Anfänger:innen

Es war ein überraschender Titel, den die evangelische Theologin Bärbel Wartenberg-Potter vor zehn Jahren über ihre Biographie setzte: Anfängerin. Die damals 70-jährige war eine erfahrene Frau, weltweit bekannt durch ihr Engagement in der Ökumene und ehemalige Bischöfin der lutherischen Kirche in Lübeck.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, schrieb Hermann Hesse in seinem Gedicht Stufen. Wartenberg-Potter spricht vom Glück des Anfangs: man betritt Neuland und kann frei von vorgezeichneten Pfaden eine neue Spur legen. Doch sie erinnert auch an die Schwierigkeiten des Anfangens:

«Man kennt sich noch nicht aus. Macht Fehler. Schätzt Situationen falsch ein. Misst mit den alten Massstäben. Schafft Missverständnisse. Scheitert. Verletzt andere. Ich bin in manches Fettnäpfchen getreten».1

Südafrika, Genf, New York und die Karibik waren wichtige Stationen in Wartenberg-Potters Leben. Sie ist über viele Grenzen gegangen, nicht nur geographisch. Sie wollte das Denken und vieles mehr erneuern. In jungen Jahren verliert sie ihr erstes Kind kurz nach der Geburt und später auch ihr zweites. Und man ahnt angesichts dieser Schicksalsschläge, wie schwierig (Neu)Anfänge sein können. Geholfen auf dem Weg zurück ins Leben haben Wartenberg-Potter Lieder und Gebete.

«Eine meiner seltsamen Eigenschaften kam mir […] zu Hilfe: Ich bin eine Wiederholerin. Ein Lied, eine Geschichte, ein Erlebnis kreist lange in mir, treibt wieder und wieder an die Oberfläche, ruft zur Auseinandersetzung. Im Immer-wieder-erzählen, -hören, -singen festigt sich eine Lebenserfahrung. An ihr kann ich mich festhalten, sie wird annehmbar, mitteilbar, wird Teil meiner unverlierbaren Schätze.»2

Die Sprache der Hoffnung sei nicht das Argument, sondern das Erzählen, zitiert sie einen Freund.

Im Anfang

Bärbel Wartenberg-Potters Erfahrung erinnert an die Bibel. Diese präsentiert auf der ersten Seite − quasi als Ouvertüre der Überlieferung − einen Text, poetisch und klangvoll, an dem sich die Menschen damals im babylonischen Exil und darüber hinaus aufrichten konnten. Die Bibel beginnt mit einer Erzählung von Gottes Anfängen: «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.» (Genesis 1,1) Dabei geht es nicht darum, wie alles geworden ist, sondern um Gottes schöpferische Kraft. Gott fängt etwas an mit dieser Welt, bringt sie zum Leuchten und schafft ein Lebenshaus für alles Lebendige. Der Text will nicht erklären, sondern in einer Zeit der Krise trösten und ermutigen, an der Sehnsucht nach Leben und Gerechtigkeit festzuhalten. Selbst wenn Vieles wüst und leer erscheint, auch in der Bedrohung und angesichts des Todes ist Leben möglich. Denn Gott hat sich nicht verabschiedet von dieser Welt, sondern ist und bleibt die schöpferische Macht. Gott schafft – Licht und Raum für alle!3

Eine Welt, die auf Veränderung drängt

Die Erzählung öffnet die Welt auf einen Sinnhorizont hin. Es ist eine Welt im Werden – Paulus wird von einer Welt in Geburtswehen sprechen, die auf Befreiung drängt4 – , in die die Menschen hineingestellt sind mit dem Auftrag, das schöpferische Anfangen Gottes fortzuführen und der Dynamik des Guten zu vertrauen. Jede Geburt, jedes Kind ist ein neuer Anfang. Auch das Verzeihen, die Kreativität. Und jeder neue Tag, so Bärbel Wartenberg-Potter:

«Ich schlage die Augen auf: Dieser Tag, was immer er mir bringen wird, ist ein Geschenk Gottes. Gott schenkt mir Atem, den Blick, die grosse, aber auch die kleine Kraft, den Mut zu sein. Es ist Gnade. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich lebe. Meine Kinder leben nicht mehr. Dass die Sonne aufgeht, der Morgenwind weht»5

Nicht alle Tage sind lichtvoll… Die Erzählung vom Anfang weist auf die Rhythmen des Lebens, auf Tag und Nacht, Licht und Finsternis. Nicht alle Tage sind lichtvoll und unsere Blicke oftmals trüb. Auch wenn Gott dieser Welt zugewandt ist, bleibt Gott der Unbekannte und Vorübergegangene.6

«Die Beterinnen und Beter der Bibel erleben, dass es Zeiten der Nähe und Zeiten der Ferne Gottes gibt. Daher klagen sie das Kommen Gottes ein: ‹Wie lange noch?!› – ‹Willst du immer fern bleiben?› – ‹Säume nicht!›»7

Glauben bedeutet auch, sich nicht einzurichten, Räume offenzuhalten, aufzubrechen und den Anfängen zu trauen. Als Christ:innen sind wir Anfänger:innen, wie mutig oder zögerlich, wie spektakulär oder klein die Anfänge auch immer sind, sie dienen der göttlichen Dynamik des Guten.

  1. Vgl. Bärbel Wartenberg-Potter: Anfängerin. Zeitgeschichten meines Lebens, Gütersloh 2013, S. 14.
  2. Bärbel Wartenberg-Potter: Anfängerin, S. 71.
  3. Vgl. Andreas Benk: Die Schöpfung als Vision einer gerechten Welt. Die Relecture biblischer Schöpfungstexte als Befreiungstheologie, in: Bibel und Kirche (2021), S. 2-9. Georg Steins: «Für alle(s) gibt es eine Zeit!» Schöpfung als Rhythmisierung des Lebens. Bibelarbeit zu Gen 1,1-2,3, in: Bettina Eltrop (Hg.): Frauenrythmus. FrauenBibelArbeit Bd. 9, Stuttgart 2002, S. 20-20-30.
  4. Vgl. Brief an die Gemeinde in Rom 8,22.
  5. Bärbel Wartenberg-Potter: Anfängerin, S. 58.
  6. Vgl. Angela Büchel Sladkovic: Leere, auf: https://glaubenssache-online.ch/2021/04/21/leere/ (26.12.2022).
  7. Georg Steins: Für alle(s), S. 27.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Schneeglöckchen. Unsplash@j_blueberry / Bild 1: New York in der Nacht. Unsplash@matteocatanese / Bild 2: Eine Hand, die sich nach der Sonne ausstreckt. Unsplash@aamin_in / Bild 3: Betende Hände. Unsplash@reskp

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