«Lasset die Kinder zu mir kommen»

«Da brachte man Kinder zu ihm, damit er ihnen die Hände auflegte und für sie betete. Die Jünger aber wiesen die Leute zurecht. Doch Jesus sagte: Lasst die Kinder und hindert sie nicht, zu mir zu kommen! Denn Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich. Dann legte er ihnen die Hände auf und zog von dort weiter.» (Matthäusevangelium 19,13-15)

Dieses Wort von Jesus, das wir ausserdem auch in den Evangelien nach Markus (Markusevangelium 10,13-16) und Lukas (Lukasevangelium 18,15-17) finden, gehört sicher zu den bekanntesten und beliebtesten aus dem Neuen Testament. Die Botschaft: Alle dürfen zu Jesus kommen, auch die Kleinsten der Kleinen, und um seinen Segen bitten. Bis heute wird diese Stellungnahme Jesu für die Kleinsten deshalb auch als Begründung dafür herangezogen, Säuglinge und Kleinkinder zu taufen. Die genannte Stelle lässt dabei nicht ganz klar werden, warum die Jünger die Begleitpersonen der Kinder zurechtweisen, aber vielleicht ist es so laut, bunt und chaotisch geworden, wie es durch Kinder gerne wird. Blättert man im Evangelium nach Matthäus etwas zurück, bietet sich im Zusammenhang mit Matthäus 18,1-5 auch eine weitere, interessante Lesart an. Dort streiten, sehr zum Verdruss von Jesus, die Jünger um ihre Rangfolge – was, wie wir von zahlreichen Äusserungen Jesus wissen, seiner Botschaft vom Reich Gottes und den damit verbundenen Zugangsvoraussetzungen («Die letzten werden die ersten sein») vollkommen widerspricht. Während dieser Jünger-Rangelei um die ersten Plätze setzt nun Jesus zum allgemeinen Erstaunen ein Kind in die Mitte und sagt dazu: «Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Grösste.»

Bei Menschen zählt, wer als erstes ins Ziel einläuft.

Kinder bringen also offenbar Eigenschaften oder Fähigkeiten mit, die sie für Jesus von den Erwachsenen qualitativ unterscheiden. Kurz gesagt entlang der Worte Jesu: Kinder zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie in ihrem Hier und Jetzt leben und sich dabei nicht grösser machen, als sie sind. Denn wer in der Gegenwart lebt, ist sensibler für seine Umgebung und die Bedürfnisse anderer Menschen. Mit den Erfolgssehnsüchten, idealisierten persönlichen Zielen und emsig-ehrgeizig verfolgten Lebensplänen der Erwachsenen – dargestellt an den Jünger – geht aber scheinbar genau jene wichtigen kindliche Eigenschaft verloren, die das Tor zum Reich Gottes öffnet. Andere Menschen erscheinen für Erwachsene oft nur noch als Zahnräder, die man zum Betreiben der eigenen Lebensmaschinerie am Laufen halten und ab und zu ölen muss. Die Gefahr: Mitmenschen werden als blosse Zwecke für die eigenen Vorhaben und Strategien genutzt. Jesus Anliegen bei beiden Stellen ist also eigentlich ein grundlegend ethisches: Es geht darum, im akuten Jetzt und in der wirklichen Wirklichkeit zu leben, und kein aufgeblasenes Ego in der Öffentlichkeit zu präsentieren, das aus nichts besteht als heisser Luft und luftigen Plänen. «Sich so klein zu machen, wie ein Kind» könnte hier also richtigerweise gelesen werden als: «Sich und seine Umwelt so zu erfassen wie ein Kind, sensibel und in alle Richtungen offen». Oder: Sei, was Du bist, und versuche Dich nicht zu überhöhen! Wir kommen später darauf zurück.

Diese hohe Wertschätzung des Kindes, die nicht unbeträchtlich zur Attraktivität des Christentums beigetragen hat, kommt bei Jesus nicht von ungefähr. Er greift damit Fäden der Kinderliebe wieder auf, die von Beginn an in die Geschichte des Volkes Israel eingewoben sind und sich in den zentralen Texten des Alten Testaments zeigen. Die Entstehung des Volkes Israel wird dort, anders als bei den mächtigeren Nachbarn, nicht als heroische Abfolge von Schlachten geschildert, in der mythische Halbgötter die künftige Hauptstadt erobern und dabei noch das Königsgeschlecht gründen. Nein, das Alte Testament beginnt wie ein Familienroman. Das Volk nimmt hier Gestalt an in einer Abfolge von Geschichten von Frauen und ihren Männern, von Schwangerschaften, von Geburten oder auch von Unfruchtbarkeit (Genesis 12-50). Kinder sind in der mythischen Urgeschichte die einzige Garantie dafür, dass der Kampf dieses Volkes Israel um seinen ganz unwahrscheinlichen Platz in der Weltgeschichte nicht durch Dürren, durch Hunger oder Krieg beendet wird. Entsprechend sind Kinder für das Volk Israel nicht einfach nur das natürliche Ergebnis der Ehe von Mann und Frau, sondern sie sind der sichtbare Erweis der fortwährenden göttlichen Zuwendung zu seinem Volk, die sich auch an der «Fruchtbarkeit» des Landes und seiner Tiere ablesen lässt. Kinder sind Geschenke Gottes. Mütter, Väter und ihre Kinder sind gemeinsam die Gründer:innen Israels – und in seinen Gebeten und Liedern dankt Israel seinem Gott für reichen Kindersegen (Psalm 139,13-16), der natürlich auch die sozioökonomische Zukunft im Alter und bei Krankheit sichert.

Stellen wir uns dagegen mit den Müttern und Vätern der Urgeschichte des Volkes Israels einmal vor, es würden auf der Erde keine Säuglinge mehr geboren und Kinder leben. Wie würden wir damit umgehen, dass sich die Tür zu jeder Zukunft für die Menschheit in absehbarer Zeit verschliesst, dass jeder höhere Lebenssinn abseits der eigenen Existenz verloren geht? Geradezu unvorstellbar traumatisch – und doch die düstere Ausgangslage eines der eindrücklichsten Filme der letzten Jahre, «Children of Men». Er erzählt von einer Weltgesellschaft, die wegen einer solchen Kinderlosigkeit – deren Ursache nicht erklärt wird! – zusehends in Gewalt, Schwermut und Melancholie versinkt. Dann, plötzlich, geschieht das Wunder: Der Protagonist des Films, Theo (!), kommt in Folge einiger spannender Verwicklungen dazu, auf die erste schwangere Frau seit 19 Jahren achten zu müssen und sie auf ihrem gefahrvollen Weg zur Geburt ihres Kindes zu begleiten… Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, aber schauen Sie diesen Thriller bitte nur, wenn Sie starke Nerven haben!

Der Film will einerseits unterhalten, aber es gelingt ihm andererseits mit seiner ungewöhnlichen Ausgangslage hervorragend, die existenzielle Bedeutung von Kindern auch für unsere heutige Zeit nachvollziehbar werden zu lassen. Denn wir vergessen allzu leicht, dass Kinder heute wie zur Zeit der Bibel die letztlich einzige Garantie für unsere Zukunft als Spezies sind. Im Zeitalter einer immer noch (zu) rasch ansteigenden Erdbevölkerung muss man sich wahrscheinlich nicht unmittelbar Gedanken darum machen, dass morgen plötzlich keine Kinder mehr gezeugt und geboren werden. Aber Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder die seit Jahren sich immer weiter verschlechternde Spermien-Qualität bei Männern weltweit führen uns vor Augen, dass gefühlte Sicherheiten der Gegenwart schon morgen geliebte, aber längst verblasste Erinnerungen sein können. Zudem: Auch die heutige Fortpflanzungstechnik ist bei allen möglich gewordenen Wundern noch nicht bereit dazu, das echte Wunder des Lebens durch technische Verfahren zu ersetzen. Auch wenn sich längst künstliche Gebärmuttern in der Entwicklung befinden, geben selbst die technikgläubigsten Wissenschaftler zu, dass es bis zu ihrer Marktreife noch ein sehr langer Weg ist. Nein, auf absehbare Zeit ist die Menschheit darauf angewiesen, dass Frauen zum Abenteuer des Lebens «ja» sagen und eine schön-beschwerliche, oft auch gefährliche Reise auf sich nehmen.

Heutzutage ist das Kinderkriegen hochtechnologisiert

Kommt ein Kind auf die Welt, eröffnen sich damit weitere Facetten seines Daseins, die auch in der Bibel immer mitgedacht werden: Kinder sind in unseren mitteleuropäischen Gesellschaften eine eminent gesellschaftspolitische Angelegenheit. Die Veröffentlichung der durchschnittlichen Geburtenrate (in der Schweiz liegt sie in den letzten Jahren bei durchschnittlich ungefähr 1,5 Kindern pro Frau) wird jedes Jahr mit grosser Sorge erwartet, lassen sich daraus doch Rückschlüsse auf die Zukunft der gesamten Sozialsysteme ziehen. Die künftige Finanzierung der AHV, die Entwicklung des Arbeitsmarktes in wenigen Jahren, letztlich die Entwicklung der ganzen Volkswirtschaft – all dies ist auch eine Frage der gesellschaftlich «passenden» Kinderzahl. Seit biblischen Zeiten gilt die Einsicht: Ohne Kinder sind soziale Sicherungssysteme nicht überlebensfähig. Kinder sind nicht nur die Zukunft, sie haben die Aufgabe und Last, die Zukunft früherer Generationen zu sichern.

Doch mit der Kinderzahl endet der gesellschaftliche Diskurs um das Kind und seine künftigen Aufgabenlasten noch nicht. Das Bildungssystem hat seine Vorstellung von Kindern und einer opportunen Bildungskarriere ebenso wie das Gesundheitswesen seine Vorstellungen von einem durchschnittlich «gesunden» Kind hat, das als «Standard» gilt. Und wer Kinder aufzieht und erzieht, weiss natürlich, dass auch Eltern ihre Kinder durch eine Brille vielfältig sich überlagernder Vorstellungen aus gesellschaftlichen, politischen und auch verwandtschaftlichen Erwartungen sehen.

In der Covid-Pandemie fanden Bildung und Erziehung am selben Ort statt.

Erst seit den 1970er Jahren beschäftigt sich die sozialgeschichtliche Forschung im engeren Sinne mit der Kindheit und hat dabei herausgefunden, dass diese genannten Kinder-Vorstellungen in höchstem Masse von der Kultur abhängen, in die ein Mensch hineingeboren wird. Noch bis vor wenigen Jahrhunderten gab es in Mitteleuropa beispielsweise keine Vorstellung einer eigenständigen Phase der «Kindheit»: Kinder wurden als kleine Erwachsene wahrgenommen, trugen «erwachsene» Kleidung entsprechend ihres Standes und arbeiteten selbstverständlich im familiären Umfeld entsprechend ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten mit. Den Leuten war natürlich durchaus bewusst, dass Kinder in beiden Fähigkeitsbereichen noch nicht Erwachsene im Vollsinne waren. Aber es wurde ihnen eben auch kein Eigenbereich «Kindheit» mit eigenen Freiheiten und Möglichkeiten zugestanden. In den entstehenden Schulen war auch das Konzept einer altersgerechten Bildung noch unbekannt, siebenjährige konnten neben siebzehnjährigen unterrichtet werden. Im Vordergrund stand bei der Erziehung von Kindern bis in die jüngste Zeit und quer durch alle Kulturen, dass die Kinder das von ihren Eltern oder Bezugspersonen nachahmen sollten, was sich in der Vergangenheit als brauchbar und für den Lebenserfolg sinnvoll erwiesen hatte. Das galt für alle Lebensbereiche, von der Berufswahl, über die Stellung in der Gesellschaft und das dazugehörige Verhalten bis hin zur richtigen Ausübung der Religion und der Frömmigkeit.

Heute dagegen steht die Kindheit in Gefahr, zwischen den rosa-blauen Polen einer heilen Welt und starken ökonomischen Überlegungen zerrissen zu werden: Ist das Kind schlau genug für einen ordentlichen Beruf, der auch bei den Nachbarn für Renommee sorgt? Ist Frühförderung für es notwendig? Hat es musische oder künstlerische Fähigkeiten, die ihm später im Lebenslauf oder sogar bei der Partner:innenwahl helfen werden? Ist es der gesellige Typ und sollte Fussball spielen, oder, oder, oder. Ein Kind ist nicht einfach nur ein Kind – sondern allein deshalb, weil es ein Kind ist, sind mit ihm vielfältige Erwartungen und Hoffnungen verknüpft, auf die es reagieren muss.

Die Unbeschwertheit eines Kindes

Hier schliesst sich nun wieder der Kreis zur eingangs geschilderten Kinderliebe Jesu, die vor diesem Hintergrund nun ein noch stärkeres Profil erhält. Die Ermahnung Jesu, sich den Blick des Kindes auf die Welt zu erhalten, kann auch so gelesen, dass auch wir Kinder mit dem richtigen Blick sehen sollten. Kinder sind die Zukunft der Menschheit, aber sie sind vor allem ihre eigene Zukunft. Als Erwachsene tun wir in gleicher Weise gut daran, Kinder nicht als Sinnspender für unser Leben oder gar als Versicherung für unsere Sozialsysteme zu missbrauchen, sondern als ethische Vorbilder im Sinne Jesu. Damit wir selbst immer wieder daran erinnert werden, im Hier und Jetzt zu leben, unsere Umwelt unmittelbar wahrzunehmen und unsere Egozentrik zu verlassen. Weil das niemand so gut und lebensfroh kann wie ein Kind.1

  1. Bildnachweise: Titelbild: vanda lay / photocase.de / Bild 1: Zieleinlauf Gewinner Padova Marathon 2018. Unsplash@peterampazzo / Bild 2: Lachende Kinder sind am spielen. Unsplash@phammi / Bild 3: Ein 34 Wochen altes Frühchen in einem Isoletten-Inkubator mit Sauerstoff. Unsplash@sharonmccutcheon / Bild 4: Kinder gehen während der Covid-Pandemie zuhause zur Schule. Unsplash@jessicalewiscreative / Bild 5: ein Kind schwingt lachend auf einer Schaukel. Unsplash@ohhbee

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