«Die armen Schweine…!», sagte eine Frau zu mir, nachdem sie im Markusevangelium das fünfte Kapitel gelesen hatte. Und ihre Reaktion ist verständlich. Die Heilung des Besessenen von Gerasa ist eine der seltsamsten Erzählungen im Neuen Testament. Sie wurde im Laufe der Auslegung oft wortwörtlich verstanden, aber auch schon als ein «nicht ohne Humor erdichtetes Zaubermärchen» (Hermann Gunkel 1926) bezeichnet. Wenn wir jedoch die geschichtliche Situation der damaligen Zeit beachten, so erkennen wir, dass es der Erzählung um eine sehr pointierte politisch-theologische Aussage geht.
Das Markusevangelium erzählt im 5. Kapitel von einem Menschen im Gebiet der Gerasener, im nichtjüdischen Gebiet östlich des Sees Gennesaret.1 Dieser Mensch war gemäss der Erzählung von einem «unreinen Geist» besessen: Er lebte in Grabhöhlen, schrie Tag und Nacht, schlug sich selbst mit Steinen und war durch nichts zu bändigen.
Doch «als er Jesus von weitem sah, lief er herbei, warf sich vor ihm nieder und schrie mit lauter Stimme: ‹Was habe ich mit dir zu schaffen, Jesus, Sohn Gottes, des Höchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!›» (Markusevangelium 5,6-7) Jesus fragte den unreinen Geist, wie er heisse. Darauf sagte dieser unreine Geist zu ihm: «‹Legion ist mein Name, denn wir sind viele.› Und er bat ihn inständig, dass er sie nicht aus dem Gebiet fortschicke» (Markusevangelium 5,9-10).2 Vielmehr solle Jesus sie in eine Schweineherde, die dort weidete, hineinfahren lassen. Jesus erlaubte es ihnen. Die unreinen Geister namens Legion fuhren in die Schweine und die Herde stürmte den Steilhang hinab in den See und ertranken – etwa zweitausend an der Zahl!
Die Schweinehirten flohen und erzählten das Erlebte in der Stadt. Als sie und weitere Leute der Umgebung an den Ort des Geschehens zurückkamen, trafen sie den Besessenen geheilt an: er sass ruhig da, «bekleidet und vernünftig». Dennoch baten die Schweinehirten und die andern Leute Jesus, ihr Gebiet zu verlassen.
Der Geheilte wollte dem entgegen bei Jesu bleiben. Doch Jesus schickte ihn nach Hause, um dort zu erzählen, welches Erbarmen er erfahren hatte. So begann der Geheilte in der Dekapolis – einem damaligen Zehn-Städte-Bund – zu verkünden, was Jesus an ihm getan hatte.
Wie soll man diese Erzählung verstehen?
«Legion»
Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis dieser Erzählung ist die Bezeichnung «Legion» für den unreinen Geist: «Legion» ist ein lateinisches Lehnwort und kommt im ganzen Neuen Testament, das auf Griechisch geschrieben ist, nur hier vor.
Zur Zeit Jesu war Israel jedoch von römischen Truppen besetzt.3 Und «Legion» war die Bezeichnung für eine selbständig operierende Heereseinheit der Römer. Massgeblich war zur Zeit Jesu die Legio X Fretensis (Legio Decima Fretensis), welche unter der Führung von Titus massgeblich verantwortlich war für die Zerstörung des Landes und des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr.
Frappant dabei ist: Das Feldzeichen der Legio X Fretensis war unter anderem ein Eber – ein männliches Schwein!
Politisch-theologische Aussage
Vor diesem Hintergrund bekommt die Erzählung eine immens politisch-theologische Bedeutung: Die römische Besatzung (die «Legion») ist wie eine «Besessenheit». Sie treibt Menschen in die Abhängigkeit und ins Elend, sie raubt Menschen und Völkern ihre Identität. Die brutale Besatzungsmacht will das Land absolut unter ihrer Kontrolle behalten (die «unreinen Geister» wollen im Land bleiben) und treibt Menschen in «Grabhöhlen» (vielleicht als Verstecke) oder auch wortwörtlich als Ermordete in die Gräber, und sie verursacht selbstzerstörerische Mechanismen wie Bürgerkrieg, Korruption und kriegsgewinnlerische Kooperationen mit den Römern. Die «Schweinhirten» können als solche Kriegsgewinnler verstanden werden, daher schicken sie Jesus weg – er soll ihre Geschäfte nicht stören, sie selber nicht in Gefahr bringen.
Doch in der Begegnung mit Jesus – so die Hauptaussage der Erzählung – werden die Menschen wieder frei und finden zu sich selbst. Sie selbst müssen sich nicht zu einem gewalttätigen Aufstand gegen die Römer hinreissen lassen, denn die gewalttätige römische Besatzung (alias «zweitausend Schweine») – wird sich selbst in den Untergang stürzen.
Kriegserfahrungen
In der Erzählung des Besessenen von Gerasa werden Kriegs- und Glaubenserfahrungen jener Menschen reflektiert, die Jesus von Nazaret begegnet waren und ihm zu seinen Lebzeiten nachfolgten, ebenso wie jener Menschen, die ihm vor seiner Ermordung durch die römische Besatzungsmacht nie begegnet waren, aber ihm und seiner Botschaft dennoch glaubten: Diese Menschen hatten in ihrer jüdischen Geschichte schon viele zerstörerische Grossmächte erlebt. Seit 63 v. Chr. litten sie unter der römischen Besatzung sowie unter der blutigen Herrschaft des Königs Herodes d. Gr. (40-4 v. Chr.) und seiner Herrscher-Söhnen Archelaus in Jerusalem und Herodes Antipas in Galiläa. Der erste jüdischen Aufstand gegen die Römer (66-74 n. Chr.) hatte eine fatale Niederlage der Juden mit vielen Todesopfern und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem zur Folge.
Die Menschen, die Jesus und seiner Botschaft nachfolgten, erlebten, wie unzählige Menschen an diesen Kriegserfahrungen zerbrachen – wie sie innerlich-seelisch zerbrachen, wie sie kriegstraumatisiert psychisch krank wurden und auch wie ihr Leib und Leben zerstört wurde. Der Besessene von Gerasa kann als solch ein zerbrochener, kriegstraumatisierter Mensch verstanden werden.
Glaubenserfahrung
Die Glaubenserfahrung jener Menschen, die Jesus und seiner Botschaft nachfolgten, war, dass sie in und trotz aller Kriegsschrecken, trotz der Unterdrückung, trotz der Ermordung Jesu durch die Römer – dass sie trotz alledem nicht zerbrechen mussten, weil beziehungsweise wenn sie ihr ganzes Vertrauen darauf setzten, dass sich Jesus gegenüber diesen menschenfeindlichen Mächten als der Stärkere erweist: In seinem ganzen Leben war die Liebe zu Gott, zu jedem Mitmenschen und selbst zum Feind für sie ersichtlich geworden – auch in seiner Ohnmacht am Kreuz. Dadurch waren sie zum Glauben gekommen, dass der Tod Jesu nicht das Ende war, sondern Jesus von Gott auferweckt wurde und mit seiner Botschaft der Gewaltlosigkeit und Liebe weiter gegenwärtig und wirksam blieb.
Mit dieser Hoffnung fassten diese Menschen neue Lebenskraft und neuen Mut: Wie übermenschlich-kosmisch die Zerstörungskraft der römischen Besatzungsmacht auch erscheinen mag, wie menschlich-pervers ihre Unterdrückungsmacht auch immer erfahren wird – vor Jesus dem Christus (Messias/Gesalbter Gottes) muss alles Lebensfeindliche weichen. Um an den Worten der Erzählung des Besessenen anzuknüpfen: Der Glaube an Jesu Gegenwart erschafft eine unerhörte innere Freiheit, verhindert zwanghafte Selbstzerstörung, heilt die Verwundeten, verschafft in sich Zerrissenen Identität, kleidet Nackte, bringt Wahnwitzige zu Verstand, führt Umherirrende nach Hause – befreit aus jeder Besessenheit.
Wo solche Befreiung, Heilung und Identitätsfindung geschieht, da – so lautete die zentrale Botschaft Jesu – ist Gottes Reich, Gottes gegenwärtige Wirkmacht, bereits hier und heute erfahrbar. Die Heilung des Besessenen von Gerasa bringt diese Erfahrung und Überzeugung in erzählerischer Weise zum Ausdruck.
- Markusevangelium 5,1-20 (vgl. Matthäusevangelium 8,28-34; Lukasevangelium 8,26-39).
- Der Text wechselt hier von der Einzahl («ein unreiner Geist») in die Mehrzahl («die unreinen Geister»).
- Vgl. Gerd Theißen / Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 4. Aufl. 2011, 125-146.388-414; André Flury: Erzählungen von Schöpfung, Erzeltern und Exodus (STh 1,1), Zürich 2018, 101-106.
Bildnachweise Titelbild: wikimedia commons; Bild 1: random expose, https://www.flickr.com/photos/35176612@N03/4213286700; Bild 2 baslibrary.org; Bild 3: wikimedia commons.
Kommentare
3 Kommentare zu “«Die armen Schweine…!»”
08.08.19
Albert Kuhn
Die Heilung des Besessenen von Gerasa ist sicher eine schwer verdauliche Geschichte. Da ist es naheliegend, das Ganze irgendwie umzudeuten. Das ist hier gut gelungen, denn passenderweise gab es damals eine römische Legion mit dem Feldzeichen eines Schweins. Die bildliche Analogie ist somit gegeben, aber die Erzählung stimmt leider nicht mehr.
Es ist im neuen Testament von vielen anderen, glaubhafteren Wunderheilungen durch Jesus die Rede. Aber allesamt werden sie heute durch die Theologie irgendwie uminterpretiert. Die Absicht ist klar: Es darf keine Wunder geben! Das läuft aber auf ein Dilemma hinaus, denn das grösste Wunder ist die Auferstehung. Bei diesem Thema winden sich viele Theologen und reden um den Brei herum. Es ist klar warum. Denn: Gibt es keine Auferstehung, ist das Christentum eine Lüge, und christliche Theologen wären vollkommen überflüssig.
03.09.19
André Flury
Lieber Albert Kuhn
Ich danke Ihnen für Ihren Kommentar, auch wenn Sie mir damit Unrecht tun:
a) Es geht natürlich nicht um eine Umdeutung dieser biblischen Erzählung, sondern vielmehr um deren Verständnis. Ich versuche die Erzählung im Markusevangelium so zu verstehen, wie ihn der Evangelist Markus (bzw. jene, die das Markusevangelium geschrieben haben) vor knapp 2000 Jahren verstanden wissen wollte.
b) Ich persönlich glaube an die Auferstehung im christlichen Sinne. Auf glaubenssache-online habe ich dies im Beitrag «Auferstehungsglaube und heutige Erfahrungen» dargelegt (vgl. https://www.glaubenssache-online.ch/2018/03/16/auferstehungsglaube-und-heutige-erfahrungen/).
c) Ich glaube auch an Wunder – denn es gibt kein Leben ohne Wunder. Das Leben und das Universum insgesamt sind Wunder.
Bei der theologischen / wissenschaftlichen Bibelauslegung wird grundsätzlich zwischen Wundererzählungen und Heilungserzählungen unterschieden. Aufgrund der Heilungserzählungen im Neuen Testament kann historisch davon ausgegangen werden, dass viele Menschen, die Jesus von Nazaret begegneten, Heilung von Krankheiten erfuhren. (vgl. Hanna Rose: Heilung (NT), auf: https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/46881/; vgl. auch weitere Beiträge auf wibilex.de zu Heilungserzählungen ausserhalb der Bibel).
Die Wundererzählungen (Spaltung des Meeres im Exodusbuch; Gang Jesu auf dem Wasser ) haben sich selbst wohl nicht als historische Tatsachenberichte verstanden, sondern als Vertrauensbekenntnisse in die schöpferische, befreiende und Leben schaffende Kraft Gottes / Christi.
(vgl. z.B. Gerhard Karner: Wunder / Wundergeschichten (AT) auf: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35082/)
Bei allen Erzählungen im Alten/Ersten und Neuen Testament gilt es immer zu überlegen und zu erforschen, was die Menschen in der damaligen Zeit mit der Erzählung aussagen wollten. Das ist die Grundlage für die Auslegung der Bibel.
01.02.21
Christian
Vielen Dank für diese erhellende Erläuterung!