hörte. Viele Forschenden nehmen an, dass eine ursprüngliche Fassung des Textes dann direkt mit Exodus 4,19 weiterfuhr: «Und Gott sprach zu Mose in Midian: Geh zurück nach Ägypten, denn alle, die dir nach dem Leben trachteten, sind gestorben». Wahrscheinlich erst nachträglich wurde mit Exodus 3,1-4,18 eine viel ausführlichere Erwähnung des Mose formuliert und dann zwischen Exodus 2,25 und 4,19 eingefügt. Diese Erzählung hat es in sich. Im Unterschied zu den Frauen in Exodus 1-2, die in der Erzählung keine Offenbarung Gottes und kein Gotteswort erfuhren und dennoch mutig und ethisch nach Gottes Willen handelten, muss sich Gott bei Mose redlich Mühe geben, um ihn zum Handeln zu bewegen.

Brennender Dornbusch

Gott offenbart sich Mose in einem brennenden Dornbusch (Exodus 3,1ff.),1 der nicht verbrennt, und spricht ihn zweifach mit Namen an: «Mose, Mose». Sodann erklärt Gott dem Mose, dass dies heiliger Boden sei, und stellt sich ihm vor: «Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs» (Exodus 3,6). Dann erläutert Gott dem Mose, dass er das Elend des Volkes Israel in Ägypten gesehen habe und nun herabgestiegen sei, um es aus der Hand der Ägypter zu entreissen. Hierauf beauftragt Gott Mose mit den Worten: «Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!» (Exodus 3,10).

Marc Chagall, 1931-39, Mose vor dem brennenden Dornbusch

Gottes Name

Mose antwortet, so scheint es, in demütiger Bescheidenheit: «Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?» (Exodus 3,11). Gott verspricht ihm hierauf, mit ihm zu sein, und wiederholt den Auftrag. Doch Mose reicht das nicht. Er will Gottes Namen wissen. Den Namen von jemandem zu kennen, bedeutet im altorientalischen und biblischen Kontext jedoch häufig, eine gewisse Macht über jemanden zu haben. Dementsprechend zurückweisend lautet Gottes Antwort:

«Da sprach Gott zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde [oder: Ich bin, der ich bin]. Und er sprach: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ich-werde-sein [oder: Ich-bin] hat mich zu euch gesandt.» (Exodus 3,14)

Gott widersetzt sich mit dieser Antwort dem Ansinnen des Mose, Gottes Namen zu kennen. Die Antwort Gottes kann vom Hebräischen her mit: «Ich werde sein, der ich sein werde» oder mit: «Ich bin, der ich bin» wiedergegeben werden. Diese Aussagen betonen wohl vor allem die Unverfügbarkeit Gottes. Zudem ist es ein Wortspiel: Die drei Buchstaben des hebräischen Wortes für «sein» (hjh), kommen auch im Gottesnamen Jhwh vor (jhwh), allerdings in anderer Reihenfolge.2 Erst in einem zweiten Einsatz, einer neuen Gottesrede, nennt sich Gott mit dem Namen Jhwh, gibt sich erneut als Gott der Erzeltern aus und erklärt dem Mose nochmals ganz ausführlich, wie die Situation der Israelit:innen in Ägypten ist, was Gott zu tun gedenkt und was Mose tun soll (Exodus 3,15-22). Der Gegensatz dieser langen Gottesrede zu der fehlenden Gottesrede bei den Frauen in Exodus 1-2 könnte grösser nicht sein.

«Wunderzeichen»

Dennoch gibt Mose seinen Widerstand nicht auf. Während seine ersten beiden Fragen an Gott noch einigermassen plausibel klangen, so lenkt er bei seiner dritten nicht eben mutig von sich ab und unterstellt den Israelit:innen, sie könnten ihm nicht glauben: «Daraufhin sagte Mose: Siehe, sie werden mir nicht glauben und auf meine Stimme nicht hören, sondern sagen: Gott ist dir nicht erschienen» (Exodus 4,1). Gottes Antwort im Text ist nicht ohne Humor geschrieben. Gott stattet Mose mit aussergewöhnlichen Wunderzeichen aus: Mose kann seinen Stab in eine Schlange und wieder zurückverwandeln und seine Hand nach Belieben aussätzig und wieder geheilt werden lassen, und selbst das Nilwasser kann er in Blut verwandeln (Exodus 4,2-9).

Spätestens jetzt würde man erwarten, dass Mose dem Auftrag Gottes folgt. Doch seine weitere Gegenrede gerät ins Komische:

«Doch Mose sagte zu Gott: Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig» (Exodus 4,10; vgl. 6,12-30).

Aber wer denn, wenn nicht Mose, der am Hof des Pharaos aufgewachsen ist, sollte der Aufgabe gewachsen sein, mit einem Pharao zu reden? Entsprechend klar ist Gottes Antwort: Er, Gott, habe dem Menschen den Mund geschaffen und werde mit Mose sein: «Geh also! Ich bin mit deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst» (Exodus 4,12).

Marc Chagall, 1954-66, Mose vor dem brennenden Dornbusch

«Du kannst mich mal»

Die folgende Erwiderung des Mose klingt bei manchen Bibelübersetzungen wieder in einer gewissen Bescheidenheit, so, als wäre Mose nun zahm geworden und würde demütig um Entlastung von der Aufgabe bitten: «Bitte, Herr, schicke einen anderen» (Exodus 4,13, Einheitsübersetzung 2016). Doch vom hebräischen Text und vom Zusammenhang her kann durchaus auch übersetzt werden: «Ach, Herr, schick doch, wen du willst!» Umgangssprachlich würden wir das heute in etwa wiedergeben mit: «Du kannst mich mal …» Jedenfalls weist Mose Gottes Auftrag erneut zurück. Dies, obwohl sich Gott in dieser Erzählung überaus geduldig gezeigt und den Mose mit allen möglichen Erklärungen und Zeichen ausgestattet hatte. So verwundert es nicht, dass der Text weiterfährt: «Da entbrannte der Zorn Jhwhs über Mose» (Exodus 4,14). Doch Gottes Zorn führt nicht etwa zu einer Bestrafung des Mose. Vielmehr stellt Gott ihm seinen «Bruder Aaron, den Leviten», zur Seite, dieser soll für Mose zum Volk reden (Exodus 4,14-17).

Dies alles ist nicht einfach eine moderne, kritische Sichtweise auf Mose. Bereits rabbinische Auslegungen haben klar gesehen, wie «bescheiden» Mose hier auftritt. Treffend charakterisiert ihn etwa Rabbi Simeon ben Jochai:

«‹Und Mose hütete (das Vieh) …, und der Engel Gottes erschien ihm (in einer Feuerflamme aus dem Dornbusch heraus)› (Exodus 3,1f.). R. Elieser sagte: Warum erschien denn der Heilige, gepriesen sei Er, vom hohen Himmel herab und sprach mit Mose im Dornbusch? Müsste man nicht annehmen: von den Zedern des Libanon oder von den Spitzen der Berge oder von den Kuppen der Hügel aus – doch der Heilige, gepriesen sei Er, hat seine Schekinah erniedrigt und hat seine Redeweise ganz gewöhnlich gemacht, damit die Weltvölker (später) nicht sagen könnten: Weil er Gott ist und Herr seiner Welt, hat er etwas getan, was nicht der Ordnung (dieser Welt) entspricht. So bedrängte der Heilige, gepriesen sei er, Mose sechs Tage lang (zum Pharao zu gehen), und am siebten sagte er (Mose) (dennoch) zu ihm (Gott): ‹Schick doch, wen du willst …› (Exodus 4,13).»3

Die Frage, die sich bei der Auslegung dieses Textes stellt, ist: Warum zeichnet Exodus 3,1–4,17 ein solch zögerliches, unmutiges Mosebild? Bestimmt spielt der Text in einem gewissen Masse auf das anfängliche Zurückschrecken von Propheten bei ihrer Berufung an (z. B. Jesaja 6,5; Jeremia 1,6), aber Moses Ablehnung seiner Berufung durch Gott geht viel weiter. Vielleicht will Exodus 3,1-4,17 zeigen, wie weit der Weg Moses noch ist von einem, der Unrecht tat, zu einem, der Gottes Recht verkünden wird. Vielleicht will der Text auch, indem er Mose derart menschlich, ja widerspenstig und ängstlich beschreibt, zum Nachdenken auffordern: Wie würden wir als Hörende oder Lesende des Textes an Moses Stelle handeln? Welche Ausreden kennen wir? Wessen bedarf es bei uns, damit wir aufstehen und gehen?

Keith Haring, 1985, Moses and the burning bush
  1. Vgl. dazu Felipe Wißmann: Dornbusch, auf: wibilex.de
  2. Vgl. Bob Becking: Jahwe, auf: wibilex.de
  3. MekhSh 2; Mekhilta de Rabbi Simeon ben Jochai (ca. 4./5. Jahrhundert n. Chr.), zit. nach Arnold Goldberg: Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur. Talmud und Midrasch (SJ 5), Berlin 1969, S. 169.

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Kommentare

2 Kommentare zu “Mose: Zunächst Mord und Ausreden

  1. 30.08.19

    Manfred Claus

    Die Bibel das Wort Gottes? Wie kann die Bibel das Wort Gottes sein wenn niemand Gott je gesehen hat noch seine Stimme hörte.Gott wird als Mörder und Sklavenbefürworter dargestellt. Ausserdem ist Gott dumm weil er Abraham prüfen musste. Auch wusste Gott nicht dass durch die Sintflut die Sünde kein Ende nimmt. Du sollst nicht töten und Gott verlangt Tieropfer die er selbst geschaffen hat. Wie können gebildete Menschen an die Bibel glauben ?

    • 03.09.19

      André Flury

      Lieber Manfred Klaus
      Ihre Fragen sind sehr tiefschürfend und weitreichend. Ich kann hier im Moment nicht auf alles eingehen – aber Ihre Fragen werden mich zu neuen Beiträgen inspirieren. Danke! Auf einige Fragen geht vielleicht eine Passage in meinem Buch «Erzählungen von Schöpfung, Erzeltern und Exodus» ein. Ich bin gespannt, was Sie dazu denken:

      «Die Frage nach den Gottesnamen hat auch mit der Frage zu tun, wie wir Menschen überhaupt von Gott reden können. Ist Gott nicht immer viel «grösser» oder «höher», als dass wir – nur schon im Vergleich zu unserer Galaxie doch sehr kleinen – Menschen von Gott sprechen könnten? Ja, bestimmt, auch die Bibel kennt Aussagen, die das thematisieren (vgl. u. a. Jes 55,8 f.; Ps 139,17 f.; Phil 4,7).

      Dennoch wird in der Bibel häufig so geredet, als wäre Gott ein Mensch: Es wird von Gottes «Auge» und «Ohr», «Arm» und «Angesicht» usw. gesprochen (Ps 89,11; Num 6,25 f.; Jer 37,17); es wird erzählt, dass Gott «umhergeht», «etwas sieht», «weint» und «etwas bereut», dass Gott «zornig» oder «barmherzig» ist. Solches und ähnliches Reden von Gott nennt man anthropomorphe Rede, das heisst, man redet von Gott wie von einem Menschen, genauer in Analogie zu einem Menschen. Anthropomorphe Rede von Gott ist im Alten Orient das Normale.

      Die altorientalischen Menschen waren aber, wie schon mehrfach betont, nicht dümmer oder naiver als wir. Allen, die sich heute ernsthaft mit Ägyptologie oder mit den Kulturen und Religionen Mesopotamiens befassen, wird klar, dass das anthropomorphe Reden von Gott metaphorisch oder symbolisch zu verstehen ist und nicht wörtlich-naiv. Den altorientalischen Menschen war bewusst: Wir sind Menschen und haben keine andere Sprache und keine anderen Bildvergleiche als menschliche Sprache und Bildvergleiche. Natürlich gab es im Alten Orient auch Menschen, die kein entwickeltes Symbolverständnis hatten und die anthropomorphen Bilder wörtlich nahmen – solche Menschen gibt es zu allen Zeiten, man ist versucht zu sagen: besonders auch heute.

      Aber es gab auch jene mit hoch entwickeltem Symbolverständnis. Wir dürfen davon ausgehen, dass jene, die antike heilige Texte und im Besonderen auch die Bibel verfassten, ein sehr ausgeprägtes Symbolverständnis hatten. Vom Symbolverständnis eines Menschen aber hängt es wesentlich ab, wie er biblische Texte und Bilder versteht oder eben missversteht.43 Dies ist keine Frage der Intelligenz: Selbst in anderen Bereichen sehr gescheite Leute können eine Blockade haben, wenn sie biblischen Texten begegnen. So z. B. der sonst philosophisch geschulte Mittelalterspezialist Kurt Flasch, der Genesistexte – wenn es in seine Gott ablehnende Argumentation passt – in peinlicher Weise wörtlich versteht: «Wäre Gott noch ein physischer Organismus – das muß er einmal gewesen sein, ging er doch, wie die Genesis erzählt, bei Abendwind im Garten spazieren, was auch ein Gott nicht ohne Körper kann, und daß das ‹bildlich› gemeint sei, ist späte, philosophieentsprungene Umdeutung […|» Aber gewiss doch sind die Aussagen auch von den Schreibenden der Genesistexte bildlich/metaphorisch gemeint. Ihnen zu unterstellen, sie wären dümmer oder weniger differenziert denkend gewesen als wir, ist schlicht ignorant und/oder arrogant.

      Formal kann man beim Reden über Gott unterscheiden:
      1. Rede, die in abstrakten Begriffen von Gott spricht: Gott ist «Liebe», Gott ist «Geist», Gott ist «Freiheit», Gott ist der «Ursprung allen Lebens», Gott ist der «ganz Andere», Gott ist «das, worüber hinaus wir nichts Grösseres denken können», usw.
      2. Rede, die narrativ von Gott spricht: in Erzählungen, Gleichnissen, Mythen usw. Auch sie geschieht im Bewusstsein, dass man damit natürlich nicht aussagt, was Gott wörtlich tut oder sagt etc., sondern vielmehr gleichnishaft von Gott spricht. Der Vorteil der narrativen Rede ist, dass sie zum Nacherzählen, Weitererzählen, zum Fragen und Interpretieren einlädt und häufig offener ist für kreative Verbindungen als abstrakte Rede.

      Weiter kann unterschieden werden, wo man mit der Rede von Gott ansetzt:

      a) bei Gott; b) bei der Natur; c) beim Menschen.

      a) Wenn man mit der Rede über Gott bei Gott ansetzt, formuliert man z. B., wie wir es in der Genesis oft antreffen:
      «Dann pflanzte Gott in Eden einen Garten …» (Gen 2,8); «Und Gott sprach zu Abram: Geh aus deinem Land …» (Gen 12,1).
      b) Wenn man mit der Rede über Gott bei der Natur ansetzt, sagt man beispielsweise: «Die Natur ist ein Wunder. Eine höhere Macht hat sie hervorgebracht.» In biblischer Sprache: «Wie zahlreich sind deine Werke, Gott. Du hast sie alle in Weisheit gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.» (Ps 104,24).
      c) Wenn man mit der Rede über Gott beim Menschen, genauer beim Ich, ansetzt, sagt man beispielsweise: «Wenn ich die Natur ansehe, staune ich, und ich komme zur Überzeugung, dass es mehr gibt, als wir naturwissenschaftlich messen und beweisen können. So wächst in mir der Glaube an Gott.»

      Bei all diesen Ansätzen muss zudem gefragt werden: Wie bewusst sind sich die Menschen bzw. ist sich die Glaubensgemeinschaft, dass sie als Menschen von Gott reden? Dieses Bewusstsein hatte in philosophischer Hinsicht Immanuel Kant (1724–1804) mit der Frage, welche Möglichkeiten wir als Menschen überhaupt haben, um Erkenntnisse zu erlangen, wissenschaftlich grundgelegt. Für die Theologie betonten dies in hervorragender Weise Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und Karl Rahner (1904–1984). Sie setzten explizit bei den menschlichen Möglichkeiten des Erkennens und Glaubens an. Die Unterscheidung von «Gott an sich» und unseren menschlichen «Gottesbildern» hatte der junge C. G. Jung – der hier zitiert sei, ohne damit seine Psychologie zu übernehmen und obwohl sein Verhältnis zum Judentum in der Nazizeit und zu Freud insgesamt problematisch war – einmal vom Standpunkt seiner Psychologie in die Diskussion mit seinen Kollegen eingebracht:
      «Die Ideen des moralischen Gesetzes und der Gottheit gehören zum unausrottbaren Bestand der menschlichen Seele. Darum hat sich jede ehrliche Psychologie, die nicht von einem banausenhaften Aufklärungsdünkel verblendet ist, mit diesen Tatsachen auseinanderzusetzen. Sie sind nicht wegzuerklären und wegzuironisieren. In der Physik können wir eines Gottesbildes entraten, in der Psychologie aber ist es eine definitive Grösse, mit der zu rechnen ist, so gut wie mit ‹Affekt›, ‹Trieb›, ‹Mutter› usw. Es liegt natürlich an der ewigen Vermischung von Objekt und Imago, dass man sich keinen Unterschied denken kann zwischen ‹Gott› und ‹Gottesimago› und daher meint, man spreche von Gott, erkläre ‹theologisch›, wenn man von ‹Gottesbild› spricht.»

      Aus: André Flury: Erzählungen von Schöpfung, Erzeltern und Exodus (Studiengang Theologie 1,1), Zürich 2018, S. 147-150 [Fussnoten mit Textbelegen sind im Zitat ausgelassen].

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