Armut ist eine erschütternde Realität. In allen grossen Religionen wird denn auch zur Unterstützung der Armen und zur Solidarität mit ihnen aufgerufen. Einen Schritt weiter ging Ende der 1960-Jahre die lateinamerikanische Befreiungstheologie mit der «vorrangigen Option für die Armen». Auch Papst Franziskus redet von einer Kirche der Armen.
Der peruanische Priester, Dominikaner und Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez (*1928) spricht vom «Hereinbrechen der Armen» in die Gegenwart als einem historischen Ereignis1: Jene, die in Gesellschaft und Kirche «abwesend», da unbedeutend waren, drängten sich ins Bewusstsein, sie erhoben ihre Stimme, protestierten, sprachen von ihrer Ausbeutung, ihrem Leben und ihren Hoffnungen. Die verbreitete Vorstellung, Arme seien lediglich Einzelpersonen, die selbstverschuldet oder vom Schicksal hart getroffen in eine schwierige Situation gerieten, entpuppte sich als eine Illusion, die die Wirklichkeit verschleierte. Die Armen waren viele. Sie waren Teil eines Kollektivs und ihre Welt unterschied sich grundlegend von der Welt der Reichen. Die Welt der Armen war gezeichnet von Mangelernährung, Dauerarbeitslosigkeit, Muttersterblichkeit, Missachtung der Menschenwürde und vielem mehr. Die Bischofskonferenzen von Medellín (Kolumbien, 1968) und Puebla (Mexico, 1979) sprachen von einer Situation «institutionalisierter Gewalt», um diese Armut zu charakterisieren. Die Gesichter der Armut in ihrer Vielfalt zu sehen und ihre strukturellen Ursachen differenziert – ökonomische Ausbeutung, Sexismus, Rassismus – zu benennen, lernten Lateinamerika und die Welt nach und nach.
Und heute?
Gutiérrez’ Rede vom Hereinbrechen der Armen und der neuen, unabweisbaren Präsenz der «vielen» lässt einen Bogen schlagen sowohl in die biblische Zeit – ich werde weiter unten darauf zu sprechen kommen – wie in die aktuelle Gegenwart. Heute lässt sie an die Massenproteste und Hungeraufstände in Ägypten, Syrien und im Libanon denken. Vielleicht auch an die Wut Jugendlicher in Paris und Chigaco darüber, dass ihre Leben nicht zählen. Auch an die Millionen von Menschen auf der Flucht über Wasser und Land sowie an die Arbeiter:innen auf den Orangenplantagen und in den Fleischfabriken Europas, die um ihr Menschsein kämpfen.
«In dieser vielfältigen und weiten Welt der Armen sind die vorherrschenden Kennzeichen auf der einen Seite ihre Bedeutungslosigkeit für die entscheidenden Mächte, die die Welt heute regieren, und auf der anderen Seite ihr gewaltiger menschlicher, kultureller und religiöser Reichtum, vor allem ihre Fähigkeit, auf diesen Gebieten neue Formen der Solidarität hervorzubringen.»2
Die Armen sind die, die in den Augen der Welt nicht zählen. Sie haben in den politischen und wirtschaftlichen Debatten keine Stimme und kein Gewicht. Papst Franziskus spricht deswegen von den Armen als den Ausgeschlossenen.3 Die Armen hätten viel zu sagen, sind sie es doch, die unter den Krisen der Welt am stärksten zu leiden haben.
Armut hat viele Facetten: Ausschluss und Unsichtbarkeit, ein Mangel an dem, was für ein würdiges Leben notwendig ist, eine Verweigerung der elementaren Menschenrechte. Zugleich ist Armsein immer auch eine Art zu leben, zu lieben und zu arbeiten.
Prophetische Kritik
In der biblischen Tradition sind es die Prophet:innen, die der zunehmenden Verarmung der israelitischen Bevölkerung mit scharfer Kritik entgegentreten und Machtmissbrauch, Korruption, Rechtsverdrehung und rücksichtslose wirtschaftliche Ausbeutung als ihre Ursachen aufdecken.4 Dieses Verhalten ist ein Verrat an Gott, denn Gott hat das Volk aus der Versklavung herausgeführt. Gott hört die Schreie der Armen und rettet sie (Exodus 22,26). Durch Gottes Zuwendung erfahren die Armen Solidarität und Befreiung.
Das Evangelium der Armen
Die Evangelien stellen Jesus von Nazaret und seine Bewegung in diese prophetische Tradition. Sie lassen Jesus bei seinem ersten öffentlichen Auftritt mit dem Propheten Jesaja sagen: «Den Armen wird die frohe Botschaft verkündet.»5 In diesem Sinn sind auch die Seligpreisungen zu verstehen: Den Armen wird das Glück angesagt. Sie sind glücklich, da der befreiende Gott nahe ist.
Bettelarm waren damals Kranke, Menschen mit einer Behinderung, Fremde, Witwen und Waisen. Unzählige andere Menschen lebten knapp am Existenzminimum. Man geht heute davon aus, dass 96-99 % der Bevölkerung im römischen Reich der Unterschicht angehörte.6 Zu ihnen zählten auch Jesus und seine Jünger:innen. Es sind also die Armen selbst, die eine frohe Botschaft verkünden. Sie sind nicht Objekte einer Armenpraxis, sondern Subjekte in Gottes Reich. So jubelt Maria darüber, dass Gott eine einfache junge Frau in Not erwählte (Lukasevangelium 1,46-55). Und Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth, die mehrheitlich aus Hafenarbeitern, Prostituierten und Sklav:innen besteht:
«Seht doch auf eure Berufung, Brüder und Schwestern! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen.» (1. Korintherbrief 1,26-28)
Kirche der Armen
Die vorrangige Option für die Armen, so betont denn auch Gustavo Gutiérrez, ist eine theologische Entscheidung. Letztes Motiv sei nicht die gesellschaftliche Analyse oder das menschliche Mitgefühl, so wichtig beides für das Engagement auch sein mögen, sondern der Gott Jesu, der sich tief in die Welt der Armen eingelassen hat und sich ihnen ungeachtet ihrer moralischen oder persönlichen Qualitäten zuwendet.
«Es ist eine theozentrische und prophetische Option, die in der Geschenkhaftigkeit der Liebe Gottes wurzelt und von dieser gefordert wird. Bartolomé de Las Casas, der mit der schrecklichen Armut und der Vernichtung der Indianer dieses Kontinents in Berührung gekommen war, erklärte diese Vorliebe so: ‹Weil Gott selbst den Allerkleinsten und den Allervergessensten in ganz frischer und lebendiger Erinnerung hat›.»7
Möglich, dass Gottes Vorliebe für die Armen unser Gerechtigkeitsempfinden irritiert und unsere wohleingerichtete Welt und unsere Bequemlichkeit stört. Lässt man sich darauf ein, kann man Gottes geheimnisvolle Gegenwart im Leben, in der Kraft und in der Spiritualität der Armen entdecken. Menschen, die um ihre Würde kämpfen, wissen, wie Gott schmeckt. Und sie «können uns aufzeigen, wo unsere Ressourcen sind, um die Hoffnung auf Gerechtigkeit, auf Liebe, auf Gleichheit für alle zu realisieren.»8 Welche Herausforderung eine Kirche der Armen bedeutet, erleben wir an uns selbst. Und wir sehen es an den Widerständen, auf die Papst Franziskus’ Bemühen um eine arme Kirche stösst. Père Joseph, der Gründer des Mouvement ATD Quart Monde, das mit den Armen in Paris, Bruxelles, Basel und auf der ganzen Welt unterwegs ist, hält dazu fest:
«Die Kirche wird dann vollendet sein, das Reich Gottes wird dann angekommen sein, wenn die Entrechteten am Tisch sind, als aktive Teilnehmer[:innen] und nicht nur als Konsumenten[:innen]. Die Kirche wird dann vollkommen treu sein, wenn die Ausgeschlossenen ihre Mystik, ihre Theologie, ihr Wort und ihre Liturgie nähren; wenn sie den ersten Platz einnehmen, nicht nur in der Botschaft, die sie durch die Jahrhunderte hindurch immer treu weitergegeben hat, sondern auch in der Realität ihrer zeitlichen Existenz. An jenem Tag wird die Kirche völlig umgekrempelt sein, ein wenig wie die Tische, die Jesus im Tempel umgestürzt hat. Denn die Ärmsten, die Ausgeschlossenen stellen zwangsweise das Ganze in Frage und stürzen unsere veralteten Handlungsmodelle um.»9
- Gustavo Gutiérrez: Die Armen und die Grundoption, in: Ignacio Ellacuría / Jon Sobrino (Hg.): Mysterium liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, Luzern 1995, S. 293-311.
- Gustavo Gutiérrez: Die Armen, S. 296.
- Vgl. Papst Franziskus: Laudato Si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus, 25. Mai 2015, Abschnitt 49, auf: http://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html (29.09.2020).
- Vgl. dazu Jesaja 5,8; Micha 2,1-2; Amos 3,10 und 8,4-6.
- Lukasevangelium 4,18 zitiert Jesaja 61,1. Vgl. Matthäusevangelium 11,4-5.
- Vgl. Christa Schäfer-Lichtenberger, Luise Schottroff: Armut, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, S. 22-26.
- Gustavo Gutiérrez: Die Armen, S. 299.
- Marie-Rose Blunschi: Der Ansatz von Joseph Wresinski – eine Herausforderung für heute, S. 1, auf: https://www.joseph-wresinski.org/wp-content/uploads/sites/17/2016/09/Blunschi.pdf (29.9.2020)
- Père Joseph Wresinski, zitiert nach Marie-Rose Blunschi: Der Ansatz, S. 6.
Bildnachweise Titelbild: Mario Macilau: Growing on Darkness (2012–2015), Kunstbiennale Venedig, Pavillon Santa Sede (Vatikan) 2015, Foto: kr; Bild 1: Foto: jesuits.global; Bild 2: Reuters/Alkis Konstantinidis; Bild 3: Reuters/Danish Siddiqui; Bild 4: Reuters/Marko Djurica.
Kommentare
Noch kein Kommentar