Wie wollen wir leben?

In unserer westlichen Gesellschaft hat Selbstbestimmung in der Frage der Lebensführung eine grosse Bedeutung: Wir wollen selbst über unser Leben bestimmen. Nach der Zeit des Aufbegehrens gegen das bürgerliche Vaterhaus und die Bevormundung durch Kirche und Staat in den 1960er-Jahren hat sich Selbstbestimmung heute gesellschaftlich wie individuell als ein selbstverständlicher, positiver Wert etabliert. Andere Werte, wie Solidarität oder Fürsorge, gerieten dabei eher in den Hintergrund. Inzwischen schlägt das Pendel aber bereits wieder um.  

Selbstbestimmung im Alter ist heute ebenso ein Thema wie die Forderung von Menschen mit Behinderung nach unterstützenden Massnahmen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Selbstbestimmung ist kein Privileg einiger weniger mehr, sondern in der breiten Bevölkerung angekommen, wie es der Philosoph Peter Bieri zurecht feststellt:

Selbst bestimmen – «das sind Worte, die leidenschaftliche Zustimmung finden, und wir haben den Eindruck, dass sie von den beiden wichtigsten Dingen handeln, die wir kennen: von unserer Würde und unserem Glück.»1

Dass wir selbstbestimmt leben oder die Fähigkeit und Möglichkeit haben, selbst bestimmt zu entscheiden und jederzeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen, davon gehen wir meistens aus. Was aber meint Selbstbestimmung? Und in welchem Sinn kann ich selbst über mein Leben bestimmen?

Selbstbestimmung: Gegen Bevormundung

In der Geschichte der Philosophie ist Selbstbestimmung vor allem seit der Neuzeit ein vielfach diskutierter Schlüsselbegriff. Dabei gab (und gibt) es durchaus Positionen, die den Sinn und die Möglichkeit von Selbstbestimmung anzweifelten. Als Klassiker der Selbstbestimmung kann man den deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) bezeichnen. Kant beschäftigte die Frage der (Un)Mündigkeit und die Fähigkeit des Individuums, selbst zu denken. Sein Vertrauen in die Kraft der Vernunft war gross und so rief er dazu auf, sich mutig auf das Wagnis des Denkens einzulassen.

Selbstbestimmung war und ist in vielen Emanzipationsbewegungen ein wichtiger Massstab. Denken wir an die Frauenbewegung oder auch an die Zeit der «Rassentrennung» in den USA, als die Selbstbestimmung durch besondere Gesetze der Weissen unterdrückt worden ist. Die Idee der Selbstbestimmung zielt auch heute gegen Bevormundung und Unterdrückung, sie will ein Leben ohne äusseren Zwang.

«Wir möchten nicht, dass uns jemand vorschreibt, was wir zu denken, zu sagen und zu tun haben. Keine Bevormundung durch die Eltern, keine verschwiegene Tyrannei durch Lebensgefährten, keine Drohungen von Arbeitsgebern und Vermietern, keine politische Unterdrückung.»2

Selbstbestimmung meint also Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit von solch «tyrannischen» Einflüssen, die uns zwingen, ein uns fremdes Leben zu leben. Es geht darum, im Einklang mit den eigenen Gedanken, Wünschen und Gefühlen zu leben. Sich zu Hause zu fühlen in seinem Leben kann Ausdruck von Selbstbestimmung sein. Denn Selbstbestimmung setzt sich ab von Fremdbestimmung und ist nicht gleichzusetzen mit rücksichtsloser Durchsetzung eigener Interessen.

Suche nach der eigenen Stimme

Neben der äusseren gehört auch eine innere Selbständigkeit zur Selbstbestimmung. Peter Bieri bringt in diesem Zusammenhang den Ausdruck «seine eigene Stimme finden» ins Spiel. Denn Selbstbestimmung beginnt nicht bei Null. Wir können nicht einfach nach Belieben, quasi aus dem Nichts, bestimmen, wie wir denken und leben wollen. «Bevor wir soweit sind uns zu fragen, wie wir leben möchten, sind tausendfach Dinge auf uns eingestürzt und haben uns geprägt.»3 Wir führen auch nicht aus einem verborgenen, geschützten Innenraum heraus Regie über unser Leben, sondern stehen immer schon unter bestimmten Einflüssen, sind eingebunden in Beziehungen, haben bestimmte Gefühle, eine persönliche Geschichte, etc. Eine Tatsache, die uns jedoch nicht beunruhigen muss:

«…das macht nichts, denn das Gegenteil wäre ohnehin nicht denkbar. Derjenige, der am Nullpunkt stünde, könnte sich nicht selbst bestimmen, denn er hätte, noch ganz ohne Wünsche und ohne Spuren des Erlebens, keinen Massstab.»4

Handeln aus der Fülle

Mir scheint, dass dies auch in Bezug auf die religiöse Erziehung mit zu bedenken ist: Heute formulieren ja viele Eltern den Wunsch, ihre Kinder ohne religiöse Prägung aufwachsen zu lassen, damit sie sich später selbst und frei entscheiden könnten, ob und welcher Religion sie angehören möchten. Man möchte also in religiösen Dingen so etwas wie eine tabula rasa schaffen, einen Frei-Raum, unberührt und frei von jeglichen fremden Einflüssen. Auf dieser Grundlage, quasi als «unbeschriebenes Blatt», könnte das Kind dann entscheiden und seine eigenen Spuren legen. Doch wie soll man ohne Umgang und ohne Erfahrung mit Religion sein Eigenes finden in Sachen Religion?

 

Der Gedanke, nur ohne Prägung sei ein selbstbestimmter Entscheid möglich, ist wohl auch der westlichen Geistesgeschichte geschuldet. Über Jahrhunderte galten Herkunft, das Eingebundensein in Beziehung, die natürliche Abhängigkeit von anderen Menschen und der Natur als Fesseln des Menschseins, von denen man sich zu befreien hat. Doch die konkreten Voraussetzungen und Prägungen, die unser Leben und unsere Entscheidungen bestimmen und so unsere Freiheit gewissermassen beschränken, ermöglichen sie zugleich erst. Es ist paradox. Wir lernen und leben Selbstbestimmung stets im Kontext einer konkreten Lebensgeschichte, die Befreiendes und Belastendes, innere und äussere Einflüsse in sich trägt. Dies gilt auch in Religionsangelegenheiten. Ohne jegliche religiöse Kompetenz können Jugendliche sich nicht selbstbestimmt für oder gegen Religion entscheiden. Selbstbestimmung braucht eine Basis. Oder im Bild der Stimme ausgedrückt: Nur im Spiel der unterschiedlichen, fremden Stimmen kann ich meine eigene Stimme finden und entwickeln. In diesem Sinne spricht die Theologin Ina Praetorius von einem «Handeln aus der Fülle». Es geht um einen kritischen und schöpferischen Umgang mit dem Herkommen.5

Kritischer Abstand zu mir selbst

Sich mit sich selbst beschäftigen, sich kritisch hinterfragen, gestalten, neu denken sind wesentliche Stichworte eines selbstbestimmten Lebens. Die Fähigkeit, sich zu sich selbst zu verhalten, ist entscheidend. Wir können fragen, woher dieser Gedanke oder jenes Gefühl in uns kommt und uns andere Möglichkeiten zu denken, zu fühlen und zu leben vorstellen. Wir können darüber hinaus im Abstand zu uns selbst Eigenes kritisch bewerten:

«Bin ich eigentlich zufrieden mit meiner gewohnten gedanklichen Sicht auf die Dinge, oder überzeugt sie mich nicht mehr? Finde ich meine Angst, meinen Neid und meinen Hass angemessen? Möchte ich wirklich einer sein, der diesen überkommenen Hass weiterträgt und diese Angst meiner Eltern weiterschreibt? […] Ist mir eigentlich wohl mit meinem Willen, der immer noch mehr Geld und Macht anstrebt? Möchte ich wirklich einer sein, der stets das Rampenlicht und den Lärm des Erfolgs sucht?»6

Wenn es uns gelingt, in unserem Denken, Fühlen und Handeln diejenigen zu sein, die wir sein möchten, dann führen wir ein selbstbestimmtes Leben. Dieses Selbstbild wiederum, an dem wir uns orientieren, verändert sich im Lauf des Lebens  ̶  und es ist nicht sakrosant, nicht unantastbar. Manchmal gilt es, eine versklavende Vorstellung von sich selbst loszulassen.

Glaube kann auf diesem Weg zu sich selbst eine Hilfe sein. Er kann mir helfen, loszulassen und mich anzunehmen. «Im Gebet», so Fulbert Steffensky, «haben wir aufgehört, etwas für uns selbst vorzubringen – eine Rechtfertigung, eine Entschuldigung, ein Argument, eine vorweisbare Stärke.»7 Im Vertrauen auf Gottes Zuwendung kann ich mir selbst mit Wohlwollen begegnen. Meditation und Mystik wollen uns zu uns selbst führen.

Der Blick der anderen

Andere Menschen können uns im Prozess der Selbstfindung unterstützen, sie können uns aber auch von uns selbst wegführen. Es gibt soziale Bilder zum Beispiel in der Werbung oder eine bestimmte gesellschaftliche Art, über gewisse Dinge zu reden, die eine differenzierte Sicht auf die Welt und uns selbst schwer machen. Gesellschaftliche Mechanismen können ein selbstbestimmtes Leben verhindern. So schliesst Peter Bieri seine Ausführungen zur Selbstbestimmung mit einer eher pessimistisch gestimmten persönlichen Note:

«Ich würde gerne in einer Kultur leben, in der Selbstbestimmung […] ernster genommen würde, als sie es in unserer Gesellschaft tatsächlich wird. […] Kritischer Abstand zu sich selbst; das Ausbilden differenzierter Selbstbilder und der schwierige, nie abgeschlossene Prozesse ihrer Fortschreibung und Revision; wachsende Selbsterkenntnis; die Aneignung des eigenen Denkens, Fühlens und Erinnerns; das wache Durchschauen und Abwehren von Manipulation, wie unauffällig auch immer; die Suche nach der eigenen Stimme: All das ist nicht so gegenwärtig und selbstverständlich, wie es sein sollte. Zu laut ist die Rhetorik von Erfolg und Misserfolg, von Sieg und Niederlage, von Wettbewerb und Ranglisten – und das auch dort, wo sie nichts zu suchen hat. Die Kultur, wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille, in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles andere müsste warten.»8

Selbstbestimmung ist ein hohes Gut. Sie geht davon aus, dass wir in aller Bedingtheit und Abhängigkeit mehr sind als ein Spielball fremder Kräfte. Wir können uns mit unserem Denken, Fühlen und Wollen auseinandersetzen und sind in diesem Sinne Subjekt unseres Lebens. Wie Selbstbestimmung ausgestaltet werden muss, damit sie nicht zum Zwang wird, einsam eine Entscheidung treffen zu müssen, oder gar zur Überforderung, ist dabei eine wichtige Frage. Sie konnte hier nur angedeutet werden wie auch die Frage, in welcher Weise der christliche Glaube Selbstbestimmung ermöglicht.

  1. Peter Bieri: Wie wollen wir leben? München 2011, S. 7. Vgl. zum Thema auch Sternstunde Philosophie: Wie Freiheit gelingt. Beate Rössler über Selbstbestimmung, SRF Kultur, 03.07.2017 auf: https://www.youtube.com/watch?v=av93firJ4t4 (2.1.2020).
  2. Peter Bieri: Wie leben, S. 8.
  3. Peter Bieri: Wie leben, S. 9.
  4. Peter Bieri: Wie leben, S. 10.
  5. Vgl. Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition, Gütersloh 2005, S. 59.
  6. Peter Bieri: Wie leben, S. 12f.
  7. Fulbert Steffensky: Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 2. Aufl. 2002, S. 17.
  8. Peter Bieri: Wie leben, S. 33f.

     

    Bildnachweise Titelbild: Miguel Bruna, unsplash; Bild 1: Caleb Stokes, unsplash; Bild 2: Mpho Mojapelo, unsplash; Bild 3: Melany Rochester, unsplash; Bild 4: Jonas Thijs, unsplash; Bild 5: Callum Skelton, unsplash; Bild 6: Tran Mau Tri Tam, unsplash.

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