Endlichkeit – «Heilige Vergänglichkeit»

«Heilige Vergänglichkeit» ist eine Wortschöpfung des Berner Pfarrers und Schriftstellers Kurt Marti. Sie steht als Titel über einer seiner letzten Veröffentlichungen, den Spätsätzen, in denen er nachdenkt über das Leben im hohen Alter, das Sterben und den Tod, über Gott und das Jenseits. 

Kurt Marti führt den Leser:innen in seinen Spätsätzen das schmerzhafte Vermissen der geliebten Frau vor Augen, die fehlende Zwiesprache. Marti bezeichnet sich als «untauglichen Witwer» und stellt weiter nüchtern fest, dass auch seine geistigen Fähigkeiten schwinden. Der Radius werde mit zunehmendem Alter kleiner und die Schritte trippelnd.1 Die Geschwindigkeit der Welt dagegen sei enorm, bedrohlich noch immer das Geschehen, auch wenn er als Beobachter unbeteiligt am Rande sitze und sich ausruhe.2

«Erwünscht wäre im Alter wahrscheinlich: Heitere Resignation. Noch besser ist allerdings – womöglich dankbare – Bejahung unserer Vergänglichkeit. Sie ist vom Schöpfer gewollt und deshalb: Heilige Vergänglichkeit.
Womöglich möchte ich zuletzt das Zeitliche und Vergängliche segnen können.»3

Die Vergänglichkeit ist für Marti heilig, weil der Mensch und mit ihm alles Leben von Gott sterblich geschaffen worden ist. Es liegt ein Segen auf der Schöpfung, auch auf der Vergänglichkeit. Unverständlich deshalb, so notiert Marti, dass der Apostel Paulus im Neuen Testament den Tod als der Sünde Sold bezeichnet. Menschliches Leben ist seinem Wesen nach beschränkt und endlich.

Endlichkeit

Die biblischen Schöpfungserzählungen betrachten Leben als gewährtes und verdanktes Leben. Und sie betonen, dass dieses gewährte Leben keineswegs störungsfrei und vollkommen, sondern stets bedroht und beschränkt ist. Genesis 2 beschreibt den Menschen als erdverbunden (adam/Erdling), die Schöpfungserzählung in Genesis 1 bettet alles Leben in einen Rhythmus von Tag und Nacht, von Werden und Vergehen ein. Die Menschen sind dem Aufblühen und Vergehen unterworfen. Ihr Leben hat einen Anfang und ein Ende.

Endlichkeit ist ein grosses, abstraktes Wort. Näher ist uns vielleicht die Erfahrung, dass die Zeit, die uns gegeben ist, nicht reicht, um mit einem Menschen vertraut zu werden oder ein Projekt zu verwirklichen. Wir strecken uns aus in die Weite des Möglichen, doch unsere Zeit ist knapp und die uns real gegebenen Möglichkeiten beschränkt. Wir können nur Begrenztes tun und uns selbst nur in endlicher Weise verwirklichen. Die zeitliche Begrenztheit gibt dem Leben und seinen Ereignissen einen besonderen Wert – jeder Moment ist einmalig und kostbar –, zugleich aber macht sie Angst, das eigene Leben zu verfehlen.

Zur Endlichkeit im Leben tritt die Endlichkeit des Lebens. Der Tod löst wiederum vielfältige Empfindungen aus, je nachdem wie wir im Leben stehen:

«Dass einmal alles vorbei sein wird, zu Ende geht, nichts ohne ein Ende bleibt – es ist beängstigend, unausweichlich, schockierend, unannehmbar, unglaublich. Es ist aber auch erleichternd, erlösend und tröstlich. Weil alles endet, was unerträglich ist und schmerzt, was quälend ist und hoffnungslos.»4

Weisheitliche Lehren

Wie leben im Bewusstsein, dass alles endlich ist? Der bekannte Ausspruch «Philosophieren heisst sterben lernen» zeigt die intensive Beschäftigung der Philosophie mit dem Sterbenmüssen und der Endlichkeit an. Die Antworten der Philosophie fallen vielfältig aus. Auf der einen Seite finden wir die stoische Distanzierung und das Bemühen, alles gelassen sub specie aeternitatis (unter dem Blickwinkel der Ewigkeit) zu betrachten, auf der anderen Seite der Aufruf, im Hier und Jetzt zu leben und die gerade gegebenen Möglichkeiten des Tuns und des Geniessens anzunehmen.

Biblisch ist es vor allem die sogenannte Weisheitsliteratur, zu der die Bücher Ijob, Kohelet und auch die Psalmen gehören, die die Frage der Vergänglichkeit und das Ringen um Sinn thematisiert. Kirchlich sozialisierten Menschen fallen zur Endlichkeit meist Sätze aus diesen Büchern ein:

«Alles ist eitel und Haschen nach Wind» (Kohelet 2,11).

«Zum Staub zurückkehren lässt du den Menschen […] Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist […]» (Psalm 90,4-5)

«Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» (Psalm 90,12/ Übersetzung der Lutherbibel)

«Wie Gras sind die Tage des Menschen, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiss nichts mehr von ihr.» (Psalm 103,15)

«Der Mensch […] geht wie die Blume auf und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht bestehen.» (Ijob 14,2)

Psalm 90 – Möge unser Tun nicht vergeblich sein

Der 90. Psalm ist ein Klagepsalm, entstanden in einer Zeit der Krise und des politischen und religiösen Umbruchs: Der Tempel von Jerusalem wurde im 6. Jh. v. Chr. durch die Babylonier zerstört, Israel/Juda verlor die Eigenstaatlichkeit, unzählige Menschen wurden umgebracht und ins Exil verschleppt, unzählige mussten flüchten. Angesichts dieser Katastrophe quält die Betenden die Frage, was zählt. Was hat Bestand und gibt dem Leben Sinn? In einem ersten Teil liest sich der Psalm als eine Klage über die Hinfälligkeit des Lebens. Im zweiten Teil wird die erlebte Vergeblichkeit beschrieben als eine Erfahrung des Unheils, genauer des «Zornes Gottes». Letzteres ist eine uns fremde Kategorie, die angesichts ihrer Problematik nicht einfach übernommen werde soll. Sie signalisiert jedoch, wie der Psalm zu lesen ist.

«Der Psalm beschreibt die Vergänglichkeit nicht als die normale <condition humaine>, die es zu akzeptieren gilt, sondern als Erfahrung der Ferne und Zurückgezogenheit Gottes, für die die biblischen Autorinnen und Autoren das Wort <Zorn> gebrauchen.»5

Es ist nicht das Sterbenmüssen, das den Psalm umtreibt, sondern die Erfahrung der Vergeblichkeit, die Möglichkeit, dass all unser Mühen letztlich scheitert, das Ausgeliefertsein an Schuld und Gewalt. Der Psalm widersetzt sich damit einer fatalistischen Interpretation des Lebens. «Wenn unser Lebensgefühl sich dem Urteil nähert, das Dasein selbst sei Leiden», das Leben sei Mühsal, ungerecht und in Gottes Augen ein Klacks, dann tritt der Psalm uns entgegen und ruft zu Gott, er möge sich zeigen und gegenwärtig sein. «Vor den Trümmern der eigenen Geschichte schreien [die Betenden] zu Gott, er möge zurückkehren aus seiner Ferne, zurück in die Begegnung, zurück ins Diesseits, in die Lebenszeit der Menschen.»6 Der Psalm lässt das Diesseits nicht unter der Herrschaft des Todes und hofft auf ein befreites Leben.

Wenn die Betenden ihre Aufmerksamkeit auf die Tage richten, die ihnen gegeben sind (Vers 12), geht es nicht um ein innerliches Bedenken des Sterbenmüssens, sondern um Ethik, um eine sinnvolle Lebensgestaltung. «Lehre uns die Tage zu zählen» und ein weises Herz zu gewinnen. Unser Tun soll Teil der lebensschaffenden Weisheit und Freundlichkeit Gottes sein. So bittet der Psalm zum Schluss darum, dass unser Tun und Wirken Bestand haben. Klara Butting fasst Psalm 90 mit folgenden Worten zusammen:

«Gezählt sind die Tage eines jeden Menschen auf dieser Erde, doch vergeblich dürfen sie nicht sein, ja nicht einmal vergänglich! […] Gott soll aus den Fragmenten des menschlichen Lebens den Himmel bauen, der sich schützend über seine Menschen wölbt.»7

Real Time von Maarteen Baas

 

  1. Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze, Stuttgart 2010, S. 15.
  2. Vgl. «Auf einem Mäuerchen hocke ich am Rand einer vielbefahrenen Straße. Mein alter Rücken schmerzt und braucht einige Augenblicke Entlastung, Erholung. Autos preschen vorüber, kleine, grosse, mittelgrosse, jedes eine geballte Ladung Gewalt. Ist der menschliche Rasewahn pandemisch geworden, hält er sich für Fortschritt. Sein Preis: allerwärts plattgewalzter Humus in Form von Asphaltierungen und Betonierungen.» (Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit, S. 42-43.)
  3. Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit, S. 33.
  4. Silvia Strahm: Endlichkeit, auf: https://www.feinschwarz.net/endlichkeit/#more-1444 (9.11.2018)
  5. Klara Butting: Erbärmliche Zeiten – Zeit des Erbarmens. Theologie und Spiritualität der Psalmen, Uelzen 2013, S. 110. Vgl. auch die Auslegung von Psalm 104 bei Xaver Pfister: Du öffnest deine Hand, in: Bibelarbeit in der Gemeinde. Psalmen, hrsg. vom Ökumenischen Arbeitskreis für Bibelarbeit, Zürich-Köln 1982, S. 137-162
  6. Klara Butting: Erbärmliche Zeiten, S. 110 und 111.
  7. Klara Butting: Erbärmliche Zeiten, S. 112-113.

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