Solidarisch leben – aber wie?

Jesus hat sich in besonderer Weise den Armen zugewandt: «Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes» – so hören wir ihn im Lukasevangelium sagen. Was aber, wenn man nicht zu den Armen gehört? Bleibt man dann beim Reich Gottes draussen bei der Tür? Oder gibt es Wege, dennoch Jesus-gemäss zu leben?

Solche Fragen haben sich die Menschen, die sich in die Nachfolge Jesu begeben haben, von Anfang an gestellt. Besonders dringlich wird darum im Lukasevangelium gerungen.1 Deshalb hat der Evangelist Lukas in der Bibelwissenschaft zwei Bezeichnungen erhalten, die auf den ersten Blick kaum zusammenpassen, auf den zweiten Blick jedoch wie zwei Seiten einer Medaille sind. Lukas wird sowohl als «Evangelist der Armen», als auch als «Evangelist der Reichen» bezeichnet. Er stellt die Armen ins Zentrum der Praxis Jesu – und er wird nicht müde, den Reichen ins Gewissen zu reden.

Jesus steht auf der Seite der Armen

Lukas macht in seinem Buch von Anfang an deutlich, dass Jesus ganz auf der Seite der Armen steht – weil Gott selbst sich auf die Seite der Armen gestellt hat. Das zeigt sich schon bei der Geburt Jesu: Da sind es Hirten, also arme, einfache Menschen, denen als erstes die frohe Botschaft von der Geburt des Messias verkündet wird:

«Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine grosse Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.» (Lukasevangelium 2,10–12)

Aber nicht nur diejenigen, die dies als erste hören und sich als erste aufmachen, um den neugeborenen Messias mit eigenen Augen zu sehen, sind Arme. Auch der Messias selbst wird in Armut geboren und kommt in einem Stall zur Welt – im Unterschied zum Matthäusevangelium, wo sich die Familie Jesu bei seiner Geburt in ihrem Haus in Betlehem befindet und die Ersten, die Jesus als Messias erkennen, Weise aus fernen Ländern sind.

Nach diesem programmatischen Anfang verwundert es nicht, dass das Lukasevangelium die erste Aufgabe dieses Messias dann so umschreibt:

«Der Geist Gottes ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr Gottes ausrufe.» (Lukasevangelium 4,18–19)

Zerschlagen

Den Armen eine frohe Botschaft zu bringen, das ist nach Lukas die erste Aufgabe des Messias Jesus. Dazu gehört es auch, dass die Verschuldeten aufatmen können, weil jetzt ein Gnadenjahr Gottes ausgerufen ist. Darum richtet Jesus sich in seiner ersten grossen Rede, der sogenannten Feldrede, zuerst an die Armen:

«Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden.
Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausstossen (…). Freut euch und jauchzt an jenem Tag; denn siehe, euer Lohn im Himmel wird gross sein.» (Lukasevangelium 6,20–23)

Es scheint paradox: Ausgerechnet diejenigen, die nichts zu lachen haben, die Armen, Hungernden, Trauernden und Verfolgten, die sollen sich freuen und sich beglückwünschen; denn ihnen gilt die Zuwendung Gottes. Jetzt ist die neue Zeit Gottes angebrochen, die die Evangelien «Reich Gottes» nennen. Und zu dieser neuen Zeit gehört es, dass sich Gott genau denen zugewandt hat, die bislang nichts vom Leben erwarten konnten, und dass er selbst ihre Lage verändern würde. Wenn das kein Grund zum Jubeln ist, was dann?

Und was ist mit den Reichen?

Wenn die Armen dermassen im Zentrum der Botschaft und der Praxis Jesu stehen – was ist dann mit den Reichen? Da ist Lukas sehr klar:

«Doch weh euch, ihr Reichen; denn ihr habt euren Trost schon empfangen.
Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern.
Weh, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.
Weh, wenn euch alle Menschen loben. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.» (Lukasevangelium 6,24–26)

Haben dann die Reichen überhaupt keine Chance? Eigentlich nicht.
Denn …

«… leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» (Lukasevangelium 18,25)

Lukas bringt drastische Beispiele, um zu zeigen, wie wenig der Reichtum am Ende nützt, wenn es um das Leben in Fülle – jetzt und dereinst bei Gott – geht: Der reiche Kornbauer, der so viel erntet, dass er neue Scheunen bauen muss, um all sein Getreide und seine ganzen Vorräte unterzubringen, und der sich dann darauf für viele Jahre ausruhen will, muss sich von Gott sagen lassen:

«Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann das gehören, was du angehäuft hast? So geht es einem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber bei Gott nicht reich ist.» (Lukasevangelium 12,20–21)

Und der reiche Mann, der sein Leben in Luxus verbringt, während vor seiner Tür der arme Lazarus krank und hungrig liegt, wird nach seinem Tod schnurstracks in die Unterwelt transportiert, wo er qualvolle Schmerzen leidet, während der arme Lazarus nach seinem Tod von den Engeln in Abrahams Schoss getragen wird. Als der Reiche um Erleichterung seiner Qualen bittet, bekommt er zu hören:

«Erinnere dich daran, dass du schon zu Lebzeiten deine Wohltaten erhalten hast, Lazarus dagegen nur Schlechtes. Jetzt wird er hier getröstet, du aber leidest grosse Qual.» (Lukasevangelium 16,25)

Pullover mit Löchern

Auch seine Bitte, dass wenigstens seine fünf Brüder gewarnt werden, damit sie nicht ebenfalls so enden wie er, wird abschlägig beschieden, denn:

«Sie haben Mose und die Propheten. Auf die sollen sie hören.» (Lukasevangelium 16,29)

Eigentlich wüssten die fünf Brüder genau, wie sie leben und handeln müssten – und eigentlich wüssten wir es bis heute. So wie es schon im Buch Micha eindringlich vor Augen geführt wird:

«Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was Gott von dir erwartet. Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte lieben und achtsam mitgehen mit deinem Gott.» (Micha 6,8)

Mit der Umsetzung tun wir uns allerdings mitunter ziemlich schwer. Zugegeben: Die gesellschaftlichen Ungleichheiten, mit denen wir bis heute konfrontiert sind, sind komplex und haben vielfältige Ursachen, und die Lösungen liegen meist nicht einfach auf der Hand. Ein einzelner Mensch, und sei er auch noch so gutwillig, kann nicht alle sozialen Probleme auf einmal lösen. Und viele, die dies lesen, werden ohnehin selbst schauen müssen, wie sie jeden Monat über die Runden kommen.

Und doch haben wir alle wohl eine Ahnung davon, dass vieles anders gehen müsste, damit die Armen nicht für immer arm bleiben und die Welt ein wenig gerechter würde, und dass dies sehr wohl möglich wäre – vor allem, wenn wir uns zusammentun oder auch die Hilfswerke unterstützen, die sich den enormen gesellschaftlichen Herausforderungen professionell widmen.

Die Lage ist ernst

Es ist eine ziemlich schwarze Pädagogik, mit der Lukas hier arbeitet. Das wird bei vielen Leser:innen Widerstände auslösen, damals wie heute. Doch vielleicht spüren wir durch die Widerstände hindurch, worauf es ihm ankommt: Es ist nicht gleichgültig, wie wir leben. Unser Handeln hat Folgen.

Wenn jemand wie der reiche Kornbauer das Getreide über Jahre hortet, steigen die Preise, und Grundnahrungsmittel werden zuerst für die Armen unerschwinglich. Wenn jemand wie der reiche Mann durch all seinen Luxus hindurch die Not vor seiner Haustür nicht mehr wahrnimmt, dann kann es für die Armen draussen vor der Tür buchstäblich tödlich werden.

Nahrung

Lukas will also aufrütteln mit seinen drastischen Beispielen. Das zeigt aber auch: Er hat die Reichen noch nicht völlig abgeschrieben. Er sieht einen Weg auch für sie. Dabei gehörten seine Gemeindeangehörigen sicher noch nicht zur wirklichen Oberschicht und zu den Superreichen des Römischen Reiches. Aber offenbar hatten viele von ihnen so viel, dass sie gut leben konnten. Da stellte sich die Frage, wie sie trotz ihres Besitzes – oder mit ihrem Besitz – so leben konnten, dass es der Option Jesu für die Armen entsprach.

Wege zu einem solidarischen Leben

Für Lukas ist Jesusnachfolge nicht von einem gerechten Umgang mit dem Besitz zu trennen. Wie solch ein gerechter und solidarischer Umgang mit dem Besitz aussehen könnte, dafür legt Lukas seinen Leser:innen zwei Wege vor:

Der eine Weg ist der eines völligen Besitzverzichtes:

«Verkauft euren Besitz und gebt Almosen! Macht euch Geldbeutel, die nicht alt werden! Verschafft euch einen Schatz, der nicht abnimmt, im Himmel, wo kein Dieb ihn findet und keine Motte ihn frisst! Denn wo euer Schatz ist, da ist euer Herz.» (Lukasevangelium 12,33–34; vgl. 14,33; 18,22)

Zu Beginn der Apostelgeschichte zeigt Lukas, wie dies in der Jerusalemer Urgemeinde verwirklicht wird (Apostelgeschichte 2,44–45; 4,34–35): Wer Besitz hat, verkauft diesen und stellt ihn den Aposteln und damit der ganzen Gemeinde zur Verfügung. Dass dies nicht immer in idealer Weise geschieht, zeigt das verstörende Beispiel von Hananias und Saphira, die etwas von dem Erlös für sich selbst auf die Seite legen – wiederum mit drastischen, nämlich: tödlichen Folgen (Apostelgeschichte 5,1–11).

Lukas zeigt daneben aber auch noch einen zweiten Weg: Wer mehr als die anderen besitzt, kann sein Eigentum so einsetzen, dass auch andere davon leben können. Konkret: Besitz wird geteilt. Damit ist sichergestellt, dass die Bedürftigen in der Gemeinde unterstützt werden, gleichzeitig aber die Wohlhabenderen ihre eigene Lebensgrundlage behalten und der Gemeinde nicht nach kurzer Zeit ebenfalls zur Last fallen.

Ein solcher solidarischer Umgang mit dem Besitz wird zum Beispiel von den Frauen in der Nachfolge Jesu verwirklicht, von denen gesagt wird, dass sie die Jesusgemeinschaft mit ihrem Vermögen unterstützen (Lukasevangelium 8,3). Ein anderes bekanntes Beispiel ist der Oberzöllner Zachäus, der nach der Begegnung mit Jesus beschliesst:

«Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wenn ich von jemandem zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.» (Lukasevangelium 19,8)

Und Jesus sagt ihm zu:

«Heute ist diesem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.» (Lukasevangelium 19,9)

Abstieg und Aufstieg

Gutes Leben für alle

Lukas sieht also durchaus noch eine Chance für die Reichen. Er knüpft sie aber daran, dass die Reichen solidarisch mit den Armen leben. Nur so kann für Lukas Jesusnachfolge glaubwürdig praktiziert werden.

Die eindringlichen Appelle des Lukas gelten bis heute. Nicht alle, die dies lesen, werden sich als «reich» bezeichnen. Für alle gibt es aber vielfältige Möglichkeiten, solidarisch zu leben, im Kleinen ebenso wie im Grossen. Vieles wird schon getan, von Einzelnen und Gruppen ebenso wie von Kirchgemeinden und der Gesamtkirche. All das gilt es zu unterstützen und fortzusetzen, so lange, bis Lazarus mit am Tisch sitzt und jetzt schon Leben in Fülle erfahren kann. Dies bedeutet nicht zuletzt Glück und gutes Leben für alle – auch und gerade für diejenigen, die die Mittel haben, um vorhandene Ungleichheiten auszugleichen.

  1. Zum Lukasevangelium vgl. ausführlich Sabine Bieberstein: Jesus und die Evangelien (Studiengang Theologie II,1), Zürich 2. Aufl. 2021, S. 199–269.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Grenzenlose Solidarität, Unsplash @leipzigfreetours / Bilder: Mario Macilau: Growing on Darkness (2012–2015), Kunstbiennale Venedig, Pavillon Santa Sede (Vatikan) 2015. Fotos: kr.

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