Erwarten wir das Unerwartete

Auch im Advent stossen Erwartungen und Erfahrungen aufeinander. Ob als «holder Knabe» oder später als kantiger Charaktertyp: Jesus sucht hinter den vermeintlichen Rollen von Menschen immer wieder das «Geheimnis Gottes» in ihnen.

Was würde man tun, wenn man eine Maschine für Zeitreisen erfinden könnte: Würde man den Lauf der Geschichte verändern (etwa Adolf Hitler oder Josef Stalin unschädlich machen)? Würde man im Wissen um den Verlauf der Aktienkurse den Grundstock für ein unfassbares Vermögen legen (etwa im Jahr 1998 Aktien von Google erwerben)? Würde man vom Menschen ausgelöste Naturkatastrophen ungeschehen machen (etwa indem man die Betreiber von Tschernobyl über die Fehlkonstruktion des Reaktors informiert)?

Diese «was-wäre-wenn»-Fragen sind als Gedankenexperimente spannend und deshalb verwundert es nicht, dass sie bereits in zahlreichen Büchern und vor allem auch in Filmen durchgespielt wurden. Besonders reizvoll wird es dann, wenn dabei Zeit-Paradoxa ins Spiel gebracht werden. Im Film «Zurück in die Zukunft» reist Marty McFly versehentlich in die Vergangenheit, wo sich zu seinem grössten Schrecken seine eigene Mutter ausgerechnet in ihn selbst und nicht in seinen Vater verliebt. Der Film schildert anschliessend äusserst amüsant das peinlich-dramatische Vorgehen McFlys, damit durch seine Zeitreise nicht der notwendige Ursprung seiner Existenz – nämlich die Liebe der Eltern zueinander – verhindert wird…

Zeit

Wer den Film kennt, weiss, dass er seine besondere «Würze» aus der Frage gewinnt, ob und wie sich Menschen im Lebensverlauf verändern oder auch nicht. Marty McFly kennt seine Mutter als eine kreuzbrave, ein wenig spiessige Person, die vor allem das Familienleben organisiert. Während seiner Zeitreise wird er aber nun mit der Erkenntnis konfrontiert, dass sich seine Erwartungen an den Charakter einer Person – immerhin «kennt» er seine Mutter seit seiner Geburt! – überhaupt nicht bestätigen.

Und schon sind wir mitten in grossen Themen, die überraschenderweise gerade in der Adventszeit eine herausragende Rolle spielen: Nämlich die nach Erwartung und Erfahrung. In der Bild- und Sprachwelt des Advents wird die freudige Erwartung in den schillerndsten Farben besungen, man sehnt immerhin den kommenden Heiland, das Licht der Welt, einen «holden Knaben im lockigen Haar» herbei. Nun kann man natürlich sagen, dass diese (Sprach-)Bilder theologisch sicherlich nicht treffsicher sein, sondern eher das sentimentale Gemüt ansprechen wollen. Interessant wird es jedoch, wenn man diese klare Erwartungshaltung mit dem kantigen, facettenreich schillernden Jesus der Evangelien ins Gespräch bringt.

Erwartungen

Jesus erscheint dort als echter Charaktertyp, der durch sein Tun und Handeln häufig auf Widerspruch stösst und die geltenden Konventionen mit fast diebischer Provokationslust unterläuft. Zur Illustration: Stellen Sie sich vor, Sie erscheinen zur Weihnachtsmette in der festlich geschmückten Kirche gemeinsam mit einer Frau, deren Ehemann und Schwiegermutter unter sehr unklaren Verhältnissen ums Leben gekommen sind, mit zwei oder drei sich prostituierenden Personen und fangen zudem während der Predigt mit dem Priester das Streiten an. Aus den Evangelien hallt uns das ferne Echo genau solcher Handlungen und Verhaltensweisen entgegen (Umgang mit Zöllnern, Ehebrecher:innen, öffentliche Streitgespräche…) , die bei der «Normalgesellschaft» damals wie heute nicht auf allzu grosses Verständnis stossen durften und dürfen.

Mit diesem Beispiel geht es mir nicht darum, Jesus als Vorbild einer bestimmten politischen Richtung auszuweisen. Dies ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig, allerdings mit manchmal zweifelhafter Botschaft getan worden; Jesus war schon Hippie («Jesus Christ Superstar»), sozialistischer Revolutionär, vergeistigter Verkünder der ewigen Liebe Gottes… Ganz im Gegenteil will ich Folgendes hervorheben: In den Evangelien denkt und handelt Jesus Christus immer wieder wie die menschgewordene Bekräftigung der göttlichen Idee, Menschen auf keine eindeutigen Rollen festlegen zu wollen (lesen Sie dazu auch den zweiten Schöpfungsbericht in der Genesis). Dass Jesus mit den gesellschaftlichen Rollen seiner Zeit in aller Freiheit bricht, davon berichten die Evangelien fortlaufend: Von Heilern und Wundertätern wird etwa erwartet, dass sie mit grosser Geste von ihren Taten berichten. Jesus dagegen bittet im Evangelium nach Markus wiederholt die Geheilten um Stillschweigen, und auch die Zuschauer:innen – Jünger und Andere – sollen nichts von dem erzählen, was sie gesehen oder erfahren habe (es halten sich aber nicht alle daran). Von Propheten wird erwartet, dass sie asketisch-bescheiden leben und den anderen ein Vorbild sind. Auch hier setzt Jesus bekanntermassen einen anderen Akzent – er selbst weiss, dass ihm vorgeworfen wird, ein «Fresser und Weinsäufer» (Matthäusevangelium 11,18 f.) zu sein. Die Beispiele liessen sich beliebig fortsetzen.

Krippenszene undefiniert

Was heisst das aber nun genau? Die Erzählungen über Jesus einfach als Berichte über einen Nonkonformisten zu lesen, wäre zu schlicht. Nein, die Evangelisten wollen uns an der Botschaft Jesu und in ihren Berichten von seinen Taten (unter vielem anderen) zeigen, dass wir das, was wir von anderen Menschen zu wissen glauben, was wir von ihnen erwarten und woran wir sie messen wollen, niemals mit dem verwechseln dürfen, was ein anderer Mensch ist und wofür er steht. Viel später hat aus dieser christlichen Überzeugung heraus der Begriff «Person» den uns heute geläufigen Sinn erhalten, der genau dieses «Geheimnis Gottes in Euch» (Kolosserbrief 1,27) zum Ausdruck bringen will. Das Christentum ist damit eine Anti-Klischee- und Anti-Stereotypen-Religion!

So schliesst sich der Kreis zum Advent und auch zum Film «Zurück in die Zukunft». Viele Menschen träumten wohl davon, in die Zeitmaschine des Films einzusteigen, fast zweitausend Jahre in die Vergangenheit zu reisen und in Galiläa den Zimmermannssohn aus Nazareth kennenzulernen. Würden wir unsere Erwartungen bestätigt sehen? Wären wir entgeistert, enttäuscht oder aber glücklich und zufrieden? Was wir aus den Evangelien mitnehmen dürfen: Vermutlich wäre die Begegnung mit Jesus genauso irritierend anders als für die Menschen seiner Zeit. Für den Advent heisst das also nichts anderes als: Erwarten wir das Unerwartete in unseren Nächsten und in uns selbst und – lasst uns als Gottes Geschöpfe aus der Freude leben, in uns selbst ein Geheimnis zu besitzen, auf dessen Grund wir nie ganz vorstossen können.

Weihnachtliches Geheimnis

Bleiben Sie für sich und für andere im positiven Sinne unberechenbar: Das ist mein Wunsch an Sie für das kommende Weihnachtsfest und den Start ins neue Jahr!1

  1. Bildnachweise: Titelbild: Pia Neuenschwander; Bild 1: Unsplash @heatherz; Bild 2: Unsplash @sebastien_bonneval; Bild 3: Unsplash @bunnyslayer; Bild 4: Unsplash @thandyung

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