Gottes Anders-Wege

Alle Jahre wieder lesen und hören wir die Geschichte von der Geburt Jesu dort im Stall von Betlehem. Und alle Jahre wieder brauchen wir sie nötiger als je zuvor: mit ihrer Botschaft von Gottes Anders-Wegen und Anders-Orten, die inmitten der Krisen und Katastrophen unserer Zeit an der verrückten Hoffnung auf Frieden und gutes Leben für alle Menschen festhält.

Was das Lukasevangelium über die Geburt Jesu erzählt, ist alles andere als idyllisch. Lukas erzählt zwar von einer lange vergangenen Zeit, damals, als Jesus geboren wurde – doch tut er dies in Auseinandersetzung mit den Verhältnissen der Zeit, mit den Mächtigen und Machtlosen und der Frage, wer der Welt und den Menschen wahrhaft Frieden und Rettung bringt. Er berichtet also nicht einfach von einer lange zurückliegenden Geburt, sondern zeigt auf, was die Geburt dieses Kindes Jesus für die Menschen und die Welt bedeutet. Dazu lässt er seine Geschichte mit den Machthabern der damaligen Zeit beginnen:

«Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erliess, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen.» (Lukasevangelium 2,1-3)

Augustus-Denar, gedruckt zwischen 19-18 v. Chr.

Kaiser Augustus regierte in den Jahren 27 v. Chr. bis 14 n. Chr. Seine Regierungszeit wird von Dichtern der damaligen Zeit wie Horaz oder Vergil als ein «goldenes Zeitalter» besungen, Inschriften und bildliche Darstellungen preisen sie als eine Zeit des Friedens und der Sicherheit, der Fülle und des Segens. Nach der schwierigen Zeit der Bürgerkriege mit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit und Not waren viele Menschen bereit, Augustus nun als denjenigen zu begrüssen, der Stabilität, Frieden und Sicherheit zurückbrachte und garantierte.

Nicht nur Augustus wurde in dieser Weise verehrt. Einige Jahrzehnte später preist der römische Dichter Calpurnius Siculus den Anfang der Regierungszeit des Nero im Jahr 55 n. Chr. als den Anbruch des goldenen Zeitalters, das Frieden, Recht und Gesetz zurückbringe, worüber sich alle Völker im Süden, Norden, Osten und Westen freuen sollten. Ein Komet lässt die Nacht erstrahlen, der Kaiser wird als Gott besungen, der die Völker und Städte regiere und den römischen Frieden bringe.

Ein Kaiser und seine Macht

Lukas selbst und die Menschen, für die er wohl in den 80er-Jahren des ersten Jahrhunderts schrieb, lebten immer noch im römischen Reich, unter der Pax Romana, dem «römischen Frieden», der in der Tat manche Vorteile für manche Leute und Regionen brachte, für viele aber ein pervertierter Friede war und Leben unter Fremdherrschaft, Gewalt und Unterdrückung bedeutete.

Die Leser:innen des Lukasevangeliums kannten auch die Vertreter der Römerherrschaft vor Ort, die Statthalter und ihre Beamten. In der Erzählung des Lukasevangeliums wird Quirinius als ein solcher Statthalter genannt. Römische Quellen belegen, dass Publius Sulpicius Quirinius im Jahr 6 n. Chr., als Judäa in die römische Provinz Syrien eingegliedert wurde, eine Volkszählung durchführen liess. Diese Zählung betraf allerdings nur Judäa, nicht jedoch Galiläa, das zum Regierungsbezirk des Herodessohnes Antipas gehörte. Eine Volkszählung und Steuerschätzung, die das ganze Reich umfasste, ist erst für das Jahr 74/75 n. Chr. belegt und könnte dem Lukas vor Augen gestanden haben, als er seine Erzählung von der Geburt Jesu schrieb.

Maria und Joseph bei der Volkszählung zur Eintreibung der Steuern vor Quirinius, Mosaik, zw. 1315-1320, ehemalige Chora-Klosterkirche Istanbul

Auch wenn die ausserbiblischen Quellen also nichts von einem weltweiten Zensus zur Zeit der Geburt Jesu wissen, fängt Lukas mit diesem Erzählmotiv doch die Realität im römischen Imperium ein und zeichnet eine bewegende Szenerie. Ein Kaiser setzt ein Geschehen in Gang, das «den ganzen Erdkreis» in Bewegung bringt und «jeden» zwingt, den eigenen Wohnort zu verlassen und sich irgendwo in Listen eintragen zu lassen. Am Anfang der lukanischen Erzählung stehen damit ein Machthaber mit scheinbar unbegrenzter Macht, und sein Stellvertreter vor Ort, der für die Durchsetzung dieser Macht sorgt.

Bibelkundige Leser:innen erinnert diese Volkszählung ausserdem an die Volkszählung, die der grosse König David einst habe durchführen lassen. Biblisch wird diese Volkszählung als die grosse Sünde Davids gewertet, die Gottes Zorn hervorgerufen und zu einer harten Strafe geführt habe (2 Samuel 24). Jetzt sind es also die römischen Machthaber, die solch einen anmassenden Frevel begehen.

Die kleinen Leute und ihre Ohnmacht

Diesen Machthabern werden mit Josef und seiner Verlobten Maria zwei Menschen gegenübergestellt, die von der Massnahme des Kaisers unmittelbar betroffen sind und keine Wahl haben, als sich den Anordnungen zu beugen:

«So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heisst; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.» (Lukasevangelium 2,4-5)

Auch die hochschwangere Maria muss sich also auf die beschwerliche Reise machen und ihr Kind dort auf die Welt bringen, wo es «keinen Platz für sie gab» (Lukasevangelium 2,7) – Erfahrungen in einer unbarmherzigen Wirklichkeit, die Flüchtende und Vertriebene bis heute machen müssen.

Damit steht in der Erzählung des Lukasevangeliums dem mächtigen Kaiser das ortlose Kind gegenüber, das im Stall geboren wird. Aufhorchen lässt allerdings, was über Josef gesagt wird: Er sei «aus dem Haus und Geschlecht Davids». Aus dem «Haus und Geschlecht Davids» soll nach den Hoffnungen Israels der Messias kommen – und er soll aus Betlehem kommen, der «Stadt Davids», in der das Kind nun geboren wird. Damit zeichnet sich ab, von welcher Brisanz diese Gegenüberstellung von Kaiser und messianischem Kind ist.

Wer ist der wahre Retter?

Die Gegenüberstellung von Kaiser und Kind wird in der folgenden Engelsbotschaft an die Hirten noch vertieft:

«Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine grosse Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.» (Lukasevangelium 2,10-11)

Diese Geburt ist also nicht irgendein unbedeutendes Ereignis, sondern eine grosse Freude für das «ganze Volk». Deshalb wird im griechischen Text das, was der Engel sagt, als «Frohbotschaften» (griechisch: euangelizesthai) bezeichnet. Der Engel hat wahrhaftig eine frohe Botschaft, ein Evangelium (griechisch: euangelion), zu verkünden. Denn dieses Kind, das «in der Stadt Davids» auf die Welt kam, ist der «Retter», der «Messias» und «Herr». Grösser und umfassender könnten die Titel kaum sein.

Es ist gewiss kein Zufall, dass hier diese Titel genannt werden; denn als «Retter» und «Herr» liess sich der Kaiser mit Vorliebe benennen, und seine «frohen Botschaften» über militärische Siege und andere Erfolge werden nicht selten als Euangelia bezeichnet. In der Erzählung des Lukas ist es aber nicht der Kaiser, der diese Titel erhält, sondern das neugeborene ortlose Kind im Stall.

Die Erkennungszeichen des Messias

Bei der Grösse der Titel, die dem neugeborenen Kind Jesus in der Engelsbotschaft zugesprochen werden, müssen die Erkennungszeichen dieses messianischen Kindes umso mehr erstaunen: ein kleines Kind und kein mächtiger Herrscher, zu finden in einem Stall und nicht in einem Palast, gewickelt in Windeln statt in prächtige Kleider. Grösser könnte der Gegensatz zu dem, was nach menschlichen Vorstellungen mit allumfassender Macht verbunden ist, kaum sein.

Die zweite Engelsbotschaft an die Hirten, nun gesungen von einem ganzen himmlischen Heer, vertieft dies:

«Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.» (Lukasevangelium 2,14)

Es ist ein Lobpreis Gottes (und nicht eines Herrschers) und besingt den Frieden, der mit dieser Geburt (und nicht mit der Macht des Kaisers) gekommen ist.

Es wird immer deutlicher: Hier wird eine Gegengeschichte zur Macht- und Friedensideologie des römischen Imperiums eingeleitet. Hier, an diesem Anders-Ort zeigt sich, wer der wahre Friedensbringer und Heiland ist, und welche die wahren Freudenbotschaften sind, die den Menschen tatsächlich Rettung bringen. Nicht umsonst ist am Schluss der Erzählung der Kaiser aus dem Blickfeld verschwunden. Vielmehr steht am Schluss der Erzählung ein anderer Name im Zentrum: Jesus.

«Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, bevor das Kind im Mutterleib empfangen war.» (Lukasevangelium 2,21)

Eine Freudenbotschaft

Natürlich ist es immer eine Freudenbotschaft, wenn ein Kind geboren wird. Mit der Geburt eines Kindes ist immer Zukunft verbunden und die Sehnsucht, dass jetzt alles ganz neu und anders und gut werden solle. So viel Hoffnung ist mit einem neugeborenen Kind verbunden. Nicht umsonst erzählt die Bibel gerade an krisenhaften Punkten der Geschichte Israels und Judas von ganz besonderen Geburten: Vom hochbetagten Paar Abraham und Sara, dem doch noch ein Sohn geschenkt wurde, so dass die Geschichte des Volkes Gottes überhaupt erst so richtig beginnen konnte. Vom gefährdeten Kind Mose, für dessen Überleben gleich eine ganze Reihe von Frauen kämpfen und der auf diese Weise zum Anführer des Befreiungsweges aus der Sklaverei werden konnte. Von der kinderlosen Hanna, die ihr spät geschenktes Kind Gott weiht: Samuel, der die ersten beiden Könige Israels salben sollte.

Hanna, die Mutter Samuels, betet im Tempel, Holzschnitt zw. 1851-1860

In der Geschichte von der Geburt Jesu knüpft Lukas an diese biblischen Verheissungsgeschichten an. Und er verstärkt ihre Botschaft, dass Gottes Zukunft auf Anders-Wegen und an Anders-Orten beginnt: Nicht mit der militärischen Gewalt des mächtigen Kaisers, sondern mit dem ohnmächtigen Kind armer Eltern in einem Stall. Nicht bei den Eliten des Reiches, sondern bei den Hirten, den Randsiedlern der damaligen Gesellschaft, die als erste hören und sehen, wie diese neue Zukunft beginnt. Es ist eine andere Macht, ein anderer Friede, ein anderes Heilwerden als das, was das römische Imperium den Menschen brachte. So hatte es Maria bereits mit prophetischer Stimme im Magnifikat besungen:

«Gott vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:
Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;
er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.» (Lukasevangelium 1,51-53)

Dies alles ist nach Lukas mit der Geburt dieses machtlosen Kindes Jesus verbunden. Es ist eine Geburt, die davon kündet, dass es anders anfangen muss zwischen den Menschen, wenn es eine Zukunft und ein gutes Leben für alle geben soll.

Wie das geht? Jedenfalls nicht so, dass wir so weitermachen wie bisher. Wir sind dabei, unsere Welt und unsere Zukunft aufs Spiel zu setzen, weil wir nicht verzichten und nichts anders machen wollen. Vom Um-Denken, Neu-Denken und Neu-Handeln handeln zum Beispiel die weiteren Jesusgeschichten des Lukasevangeliums.1

  1. Bildnachweise: Titelbild: photicas.de. Dirk Hinz / Bild 1: Augustus-Denar, gedruckt zwischen 19-18 v. Chr. Wikimedia Commons / Bild 2: Maria und Joseph bei der Volkszählung zur Eintreibung der Steuern vor Quirinius, Mosaik, zwischen 1315-1320, ehemalige Chora-Klosterkirche Istanbul. Wikimedia Commons / Bild 3: Krippenszene in einem zerstörten Stall. Unsplash@dieter_muenchen / Bild 4: Baby-Jesus-Figur in einer Hand. Unsplash@leonoblak16 / Bild 5: Hanna, die Mutter Samuels, betet im Tempel. Holzschnitt aus «Die Bibel in Bildern» zwischen 1851-1860. Wikimedia Commons

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Kommentare

Ein Kommentar zu “Gottes Anders-Wege

  1. 26.02.23

    Edith Sutter

    Das Gebet bekommt gerade in unseren Tagen einen wichtigen Stellenwert. In unserer Ohnmacht gegenüber dem Krieg in der Ukraine und in anderen Ländern dieser Welt, dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien wenden wir uns im Gebet an Gott. Es ist unsere Freiheit, sich dem Guten zuzuwenden, und sich dem Bösen zu widersetzen, es beim Namen zu nennen. Das regelmäßige Gebet öffnet unsere Sinne für die Grenzen unserer Freiheit. Ich glaube, dass die Friedensgebete, die regelmäßig stattfinden, eine Wirkung haben. Und sie verbinden uns mit den andern betenden Menschen.

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