Krisen haben, so schrecklich und bedrohlich ihre Auswirkungen für uns Menschen sind, eine ganz besondere Eigenschaft: Sie erlauben plötzlich und oft unerwartet einen freien Blick auf Fehlentwicklungen, Versäumnisse oder sogar schuldhafte Verstrickungen. Das Wahren des schönen Scheins und gegenseitiges Schulterklopfen machen in einer Krise für einen Moment Platz für eine realistische Bestandsaufnahme und einen nüchternen Blick auf sich selbst, andere Menschen und die Welt als Ganzes. Krisen können auch Wendepunkte werden – sie fordern dazu heraus, bisherige Massstäbe und Haltungen kritisch zu hinterfragen und zu verändern.
Familienkrisen oder persönliche, biographische Krisen können wir dabei genauso weltumstürzend erleben wie die «grossen», globalen Krisen. Diese haben als «Weltwirtschaftskrise», «Klimakrise» oder auch als «Krise der Demokratie» deshalb Eingang in das allgemeine Vokabular gefunden, weil sie auf die eine oder andere Art die ganze Menschheit betreffen. Unser aktuelles Denken und Handeln wird zu einem grossen Teil von der Corona-Pandemie und dem russischen Angriff gegen die Ukraine bestimmt, die beide ihrerseits grosse weltweite Krisen ausgelöst haben – und das nicht zuletzt in einem Bereich, der alle Menschen gemeinsam betrifft: «Arbeit».
In der global vernetzten Wirtschaftswelt sind Industrien darauf angewiesen, Rohstoffe, Waren und Dienstleistungen schnell und ungehindert erhalten und überall hin liefern zu können. Wenn nun wegen der Corona-Pandemie die Lieferketten zusammenbrechen, weil Häfen nicht mehr arbeiten können, oder wenn nun wegen dem Krieg in der Ukraine zwei der wichtigsten Rohstoff- und Nahrungsmittelproduzenten ausfallen (das eine Land als Kriegsopfer, das andere als Ziel von Sanktionen), dann sind die Arbeitsmöglichkeiten und nicht zuletzt die Lebensbedingungen von Millionen Menschen weltweit existenziell bedroht. Die aktuellen Beispiele aus den Medien sind eindrücklich: Weil in der Ukraine keine Kabelbäume für Autos hergestellt werden können, stehen in Wolfsburg die Bänder bei VW still, mit Auswirkungen auf den Dienstleistungsbereich der ganzen Welt, weil viel weniger Autos verkauft werden können. Es wird einem schwindelig von den drohenden Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen und ihre Familien weltweit.
In der Schweiz sind wir von entsprechenden Entwicklungen bislang mit viel Glück, effektiven wirtschaftsunterstützenden Instrumenten wie Kurzarbeit oder Notfallkrediten und einem weitgehend stabilen politischen Umfeld noch verschont geblieben. Das eine aber ist die durch die Krise gebotene Unterstützung der Arbeitswelt, um den überlebensnotwendigen Wirtschaftskreislauf aufrecht zu erhalten, das andere aber ist das deutliche Signal durch die Krisen an uns Menschen, eine neue Sensibilität für die Relevanz von Arbeit entwickeln zu müssen. Die beiden globalen Krisen machen nämlich deutlich, welchen unabdingbaren Wert die Arbeit in ihren vielfältigen Gestalten – dazu gehören selbstverständlich auch die Familienarbeit oder die ehrenamtliche Arbeit! – eigentlich hat.
In den letzten Jahren hatte sich demgegenüber schon vielerorts so etwas wie eine gewisse Geringschätzung der Arbeit entwickelt. Mit der weiteren Entwicklung künstlicher Intelligenz und neuen autonomen Fabriken (Schlagwort: Industrie 4.0) glaubten einschlägige Fachzirkel, körperliche Arbeit oder solche mit ständig wiederkehrenden gleichartigen Aufgaben immer weiter zu automatisieren und dadurch reduzieren zu können. Sinnvollerweise wäre es jetzt an der Zeit, so die häufig zu hörende Ansicht, schon einmal für eine schöne neue Welt mit viel Freizeit zu planen.
Die Studien zu den psychischen Auswirkungen des Lock-Downs während der ersten Phase der Corona-Pandemie zeichnen hingegen ein anderes Bild vom Menschen: Für viele ist eine selbst gewählte Arbeit, in der man seine Wirksamkeit beweisen kann, für die Selbsterfahrung von Sinn und von Identität ein äusserst wichtiger Bestandteil. Fehlt aufgrund äusserer Einflüsse die Möglichkeit zu arbeiten, dann geht häufig auch ein bedeutender Bestandteil des Selbstwertgefühls verloren, das durch andere Tätigkeiten nicht so leicht zu ersetzen ist. Menschen lieben das Gefühl, gebraucht zu werden und für andere nützlich zu sein.
Die Frage des Wertes von Arbeit für den Menschen ist übrigens – wie könnte es bei so einem zentralen Menschheitsthema auch anders sein – eine ganz alte. Die Bandbreite in der Bewertung von Arbeit ist gleichermassen gross: In der griechisch-römischen Welt der Antike galt die körperliche Arbeit wenig und wurde hauptsächlich den Sklavinnen und Sklaven überlassen; die Bürgerinnen und Bürger Athens und Roms widmeten sich lieber anderen, vorrangig musischen Geschäften. Einige Philosophen lassen zwar eine gewisse Zuneigung zu geschickten Handwerkern erkennen – z. B. Aristoteles –, aber ihr Urteil über die Arbeit ist im Allgemeinen nur dann positiv, wenn es sich um geistige Arbeit handelt.
In der Welt der Bibel ist die Arbeit hingegen ab dem ersten Buch, der Genesis, ein notwendiger Grundbestandteil menschlicher Existenz. Es gehört einfach dazu, dass der Mensch vom Erdboden alle Tage seines Lebens «unter Mühsal» (Gen 3,17) essen wird; denn wer wie Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis genascht hat, ist zwar nun in die Freiheit gerufen, muss sich aber auch aktiv um seinen Lebensunterhalt bemühen. Darin unterscheidet sich der Menschen von der Tier- oder Pflanzenwelt: Er lebt nicht instinktgesteuert oder je nach Sonnenstand, sondern er muss sich immer wieder neu für seine Arbeit entscheiden. Und wie Gott ist der Mensch aufgrund seiner Freiheit in der Lage, Arbeit aufzuschieben oder zu unterbrechen, nach der Devise: Mach’s wie Gott, nimm Dir einen schöpferischen Ruhetag! Arbeit ist Neuschöpfung, und damit ahmt der Mensch gleichsam Gott nach. Die Bibel kennt deshalb auch keinen Gegensatz und keine unterschiedliche Wertigkeit von geistiger und körperlicher Arbeit, jeder Mensch soll fleissig (!) die Aufgabe übernehmen, die ihm sein Platz in der Welt gibt. Dabei gilt aber auch stets: «Der Segen des Herrn macht reich, / eigene Mühe tut nichts hinzu.» (Spr 10,22).
Die Wertschätzung der Arbeit setzt sich im Neuen Testament fort: Die Jünger Jesu, ja Jesus selbst: Alles Handwerker aus der (unteren) Mitte der damaligen Gesellschaft. Bauhandwerker, Fischer, Netzmacher, sogar ein Zöllner ist dabei. Selbst Paulus, der immer wieder als der erste Theologe des Christentums bezeichnet wird, hatte handwerkliche Fähigkeiten, die er mit seiner missionarischen Tätigkeit verknüpft: Die Apostelgeschichte (Apg 9,13) berichtet davon, wie er in Korinth bei Aquila und Priscilla wohnt und arbeitet, die wie er Zeltmacher sind. In seiner freien Zeit ist er mit dem Aufbau der Gemeinde beschäftigt, der er allerdings, darauf ist er stolz, durch seine eigene Tätigkeit nicht auf der Tasche liegen muss. Paulus sieht seinen eigenen Arbeitsfleiss gewiss auch exemplarisch, denn er sorgt sich um das Bild, das seine Gemeinden in einer oft missgünstigen Umwelt abgeben.
Doch die Bibel und vor allem das Neue Testament relativieren den Sinn der Arbeit auch. Arbeit ist dann gut und förderlich, wenn sie das Menschliche im Menschen und das Zusammenleben fördert, aber nicht um ihrer selbst Willen betrieben wird. Arbeit als Dienst am Mammon lehnt die Bibel, lehnt insbesondere Jesus ab. Davon zeugen bekannte Begegnungen und Gleichnisse (Lk 10,38-42 oder 12,16-21).
Um wieder auf die Krisen zurückzukommen und die sich durch sie bietende Möglichkeit, ein Urteil über den künftig einzuschlagenden Pfad zu fällen: Es wäre gerade heute und im Angesicht der genannten Krisen an der Zeit, sich ernsthaft Gedanken darüber zu machen, welchen Stellenwert «Arbeit» in unserer Welt und in unseren Gesellschaften haben soll. Wie können wir sie gestalten, damit sie wirklich lebensdienlich ist und das Selbstwertgefühl von Menschen steigert? Wie können ihre schädlichen Auswirkungen minimiert werden? Wie können wir alle gemeinsam weiter an einer Welt arbeiten, die für alle Menschen lebenswerter und gerechter wird? Wie kann und muss unsere Arbeitswelt gestaltet werden, damit Krisen globalen Ausmasses auch vermieden werden können?1
- Bildnachweise: Titelbild: Arbeit schändet, Georg Scholz. Aquarell/Zeichnung, 1921. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Bild 1: Die Steinklopfer, Jean Désiré Gustave Courbet. Öl auf Leinwand, 1849. Galerie der Neuen Meister Dresden / Bild 2: Die drei Philosophen, Giorgione. Öl auf Leinwand, 1508-1509. Kunsthistorisches Museum Wien / Bild 3: Mittagsruhe nach Millet (la Sieste), Vincent van Gogh. Öl auf Leinwand, 1890-1891. Musée d’Orsay Paris. Alle Bilder: Wikimedia
Kommentare
Noch kein Kommentar