Das Portal des Berner Münster mit seinen 294 Sandsteinfiguren zum Jüngsten Gericht ist weltbekannt1 und uns doch fremd. Es sind Bilder aus einer anderen Welt, die nicht mehr unmittelbar ansprechen.
Bilder und Texte vom Weltgericht erscheinen vielen als Ausdruck eines überholten oder zumindest schwierigen Glaubens. Wer sich jedoch darauf einlässt, entdeckt eine Option für die Kleinen, die Verlorenen und ein Einfordern von Gerechtigkeit über alle Grenzen hinweg.
Im Fokus: Befreiung
In der Seelsorge trifft man zuweilen auf Menschen, die im Sterben von grossen Ängsten vor Gottes Zorn geplagt werden. Sich zu befreien von der Vorstellung eines strafenden Richtergotts, der einschüchtert und Menschen unbarmherzig im Griff hat, sie in ihren Lebensmöglichkeiten beschneidet, war gerade in der Biographie vieler älteren Christ:innen ein wichtiger, nötiger Schritt der Emanzipation im Glauben.
Die Gerichtsrede in den biblischen Schriften ist jedoch in anderer Situation entstanden: Sie steht im Kontext von Unrechtserfahrungen. Die Rede von Gericht und Vergeltung dient nicht der Disziplinierung und Unterwerfung – und somit der herrschenden Macht, sondern ist im Gegenteil ein Hilfe- und Sehnsuchtsruf der Kleinen und Schwachen. So sehnen viele Psalmen Gott als Richter herbei: Auch wenn die Betenden von keinem Menschen Hilfe erfahren, so vertrauen sie dennoch darauf, dass Gott dem Unrecht und der Gewalt ein Ende setzt! Die Ewige steht auf der Seite des Rechts, der Gerechtigkeit und des Lebens.2
Eine geteilte Welt?
Im Neuen Testament wird die Gerichtsrede aus der Perspektive der Opfer fortgeschrieben, indem die menschlich-göttliche Richtergestalt mit Christus gleichgesetzt wird. «Was ihr für eine:n dieser Geringsten getan habt, habt ihr für mich getan», hält die berühmte Gerichtsszene aus dem Matthäus-Evangelium 25,31-46 fest. Damit wird deutlich, dass es nicht um das religiöse Bekenntnis oder die Zugehörigkeit geht, sondern allein unser Handeln zählt. Es gibt kein Wir und die anderen im Jüngsten Gericht. Leider haben die Religionen oft diese ihre innere Überzeugung, dass Glaubensgrenzen nicht identisch sind mit Heilsgrenzen, vergessen und geleugnet und Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften «weniger Wohlergehens- und Lebensrecht – auch über den Tod hinaus»3 – zugesprochen
Es ist ein anderer Widerspruch, der mit der Rede vom Jüngsten Gericht aufgenommen wird, nämlich der Widerspruch zwischen Hass und Liebe, zwischen Lieblosigkeit und Solidarität, zwischen Täter:innen und Opfern. Wie solidarisch beziehungsweise wie zerstörerisch leben und handeln wir? Auch hier drängen sich jedoch Fragen auf: Wollen und können wir die Welt einteilen in Gute und Böse, in Schafe und Böcke oder wie das Münsterportal in «kluge und törichte Jungfrauen»? Ist die Idee des Gerichts mit dieser Schwarzweiss-Malerei nicht längst überholt?
Noch ist Zeit
Die Erzählung von den jungen Frauen mit ihren Öllampen (Matthäus 25,1-13) ist ein drastisches Gleichnis. Die Schlussszene mit der geschlossenen Tür ist für die beschriebene Situation des Hochzeitsfestes übertrieben und provoziert bei den Zuhörer:innen denn auch Protest. Es ist furchtbar. Öffnet doch die Tür und beendet diesen elenden Ausschluss der «törichten» Mädchen!4
Als Gleichnis erinnert Matthäus 25 daran, dass die biblischen Bilder vom Gericht nicht als Beschreibungen gelesen werden dürfen, die schildern, wie es einmal sein wird. Sie sind vielmehr tastende Versuche, eine Wirklichkeit zu fassen, die «kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat» (1 Korintherbrief 2,9). Der Glaube verfügt also nicht über besonderes Zukunftswissen, es sind Hoffnung und Vertrauen, die sich in den Bildern und Texten ausdrücken. So hört die Gemeinde des Matthäus selbst in dem düsteren, hoffnungslosen Gleichnis von den zehn jungen Frauen Gottes Versprechen, Heil zu schaffen. «Seid wach» (Matthäus 25,13) heisst es zum Schluss, denn noch ist Zeit zu handeln, noch gibt es die Chance, die Gewalt zu beenden und umzukehren. Es ist dieser Aufruf zum Handeln, der interessiert, und nicht Spekulationen darüber, wer im Gericht auf welcher Seite stehen wird.
Kein Automatismus
«Wir kommen alle, alle in den Himmel», heisst es in einem Song aus den Fünfziger-Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Theologie hält dagegen fest, dass es keinen Heilsautomatismus gibt. Der Apostel Paulus schreibt gar: «Niemand tut Gutes, nicht eine Einzige, nicht ein Einziger» (Römerbrief 3,10) und weist auf die Verstrickungen hin, die wir heute strukturelle Sünden nennen. Die Welt ist voller Gewalt, und Menschen sind Opfer und Täter:innen zugleich.
«Wenn es eine neue Welt ohne das Böse und ohne Leid gibt, dann müssen die Todesmächte der gegenwärtigen Welt so gestoppt werden, dass alles Leid und alle Zerstörung, dass alles Böse und alles Gewalttätige dieser Weltgeschichte dem Vergessen entrungen und in denen aufgesucht wird, die Entsprechendes erlitten beziehungsweise getan haben.»5
Es gibt keinen Himmel (auf Erden) ohne Rettung der Vergangenheit, keine Versöhnung ohne Aufarbeitung von Schuld. Das Bild vom Jüngsten Gericht erinnert daran, dass es keine Heilung geben kann an Opfern und Täter:innen vorbei. In der Formulierung des «Leidtuns» klingt etwas von diesem Gerichtsgeschehen an, das sich unserer Vorstellung letztlich entzieht.
- https://www.bernermuenster.ch/de/berner-muenster/muensterbau/rundgang-aeusseres.php (29.10.2019)
- Vgl. Klara Butting: Erbärmliche Zeiten – Zeit des Erbarmens. Theologie und Spiritualität der Psalmen, Uelzen 2013 sowie Klara Butting: Gott – lieb oder gerecht? Impulse aus der Hebräischen Bibel, in: Bibel und Kirche 63 (2008), S. 210-214.
- Ottmar Fuchs: Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, Regensburg 2018, S. 29.
- Vgl. Luise Schottroff: Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, S. 44-54.
- Vgl. Ottmar Fuchs: Das Jüngste Gericht, S. 96.
Bildnachweise Titelbild: Portal des Berner Münsters, CameliaTWU, flickr; Bild 1 und 2: wikimedia commons; Bild 3: Foto: Weltgebetstag 2017, Rowena Apol Laxamana Sta Rosa, Weltgebetstag der Frauen, Deutsches Komitee e.V
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