Der Advent: die Anti-Zeit

In der Physik steht der kleine Buchstabe t für die Zeit. Diese lässt sich messen, abschätzen, herleiten – und dennoch bleibt die Vorstellung davon oft unermesslich. Stets beginnt unser Kirchenjahr mit dem Advent. Eingebettet in den Zeitenlauf ist er dennoch aus der Zeit gefallen.

t – in der Physik steht dieser Buchstabe für die Zeit (time). t ist nur ein kleiner, unscheinbarer Buchstabe, aber ein fundamentaler Bestandteil der Formeln, die die physikalischen Zusammenhänge in unserem Universum beschreiben. Um die Geschwindigkeiten aller Dinge, ja selbst des Lichtes zu bestimmen: t ist Voraussetzung dafür.

t ist selbstverständlich wissenschaftlich exakt bestimmt (um Ihren Wissensdurst zu stillen: eine Sekunde ist das Vielfache der Periode einer Mikrowelle, die mit einem ausgewählten Niveauübergang im Cäsiumatom in Resonanz ist), und jedes Schuldkind lernt den Zusammenhang von Sekunden, Minuten, Stunden, Jahren und Jahrhunderten genau kennen.

Die Zeit liebt uns nicht

Wir Menschen erfahren praktisch von den ersten Sekunden unserer Existenz an, dass t unser Dasein bestimmt. Neun Monate dauert es im Normalfall bis zu unserer Geburt, es folgt ein Leben von null bis heute durchschnittlich 31‘280 Tagen als Frau, und 29‘784 Tagen als Mann. t ist der Taktgeber, der unsere Tage in Einheiten unterteilt, in «Arbeit» und «Freizeit» auftrennt, in «Wachen» und «Schlafen». t erschliesst unsere Lebenszeit im Kleinen wie die des ganzen Universums im Grossen: Vor dem Beginn unserer Existenz sind schätzungsweise 14,7 Milliarden Jahre seit dem Urknall vergangen, nach unserem Tod vergeht eine unvorstellbare Zahl an Jahren, bis das Universum seinen letzten Energiegehalt verliert (laut aktuellen Theorien müssen Sie sich dazu eine Zahl mit 32‘000 Stellen vorstellen). Das ist alles so unermesslich, dass die Frage nach dem «Sinn» unseres Daseins nahe liegt, jedenfalls angesichts unserer verschwindend geringen Lebenszeit im Verhältnis zu der des Universums.

 

Zusätzliche Brisanz erhalten diese unermesslichen Zahlen dadurch, dass nach heutigem Wissensstand ausschliesslich Menschen ein abstraktes Bewusstsein für die Zeit t entwickelt haben. Wir sind die einzige Spezies, die in die Vergangenheit schauen kann, in einer bewusst erlebten Gegenwart lebt und diese immer vom Wissen her gestaltet, dass es auf absehbare Zeit noch eine Zukunft geben wird. Wenn wir heute für unsere Kinder einen Weinstock pflanzen, dann in der Hoffnung, dass noch deren Kindeskinder davon Trauben naschen dürfen. An der Zeit orientierte Planung ist typisch menschliches Verhalten.

Allerdings liebt t uns Menschen nicht. Diese bisweilen bittere Erfahrung machen wir schon früh im Leben. Wir erleben die Zeit entweder als zu lang oder als zu kurz, als unausweichlich oder sogar als feindlich. Das Bewusstsein der eigenen Zeitlichkeit wie auch der Zeitlichkeit der Dinge ist vielleicht das grösste menschliche Schicksal. Weil das so ist, ist die Zeit auch in den grossen Religionen, die ja immer auch die menschliche Existenz zu deuten versuchen, ein zentrales Thema. Überraschend und äusserst bemerkenswert ist dabei, was für ein zwiespältiges Verhältnis zur Zeit das christlich-jüdische Denken als unsere wichtigste kulturelle «Zeitagentur» hat.

Die gottgewollte Zeit

Informieren wir uns in der Bibel über die Herkunft der Zeit, ist die Sache zunächst klar: Die Zeit ist laut dem Buch Genesis das gewollte und bewusste Ergebnis des göttlichen Schöpfungshandelns. Das ist auch nachvollziehbar, denn wenn es nur einen Gott gibt, dann muss dieser für alle Aspekte der Schöpfung – und eben auch die Zeit – willentlich verantwortlich sein. Also: Zeit ist eine göttliche Schöpfung, ebenso wie ihre in der Bibel ausführlich erläuterte Grundstruktur. Auf sechs Tage Arbeit folgt ein Ruhetag. Ein Festkalender unterteilt das Jahr, alle fünfzig Jahre feiert man ein Jubeljahr, in dem Schuldenerlass und Besitzausgleich für alle Israeliten geboten sind.

 

Allerdings ist es mit der Zeit wie mit der Schöpfung insgesamt: Gott ist ihr Urheber, aber was alles konkret in der Zeit geschieht – das legt er nicht so genau fest. Diese Erfahrung macht das Volk Israel, das einen kleinen Landstreifen in der Aufmarschzone verschiedener Grossreiche bewohnt, schnell. Die Zeit bringt für das Volk nicht stetige Entwicklung und Wohlstand, sondern immer wieder Verheerung und Tod. t mag zwar göttlichen Ursprungs sein, geprägt wird sie aber von den Eliten und den Mächtigen dieser Welt. Fairness oder irgendeine Form «höherer Gerechtigkeit» ist da logischerweise nicht zu erwarten. Aus den Geschichten der Bibel spricht damit ein tiefer Realismus gegenüber der Zeit; besteht Gelegenheit für die Durchsetzung eigener Interessen, wird sie dafür normalerweise auch genutzt. Obwohl sie von Gott geschöpft ist, hat damit t auch in der Bibel eher den Charakter einer physikalischen Ordnungseinheit, die an sich keinen «Wert» hat und kein «Heilsversprechen» in sich trägt.

Das Ende von allem

Diese schicksalhafte Erfahrung der Zeit wird für das Volk Israel aber schliesslich zum Ausgangspunkt einer erstaunlichen Entwicklung: Es bildet sich immer stärker der Glaube aus, dass Gott ein «Ende der Zeiten» vorgesehen hat, an dem er sich – endlich! – in seiner Macht und Herrlichkeit offenbaren wird. Im Buch Daniel wird die Hoffnung auf diese göttliche Endzeit in grossen, apokalyptischen (= offenbarenden) Bildern geschildert. Von vier aufeinander folgenden Tiermonstern wird dort berichtet, sie symbolisieren die bösartigen Grossreiche, die die gute Schöpfung durch ihren Machtmissbrauch deformieren. Doch irgendwann ist die göttliche Geduld zu Ende, es «kam mit den Wolken des Himmels einer [der aussah] wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.» (Dan 7,13f). Die Zeit t, so verspricht das Buch Daniel, wird sich mit dem Eingreifen Gottes und durch sein Gericht zu einer ewigen Heilszeit tHeil verwandeln.

 

Die Heilszeit

Der Begriff Menschensohn lässt aufhorchen. Denn niemand anderes als Jesus spricht in den Evangelien immer wieder davon, was die Aufgabe des «Menschensohns» ist und sein wird. Für seine Jünger:innen ist die Sache bald klar: Jesus selbst ist dieser Menschensohn, er ist derjenige, der die neue und ewige Heilszeit durch sein Leben und Wirken anbrechen lässt. Nach seinem Tod am Kreuz und mit der Überzeugung, dass er von Toten erstanden ist, wird diese Einsicht immer stärker: Diejenigen, die Jesus nachfolgen, leben bereits hier und heute im angebrochenen Reich Gottes. Mit dieser Überzeugung verändert sich aber auch die Qualität der Zeit grundlegend. Die physikalische Zeit t existiert weiterhin, aber die Heilszeit tHeil ist für Christ:innen unwiderruflich angebrochen und wird irgendwann in einem unbestimmten Punkt die alleinig relevante Zeit werden. Die «Offenbarung des Johannes» entwirft mit dem «Neuen Jerusalem» einige prachtvolle Bilder, wie wir uns das vorstellen können.

Und der Advent?

Hand aufs Herz, tHeil spielt in unserem Alltag oft nur eine kleine Rolle. Wir sind schon froh, wenn wir mit den Herausforderungen der normalen Zeit t einigermassen fertig werden. Im Kirchenjahr gibt es aber einen Zeitabschnitt, der uns für die bereits angebrochene Zeit tHeil besonders sensibilisieren möchte: Den Advent. Seine «Aufgabe» ist es, uns in jährlicher Wiederholung vor Augen zu führen, dass wir bereits anfangshaft in einer Heilszeit leben – einer Heilszeit, die ein kompletter Gegenentwurf zu unserer «normalen» physikalischen Zeit t ist. Als «Anti-Zeit» sollten wir den Advent neu verstehen lernen als Chance und als Weckruf an uns selbst: Die Zwänge der Zeit leichter zu nehmen und unseren Fokus neu auszurichten. Und zwar darauf, unsere Zeit nicht an ihrer Quantität zu messen, sondern an ihrer Qualität: Dass unsere Zeit sinnvoll, schön und segensreich für uns selbst und für andere gleichermassen sein möge.1

  1. Titelbild: Vergänglichkeit, leerer Schein. Pieter Claesz: Vanitas-Stillleben mit Truthahnpastete, 1627, Rijksmuseum Amsterdam. / Bild 1: Grafik: Moderner verdrehter Buchstaben «t». / Bild 2: Die Zeit ist der Taktgeber des Lebens. Unsplash@ikukevk / Bild 3: Kalender mit eingetragenen Feiertagen. Unsplash@adders / Bild 4: Königtum in der Krippe. Unsplash@prochurchmedia.

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