Der Beginn eines neuen Jahres ist für viele Menschen ein Anlass, innezuhalten, das eigene Leben zu überdenken, sich neu auszurichten und gute Vorsätze zu fassen. Wäre das auch ein Modell für die Kirche? Weltweit sind Erneuerungsprozesse in Gang gekommen, in denen so manches auf den Prüfstand gestellt wird, was sich an Strukturen, Vorschriften und Praktiken entwickelt und verfestigt hat. Dazu gehört auch das Thema Macht.
So viel vorweg: Macht ist keineswegs schon von vornherein etwas Schlechtes. In jeder Gruppe, jedem Gemeinwesen gibt es machtförmige Beziehungen. Macht ist notwendig, um Entscheidungen zu treffen, sie in Handlungen umzusetzen und diese in der jeweiligen Gruppe auch durchsetzen zu können. Macht kann in einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft dazu eingesetzt werden, etwas zu ermöglichen, was gut, hilfreich und förderlich für möglichst viele ist. Macht als Ermöglichungsmacht kann also durchaus zu einem Zugewinn an gutem Leben verhelfen. Dies kann aber nur funktionieren, wenn es in einem Konsens geschieht, an dem möglichst viele beteiligt sind.
Wo Macht hingegen in Gewalt umschlägt und dazu benutzt wird, um den eigenen Status zu erhöhen oder anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen, ihnen Handlungsmöglichkeiten zu nehmen und sie zu unterdrücken, dort muss sie kritisch hinterfragt werden. Dabei dürfen wir uns ganz im Einklang mit biblischen Texten wissen.
Was heisst es, Jesus nachzufolgen?
Besonders deutlich wird dies in einem Text, der im Mittelteil des Markusevangeliums zu finden ist. Dieser Mittelteil des Markusevangeliums zeigt Jesus, wie er sich auf den Weg von Galiläa nach Jerusalem macht und auf dem Weg den Jünger:innen erklärt, was es heisst, seinen Weg mit- und nachzugehen und als Nachfolgegemeinschaft zu leben (Markusevangelium 8,27–10,52).
Was Nachfolge Jesu bedeutet, ist für die Jüngergruppe und vor allem für die Zwölf offenbar nicht so leicht zu verstehen. So zumindest stellt es das Markusevangelium hier dar. Denn dreimal kündet Jesus auf dem Weg nach Jerusalem sein bevorstehendes Leiden an – und dreimal reagieren die Zwölf mit krassem Unverständnis. Beim ersten Mal ist es Petrus, der es nicht wahrhaben will, dass Jesus ins Leiden geht und der sich damit eine harsche Zurechtweisung Jesu einhandelt (Markusevangelium 8,32-33). Nach der zweiten Leidensankündigung haben die Zwölf nichts Besseres zu tun, als sich Gedanken darüber zu machen, wer denn nun der Grösste unter ihnen sei. Auch sie müssen sich von Jesus belehren lassen:
«Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.» (Markusevangelium 9,35)
Beim dritten Mal schliesslich treten Jakobus und Johannes unmittelbar nach der Leidensankündigung an Jesus heran und fragen ihn, ob sie dann dereinst, in seinem Reich, die Plätze rechts und links neben ihm bekommen könnten. Jesus lehnt dies ab: Es sei nicht an ihm, solche Pöstchen zu vergeben, sondern diese Plätze bekämen diejenigen, «für die es bestimmt ist» (Markusevangelium 10,40). Das heisst nichts anderes, als dass nur Gott selbst solche Plätze vergeben kann. Und Jesus ruft die Zwölf zusammen und erklärt ihnen:
«Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Grossen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch gross sein will, soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.» (Markusevangelium 10,42-45).
Deutlicher lässt sich kaum sagen, wie in der Nachfolgegemeinschaft Jesu mit Macht umgegangen werden soll.
Machtbestrebungen in der Gemeinde des Markusevangeliums
Wenn das Markusevangelium von den Jünger:innen Jesu erzählt, sind nicht nur die Männer und Frauen im Blick, die «damals» mit Jesus unterwegs waren. Es geht immer auch um die Gemeinde, für die der Evangelist Markus schrieb. Diese lebte wahrscheinlich um das Jahr 70 n. Chr. in Rom, also etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu und an einem ganz anderen Ort. Nicht mehr in Galiläa und Judäa galt es nun den Glauben an Jesus, den Christus und Gottessohn, zu praktizieren, sondern in der Hauptstadt des Römischen Reiches. Dass dies nicht immer leicht war, liegt auf der Hand. So spiegeln sich in dem, was die Jünger:innen im Markusevangelium bewegt, was sie nicht verstehen und womit sie Schwierigkeiten haben, die Fragen und Schwierigkeiten der Menschen dieser Gemeinde in Rom. Die Jünger:innen sind also Identifikationsfiguren für die Gemeindemitglieder, die offenbar Mühe hatten, den Weg Jesu zu verstehen, der vordergründig überhaupt kein Weg des Erfolgs und des Triumphes war – und die auch Mühe hatten zu begreifen, dass eine Nachfolgegemeinschaft, die sich auf diesen Jesus beruft, anders funktionieren muss als die römische Gesellschaft mit ihren Machstrukturen und ihrem Herrschaftsgebaren.
Wenn das Markusevangelium also die Zwölf zeigt, wie sie sich darum streiten, wer unter ihnen der Grösste sei, oder wenn es Jakobus und Johannes mit dem Ansinnen an Jesus herantreten lässt, dass er ihnen in seinem Reich Machtpositionen zukommen lassen soll, dann sagt dies weniger über die Jünger damals aus, als vielmehr darüber, dass wohl einige Mitglieder der Markusgemeinde Machtgelüste entwickelten und sich privilegierte Pöstchen sichern wollten, in einer Weise, wie es in der römischen Gesellschaft gang und gäbe war. Wenn Johannes und Jakobus die Plätze rechts und links neben Jesus haben wollen, dann wollen sie im Reich Jesu Machtpositionen haben und «Grosse» werden. Um das zu erreichen, handeln sie so, wie man es im römischen Reich mit Hilfe entsprechender Beziehungen und Seilschaften tat und wie wir es bis heute kennen: Da gibt es vielleicht einen Menschen, der jetzt schon mächtig ist, oder einen aussichtsreichen Kandidaten (oder eine Kandidatin) für eine spätere Machtposition, zum Beispiel einen Präsidentschaftskandidaten (oder eine Präsidentschaftskandidatin) oder CEO – und man versucht, sich rechtzeitig bei diesem aussichtsreichen Kandidaten in Position zu bringen: indem man Aufmerksamkeit erregt, schmeichelt, Loyalität bezeugt, Konformität beweist und so weiter. Im Gegenzug erhofft man sich Vorteile, einen guten Posten oder ähnliches.
Offenbar gab es in der Markusgemeinde Anlass zur Sorge, dass sich solche Machenschaften und Machtstrukturen, wie sie in der römischen Gesellschaft praktiziert wurden, auch in die christlichen Gemeindestrukturen einschleichen. Das aber darf nach Ansicht des Evangelisten niemals geschehen, das wäre Verrat an Jesus und seinem Weg. Darum lässt das Markusevangelium seinen Jesus auch so scharf antworten.
«Bei euch soll es nicht so sein…»
Die Antwort Jesu nimmt zuerst Bezug auf die Praxis der Herrschenden, die die Macht haben, ihren Willen in ihrem Herrschaftsbereich wirksam durchzusetzen und die Menschen zu unterdrücken. Dazu bedienen sie sich Personen ihres Vertrauens, die mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet sind und zur Durchsetzung ihrer Befehle auch auf militärische Gewalt zurückgreifen können. Dabei ist die Richtung des Herrschens klar: von oben nach unten.
Gleichzeitig hinterfragt Jesus dieses Herrschaftsgebaren, indem er die Herrschenden als solche bezeichnet, «die als Herrscher gelten», wörtlich: «die zu herrschen scheinen». Und er entwirft ein Gegenmodell: «Bei euch aber soll es nicht so sein!» Zwar gibt es auch in der Nachfolgegemeinschaft «Grosse» und «Erste», doch sie sollen sich ganz anders verhalten als die «Grossen» und «Ersten» der römischen Gesellschaft: Sie sollen Rollen übernehmen, die am unteren Ende der sozialen Skala stehen, nämlich die Rollen von Dienenden und Sklaven. Das widerspricht allen damals gängigen Vorstellungen von Ehre und Männlichkeit – genauso wie es auch noch heute noch jeglichem Karrieredenken widerspricht. Und wenn heute jemand von «Dienst» spricht, dann ist es oft genug eine Verschleierung von Herrschaft.
Es wird deutlich: In der Jesusgemeinschaft werden die üblichen Herrschaftsmechanismen und Machtstrukturen auf den Kopf gestellt. Welche Bedeutung eine Person hat, wird nicht daran festgemacht, wie viel Herrschaftsgewalt sie über andere hat, sondern am Verzicht auf solche Herrschaftsgewalt. In der Jesusgemeinschaft wird darauf verzichtet, über andere Befehlsgewalt auszuüben. Stattdessen werden Dienstleistungsrollen übernommen, die in der römischen Gesellschaft denjenigen aufgezwungen werden, die keine Macht haben, sondern beherrscht werden.
Als Vorbild wird dabei niemand Geringeres als Jesus selbst vor Augen gestellt, der auf alle Herrschaftsgewalt verzichtet und sogar sein Leben hingibt als «Lösegeld». So wie Sklav:innen aus dem Sklavenstand entkommen konnten, indem sie die entsprechende Summe ansparten und sie dann für ihren Freikauf einsetzten, so setzt auch Jesus «Lösegeld» ein, wie es unser Text sagt; doch er setzt es nicht zur Erhöhung des eigenen Status ein, sondern für andere, für «viele».
Dabei ist es wichtig, genau hinzusehen, zu wem dies gesagt ist: Es ist der Zwölferkreis, also eine herausgehobene Gruppe unter den Jünger:innen Jesu. Das Wort vom Dienen und Herrschaftsverzicht ist also nicht zu denen gesagt, die ohnehin nichts zu sagen haben und ohnehin schon dienen, sondern zu den «Promis» innerhalb der Nachfolgegemeinschaft.
Das Markusevangelium zeigt also herausgehobene Mitglieder der Jesusgemeinschaft, wie sie mit Machtfragen immer noch so umgehen, wie es der römischen Gesellschaftsordnung entspricht. Sie haben noch nicht verstanden, was der alternative Umgang Jesu mit Macht konkret bedeutet und müssen daher von Jesus immer wieder sehr deutlich belehrt werden. Offenbar ist es auch für prominente Jesusnachfolger nicht so leicht, seinen alternativen Umgang mit Macht und Herrschaft wirklich zu praktizieren.
Herrschaftsverzicht als Vermächtnis Jesu
Wie virulent solche Fragen auch in anderen frühen Gemeinden waren, zeigt das Lukasevangelium. Auch hier gibt es diesen Streit in der Jüngergruppe, wer der Grösste sei, und auch hier folgt eine Belehrung durch Jesus. Doch gewinnt die Szene dadurch enorm an Dramatik, dass sie nicht auf dem Weg nach Jerusalem angesiedelt ist, sondern während des letzten Mahles Jesu. Drastischer lässt sich kaum erzählen: Jetzt, im Augenblick des letzten Mahles, haben die Jünger:innen nichts Besseres zu tun, als sich zu streiten, wer unter ihnen der Grösste sei!
«Es entstand unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen wohl der Grösste sei. Da sagte Jesus zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Vollmacht über sie haben, lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Grösste unter euch soll werden wie der Jüngste und der Führende soll werden wie der Dienende. (…) Ich aber bin unter euch wie der, der bedient.» (Lukasevangelium 22,24-27)
Wenn sich Jesus nach dem Lukasevangelium gerade beim letzten Mahl mit seinem Gegenmodell an die Jüngergruppe richtet, werden diese herrschaftskritischen Worte noch stärker zu einem Vermächtnis des scheidenden Jesus. Noch konkreter als bei Markus (und Matthäus) wird die Praxis der politischen Machthaber kritisiert, ihre Herrschaft als Wohltätigkeit zu verschleiern. Und Jesus selbst verkörpert mit seinem Weg, der auf die Durchsetzung von Macht verzichtet und stattdessen den Weg bis zur tiefsten Erniedrigung am Kreuz geht, das Gegenbild zu den kritisierten Herrschern. Es ist ein Weg, der nach der Sicht der Texte letztendlich durch die Auferweckung und Rehabilitierung Jesu durch Gott bestätigt wird.
Weg der Erneuerung
Wenn sich die Kirche tatsächlich auf einen Weg der Erneuerung begeben will, wird sie nicht umhinkommen, sich auch den Fragen von Macht und Machtmissbrauch zu stellen. Wenn sie eine Kirche in der Nachfolge Jesu sein will, wird sie sich an den macht- und herrschaftskritischen Worten Jesu messen lassen müssen. Wer hat Macht? Wie wird sie ausgeübt? Welche Kontrollinstanzen und welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es? Wofür wird Macht eingesetzt? Sich auch diesbezüglich auf einen Weg der Erneuerung zu begeben, wäre vielleicht nicht der schlechteste Vorsatz für das neue Jahr.1
- Bildnachweise: Titelbild: Bei Priesterweihen zeigen sich Demut, Macht und Prunk in der Kirche. José Martinez/jrm-photoworks; Bild 1: Zusammen. @adigold1/unsplash; Bild 2: Dienen. @ismaelparamo/unsplash; Bild 3: Römische Macht. Kaiser Claudius. @iam_os/unsplash; Bild 4: Kirche auf den Kopf gestellt. @rayne_man/unsplash
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