«Gaudete – Freut euch!»

Am 3. Advent wird der Sonntag «Gaudete – Freut euch!», gefeiert. Doch wie wird unser Leben von mehr Freude erfüllt? Kann es überhaupt echte Freude geben angesichts von so viel Dunkelheit, Angst und Schrecken in unserer Welt?

Bestimmt gibt es ganz viele Wege, um Freude in unserem Leben zu erfahren. So unterschiedlich, wie wir Menschen sind, so unterschiedlich mögen die Wege aussehen. Aber es gibt auch allgemeinmenschliche Erfahrungen, die uns Menschen verbinden. Ich beschränke mich im Folgenden auf drei Grunderfahrungen, die mir im Glauben wichtig sind und die für mich Voraussetzungen für die Freude im Leben darstellen.

Dieses Leben als Geschenk annehmen

Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Freude im Leben zu erfahren, ist meiner Überzeugung nach, dass wir unser Leben als Geschenk annehmen lernen. Das tönt vielleicht banal, doch meistens ist es alles andere als einfach. Denn vielen Menschen erscheint das Leben nicht als Geschenk, sondern als ein Wettbewerb. Es geht schon früh darum, der Schnellere und die Bessere, der Erfolgreichere und die Schönere zu sein. Und das macht uns fast zwangsläufig unglücklich.

Unser Unglücklich-Sein erklären wir dabei häufig mit der Vergangenheit: «Wenn ich eine bessere Kindheit gehabt hätte… Wenn meine Eltern mich verstanden und gefördert hätten … Wenn ich eine andere Ausbildung hätte machen können… – dann sähe mein Leben jetzt anders aus, dann wäre ich glücklicher, dann könnte ich mich am Leben freuen.»

Das Verrückte an solchen Sätzen ist, dass sie bis zu einem gewissen Grad zutreffen! Wir wären tatsächlich andere Menschen, wenn unser Leben anders verlaufen wäre, ob glücklicher oder nicht, ist eine andere Frage. Jedenfalls tragen wir oft einen beträchtlichen Rucksack mit uns herum: manche Verletzungen und Kränkungen, nie entstandene Beziehungen, zerbrochene oder verbitterte Beziehungen, das so verbreitete Mobbing am Arbeitsplatz – all das und vieles mehr kann uns ein Leben lang belasten, kann uns die Freude am Leben nehmen. Ganz zu schweigen von katastrophalen Erfahrungen wie schweren Unfällen, Verbrechen oder Kriegen.

Brüche und Schweres gehören zu unser aller Leben. Unrecht und Leid dürfen nicht übersehen, verdrängt oder verharmlost werden. Sie können auch nicht ungeschehen gemacht werden.

Trotz allem – allem zum Trotz

Vor einiger Zeit begegnete ich einer Frau, die an Stöcken ging und sich in der Stadt eine lange, steile Treppe hinaufschleppte. Meine Frage, ob ich beim Tragen der Einkaufstasche behilflich sein könne, bejahte sie dankend. Und schon begann sie zu erzählen, sie habe diese Gehbehinderung bereits als Kind gehabt. Wahrscheinlich las sie aus meinem Blick die Frage, wie das für sie gewesen sei, nie unbeschwert gehen, hüpfen, laufen zu können. Jedenfalls erzählte sie von selbst und fröhlich weiter: «Meine Eltern sagten mir immer: Kind, dieses Leben ist dir geschenkt, kein anderes, dieses Leben. Nimm es an – und freue dich an dem, was möglich ist in deinem Leben!»

Das hat mich beeindruckt. Das Leben als Geschenk ansehen, so, wie es nun einmal ist, mit allem Hellen und trotz allem Dunkeln. Das ist eine Grundvoraussetzung, um im Leben Freude zu erfahren.

In den biblischen Schriften wird diese Grundhaltung an vielen Orten formuliert, beispielsweise in Psalm 139,14: Gott, «ich danke dir dafür, dass du mich so wunderbar und einzigartig gemacht hast! Grossartig ist alles, was du geschaffen hast, das erkennt meine Seele sehr wohl.»

Der Freude hier und jetzt Raum geben

Eine zweite wichtige Voraussetzung ist meiner Meinung nach, dass wir der Freude hier und jetzt, heute und nicht erst morgen Raum geben. Wir Menschen haben manchmal die Tendenz, die Freude auf die Zukunft zu verschieben, indem wir etwa sagen: «Wenn ich diese oder jene Arbeitsstelle bekomme, dann werde ich mit Freude zur Arbeit gehen.» «Wenn ich die rechte Partnerin / den rechten Partner finde, dann wird meine Leben mit Freude erfüllt sein.» «Wenn ich dann pensioniert bin, dann werde ich endlich Zeit haben für das, was mir Freude bereitet.» «Wenn ich einmal andere Nachbarn oder eine andere Wohnung habe, dann werde ich glücklich sein.»

Und so kann man ein ganzes Leben damit verbringen, die Freude und das, was einem Freude bereiten würde, auf die Zukunft zu verschieben.

Jederzeit

Auch in biblischen Zeiten war diese Versuchung gross, eine bessere Welt erst in ferner Zukunft zu erwarten. Anders der Apostel Paulus. Er forderte im Philipperbrief dazu auf: «Freut euch im Herrn zu jeder Zeit!» (Philipperbrief 4,1) Das meint: nicht erst in der Zukunft, sondern hier und jetzt.

Wenn wir bedenken, dass Paulus diese Worte wahrscheinlich im Gefängnis schrieb, so bekommen sie noch stärkeres Gewicht: Nicht erst, wenn Paulus aus dem Gefängnis befreit ist, will sich Paulus freuen, nicht erst dann ruft er zur Freude auf. Sondern hier und jetzt, gerade in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle. Paulus lebt damit im Vertrauen, dass Gott in Christus gerade hier und jetzt, in grösster Dunkelheit und Not mit ihm ist, ihm trotz allem und allem zum Trotz Freude schenken will.

Rythme, Joie de vivre (Lebensfreude), 1930, Robert Delaunay

Nur für heute

Eine ähnliche Glaubenshaltung prägte auch Papst Johannes XXIII. (1881–1963), der das zweite Vatikanische Konzil einberief und damit tiefgreifende Reformen in der Katholischen Kirche ermöglichte. Im fortgeschrittenen Alter und bereits schwer krank schrieb Johannes der XXIII. zehn Sätze zur Gelassenheit. Zwei dieser Sätze lauten:1

«Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen…

Nur für heute werde ich keine Angst haben. Ganz besonders werde ich keine Angst haben, mich an allem zu freuen, was schön ist – und ich werde an die Güte glauben.»

Wenn wir lernen, hier und jetzt offene Augen für das Schöne zu haben, hier und jetzt dankbar zu sein für das, was an Gutem möglich ist, dann wird trotz allem, immer wieder trotz allem auch Freude in unserem Leben einkehren.

Gott im Konkreten und im Kleinen begegnen

Viele Menschen suchen Gott im Aussergewöhnlich, im Staunenerregenden, in einem übernatürlichen Wunder, im Mirakulösen. Auch zur Zeit Jesu war das so. Im Lukasevangelium wird erzählt, dass das Volk «voller Erwartung» zu Johannes dem Täufer in die Wüste gekommen war (Lukasevangelium 3). Johannes der Täufer verkündete dort das Kommen des Herrn. Bestimmt waren die Leute voller Erwartung auf grosse Dinge: auf die Befreiung von der römischen Besatzungsmacht, auf bessere Lebensverhältnisse, auf das Ende von Krieg und Gewalt. Und sie fragten wohl aus dieser Haltung heraus: «Was sollen wir tun?»

Doch Johannes der Täufer gibt ihnen eine ganz einfache, fast lächerlich einfache Antwort: «Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat; und wer zu essen hat, der handle ebenso…» Johannes scheint damit zu sagen: So, in der ganz einfachen, konkreten Nächstenliebe wird die Menschwerdung Gottes vorbereitet.

 

Ich suchte Gott

Dies erinnert mich an die Worte jenes Menschen, der folgende Erfahrung machte:

Ich suchte meine Seele,
aber ich konnte meine Seele nicht sehen.
Ich suchte meinen Gott,
aber mein Gott entzog sich mir.
Ich suchte meinem Nächsten zu helfen in seiner Not,
und fand sie alle drei.2

Natürlich braucht es auch die Hoffnung auf Grosses, auf grundsätzliche Veränderungen, auf Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Doch diese Hoffnung, erfüllt sich zunächst immer in meinen ersten, kleinen Schritten.

Auch Johannes der Täufer kannte die Hoffnung auf die grossen, umwerfenden Dinge, er verkündete einen Stärkeren, der nach ihm kommen soll, der mit «heiligem Geist und Feuer tauft», von ihm erhoffte sich Johannes, dass er «den Spreu vom Weizen trennt», das heisst, Johannes hoffte, der verheissene Messias möge hier auf Erden mit Macht und Kraft für Ordnung sorgen.

Doch dieser «Stärkere» wird schliesslich in einer Krippe zur Welt kommen, arm und bloss, in Windeln gewickelt, als Menschenkind. Und diesem Jesuskind können wir in der Adventszeit entgegen gehen und dabei jene Freude erfahren, die der Apostel Paulus selbst in der Dunkelheit seiner Gefängniszelle erfahren hatte:

«4 Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! 5 Eure Güte werde allen Menschen bekannt. Der Herr ist nahe. 6 Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott! 7 Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in Christus Jesus bewahren.» (Philipperbrief 4,1-7)

  1. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Die_10_Gebote_der_Gelassenheit (01.12.2022).
  2. So und ähnlich häufig William Blake (1757-1827) zugeschrieben.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Pablo Picasso, Joie de vivre, Öl auf Karton 1946. Musée Picasso, Antibes. Bild: alamy / Bild 1: Podest in einem Stadion. Unsplash@floschmaezz / Bild 2: Geschenk. Unsplash@miagolic / Bild 3: Robert Delaunay: Rythme, Joie de vivre, Öl auf Leinwand 1930, Musée national d’art moderne Paris. Bild: alamy / Bild 4: Wüste in Israel. Unsplash@dmclenachan

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