«Du bist meine Sonne»

Wer die Frage stellt: «Hatten Adam und Eva einen Bauchnabel?», oder: «Woher nahm Kain seine Frau?», hat den Sinn der biblischen Schriften grundlegend missverstanden.

In unserer heutigen westlichen Welt haben die meisten Menschen keinen Zugang mehr zu den Aussagen der biblischen Texte. Und es stellt sich die Frage: Warum? Warum wird die Bibel nicht mehr verstanden? Warum werden ihre Erzählungen als «unwahr» abgelehnt? Und warum werden die tiefsinnigen biblischen Erzählungen von anderen Leuten fundamentalistisch missverstanden?1

Was verstehen wir unter «wahr»?

Einer der wichtigsten Gründe für das Nichtverstehen biblischer Texte ist meines Erachtens, dass wir in der westlichen Welt keinen Zugang mehr haben zur narrativen, erzählenden Theologie und zur symbolhaften Sprache des Alten Orients und somit auch nicht mehr zur Bibel. Das liegt vor allem daran, dass wir heute – sei es bewusst oder unbewusst – zumeist einen ausschliesslich historischen und naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriff vertreten: «Wahr» ist für uns, was historisch tatsächlich so und so passiert ist. «Wahr» ist, was sich naturwissenschaftlich beweisen lässt.

Fast automatisch lesen wir auch biblische Texte durch diese «Brille», mit diesem Wahrheitsverständnis. Das heisst, wir lesen die Bibel so, als wäre sie ein historischer Bericht oder eine naturwissenschaftliche Abhandlung. Damit geraten wir aber in einen Konflikt zwischen unserem historischen und naturwissenschaftlichen Wissen und zahlreichen Aussagen der Bibel: etwa mit der Aussage, Gott habe die Welt in sieben Tagen erschaffen, es habe eine weltweite Sintflut gegeben, Mose habe das Meer geteilt oder Jesus sei auf dem Wasser gegangen. Die Bibel wird aus diesem Grund von vielen Menschen als «unwahr», als «frommes Märchen» abgetan.

«Du bist meine Sonne»

In anderen Lebensbereichen ist uns jedoch klar, dass «Wahrheit» nicht nur historisch oder naturwissenschaftlich zu bestimmen ist. Wenn sich Verliebte etwa in einem Liebesbrief schreiben: «Du bist meine Sonne», dann verstehen wir intuitiv, was damit gemeint ist. Es kommt niemand auf die Idee, diese Aussage naturwissenschaftlich zu verstehen – ein solches Verständnis wäre ja auch wenig schmeichelhaft. «Du bist meine Sonne» würde unter anderem bedeuten: a) du bestehst zu 92,1% aus Wasserstoff und zu 7,8% aus Helium; b) du bist 149,6 Millionen Kilometer von mir entfernt c) dein Umfang beträgt 4,4 Millionen Kilometer usw. Bei einem Liebesbrief ist uns «sonnenklar», dass es nicht um eine naturwissenschaftliche Wirklichkeit, sondern um eine andere Dimension, um eine andere als die naturwissenschaftliche Wahrheit geht.

Die Bibel – menschheitsgeschichtlich gesehen ein junges Buch

In Bezug auf die Bibel müssen wir uns jedoch erst einmal bewusst machen, dass die allermeisten Texte der Bibel keine historischen Berichte und schon gar keine naturwissenschaftlichen Abhandlungen darstellen. Es sind vielmehr theologische Texte: Texte, die unser menschliches Leben reflektieren, die nach Sinn fragen, die ethische Überzeugungen formulieren und die vom Glauben an Gott erzählen. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass die Menschen zur Zeit der Bibel nicht dümmer waren als wir: Die in Äthiopien gefundenen Schädel des Homo sapiens (homo sapiens idaltu) sind etwa 160’000 Jahren alt, die Funde in der Misliya-Höhle am Karmel werden auf 177-194’000 Jahre geschätzt, und im Jahr 2017 wurden in Marokko (Djebel Irhoud) gar Funde gemacht, die auf 300’000 Jahre geschätzt werden.

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Im Vergleich dazu ist seit der Entstehung der Bibel bis heute erst eine recht kurze Zeit von 2000-3000 Jahren vergangen, in der sich das menschliche Hirn nicht wesentlich veränderte. Anders gesagt: Unsere intellektuellen Fähigkeiten sind nicht grösser als jene der Menschen, welche die Bibel schrieben.

Menschheitsfragen

Gewiss gibt es seit der Aufklärung und der Industrialisierung einen enormen naturwissenschaftlichen und historischen Wissenszuwachs. Aber in anderen Bereichen ist der Mensch bestimmt nicht klüger geworden – zum Beispiel bei Fragen der friedlichen Konfliktlösung, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der sozialen Gerechtigkeit, des Umgangs mit Ressourcen, der Überwindung von existentiellen Krisen, der Suche nach Sinn, Liebe und Glück usw. Es sind dies soziale, ethische, philosophische und theologische Fragen, kurz Menschheitsfragen. Genau davon handelt die Bibel – in grossartiger Dichte, Vielfalt, Weisheit und Fülle. Einige Beispiele sollen dies im Folgenden veranschaulichen.

Untitled (1965) by Jannis Kounellis

Schöpfung in «sieben Tagen»

Wenn also die Bibel von einer Schöpfung in «sieben Tagen» erzählt, dann ist das nicht historisch als 7×24 Stunden zu verstehen. Die Aussage ist vielmehr: Dass es überhaupt eine Welt mit all dem Leben gibt, ist überaus erstaunliche, dass es den Glauben einen Gott als gute Schöpfungskraft hervorruft, eine Schöpfungskraft, die alle Tage («jeden Tag der Woche»), das heisst die ganze Zeit, am Wirken ist (vgl. ausführlich André Flury: Schöpfung – oder vom Vertrauen in das Gute).

Adam und Eva

Und wenn die Menschheit auf Adam und Eva (die «Mutter aller Lebendigen») zurückgeführt wird, so will damit nicht gesagt werden, es hätte historisch in der Evolutionsgeschichte zu Beginn nur ein einziges Menschenpaar gegeben. Vielmehr wollten die Menschen, die das biblische Buch Genesis schrieben, damit die Überzeugung formulieren: Alle Menschen gehören wie eine «Familie» zusammen – unabhängig von Hautfarbe, Religion, Volkszugehörigkeit – und sollten sich dementsprechend verhalten. Alle Menschen haben die gleiche Würde, in biblischer Sprache formuliert: Alle Menschen sind Gottes Ebenbild (vgl. ausführlich André Flury: Gottes Ebenbild – der Mensch in der Schöpfung).

Keine weltweite Sintflut

Die Erzählung von Noah und der Sintflut (Genesisbuch 6–9) will nicht behaupten, es hätte einmal eine weltweite Sintflut gegeben, die alle Menschen ausser Noah und seiner Familie vernichtet hätte. In der Erzählung wird vielmehr die Frage behandelt: Was tut Gott angesichts der Gewalttätigkeit der Menschen? Eine erste Möglichkeit, Gott könnte die gewalttägigen Menschen vernichten, wird zwar erzählerisch durchgespielt, aber als zu kurz gedacht abgelehnt: Der Mensch lässt sich mit Gewalt nicht zum Besseren erziehen. Die biblische Sintfluterzählung formuliert daher die Überzeugung: Gott reagiert auf Gewalttätigkeit nicht mit Gegengewalt, sondern mit einem Friedensbund. Dies wird uns Menschen als Vorbild für Konfliktlösungen nahegelegt (vgl. ausführlich André Flury: Sintflut – oder die Veränderung des Gottesbildes).

Jesus «geht» übers Wasser

Wenn erzählt wird, Jesus gehe über das Wasser (Markusevangelium 6,45-52), so will damit nicht gesagt werden, Jesus hebe die physikalische Schwerkraft auf. Vielmehr steht das «Meer von Galiläa/Kineret» für das Urchaos. In dieses Urchaos wird die römische Besatzungsmacht – eine «Legion von Schweinen» – einmal gestürzt werden (vgl. Markusevangelium 5,1-20). Jesus jedoch geht in diesem Chaos nicht unter, sondern steht aufrecht und findet seinen Weg – weil er ganz und gar Gott vertraut, weil er ganz und gar von Gottes Geist erfüllt ist. Zu dieser Überzeugung waren die Menschen, die Jesus nachfolgten gekommen. Daher glaubten sie an ihn als Messias (Christus, Gesalbter Gottes), sie glaubten, dass Gott in Jesus von Nazaret präsent war, deshalb nannten sie ihn Sohn Gottes.

Wahre Erzählungen

Wer die biblischen Erzählungen in dieser Art und Weise zu verstehen lernt, der und die erkennt die Tiefendimension, die wahre Bedeutung dieser Erzählungen: Es sind wahre Erzählungen in dem Sinne, dass sie uns Erkenntnis schenken über unser Menschsein und über das Geheimnis, das wir Gott nennen. Es sind wahre Erzählungen, weil sie uns auch heute im Leben mit all seinen Höhen und Tiefen tragen, weil sie uns zum Guten ermutigen, weil sie in uns das Vertrauen in Gott wach halten.

  1. Vgl. zum Folgenden André Flury: Erzählungen von Schöpfung, Erzeltern und Exodus (STh 1,1), Zürich 2018, S. 11-13ff.
  2. Für einen Überblick zur Stammesentwicklung des Menschen vgl. beispielsweise Winfried Henke / Hartmut Rothe:Stammesgeschichte des Menschen, Berlin 1999; dieselben: Menschwerdung, Frankfurt a. M. 2003.

     

    Bildnachweise:

    Titelbild: iStock, RoterPanther / Bild1: iStock, talgart / Bild 2: Untitled (1965) by Jannis Kounellis. Giallo (gelb, jaune, yellow), rote Farbe auf Aluminium (rouge sur aluminium, rossa su alluminio, red paint on aluminum). Ausstellung in der Galleria Giorgio Franchetti alla Ca’ d’Oro, Venedig 2019 / Bild 3: Über Wasser gehen. Kunstbiennale Venedig 2019, italienischer Pavillon Italien / Bild 4: photocase.de, Leonard

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