Technik war und ist essenziell für die Weitergabe des Glaubens. In einer von Spaltungen bedrohten Welt, könnten Christ:innen eine humane Avantgarde sein und ebendiese Technik liebevoll einsetzen.
Raimundus Lullus wurde im Jahr 1232 auf der Mittelmeerinsel Mallorca geboren. Im Alter von 30 Jahren hatte der verheiratete Vater von zwei Kindern ein lebensumstürzendes Bekehrungserlebnis. Dies brachte ihn dazu, sein weiteres Leben der Verbreitung des christlichen Glaubens unter Nichtchrist:innen zu widmen. Dazu ging der Philosoph, Theologe und Universalgelehrte, der sich sein breites Wissen grossteils autodidaktisch erschlossen hatte, äusserst ungewöhnliche Wege. Zum einen reiste er im Mittelmeerraum umher und suchte aktiv das Gespräch mit den Nichtchrist:innen – zumeist Muslim:innen – zum anderen arbeitete er Zeit seines Lebens an einer völlig neuartigen technischen Lösung, mit der er die Wahrheit des Christentums einsichtig machen wollte: seiner berühmten Argumentationsmaschine. Ihre Aufgabe sollte es sein, unterschiedliche Aussagen zum christlichen Gott und zum Glauben automatisch zu vernünftigen und dadurch überzeugenden Beweisen zu kombinieren. Denn Lullus eigene Überzeugung war, dass selbst etwas so intimes wie ein tragfähiges Glaubensfundament aus schlüssig-kraftvollen Argumenten entstehen kann. Es ist nicht überliefert, wie viele Nichtchrist:innen Lullus tatsächlich mit dieser Maschine zur Taufe bewegen konnte. Die überlieferte Form seines Todes im Jahr 1316 – Steinigung durch eine aufgebrachte Volksmenge – lässt darauf schliessen, dass der Mallorquiner der menschlichen Vernunft vielleicht ein wenig zu sehr vertraute.
Der IT-Fürst
Wahrscheinlich wäre der genialische Kopf, der quasi nebenbei auch noch über 280 Werke in Latein und Altkatalanisch verfasst hat, heute längst vergessen – wenn er nicht mit seiner Idee einer maschinellen Argumentationshilfe spätere Entwicklungen der Logik und der Mathematik beeinflusst hätte. Selbst wiederum wirkmächtige Denker der Renaissance und der Neuzeit wie Cusanus und Leibniz liessen sich von Lullus inspirieren und entwickelten sein Werk weiter – mit Auswirkungen bis in unsere Zeit. Ganz pointiert gesagt: Der Mallorquiner Lullus ist mit seinem Missionierungsvorhaben eine der zentralen Personen, die am Ausgangspunkt unserer technischen Welt mit Online-Shopping, Automatisierung und allerlei elektronischen Helferlein von Notebooks bis hin zu Siri und Alexa stehen. Gäbe es in der IT-Welt Heilige, wäre Lullus einer ihrer Fürsten.
Bestes Beispiel Buchdruck
Raimundus Lullus ist aber nur ein Beispiel dafür, wie eng immer schon die Verbindung von Technik und Glaube gewesen ist – und wie neue Techniken neue Formen der Glaubensweitergabe ermöglicht haben, ja, wie sich beide sogar wechselseitig immer wieder befruchteten. Andere Beispiele sind sehr bekannt: Schon in der Schule lernt man, dass die Erfindung des maschinellen Buchdrucks eine Voraussetzung der raschen Verbreitung der reformatorischen Kirchen gewesen ist. Denn erst mit Druckmaschinen war es möglich geworden, dass die Reformator:innen ihre Vorstellungen einer erneuerten Kirche in hoher Auflage verbreiten konnten. Bald standen auch in begüterten Haushalten gedruckte Bibeln zur privaten Lektüre im Regal – was zuvor mit den kostspieligen, in Klöstern handkopierten Einzelexemplaren überhaupt nicht vorstellbar gewesen war.
Die römischen Strassen und das Christentum
Doch bereits viel früher zeigen sich Belege des fruchtbaren gegenseitigen Einflusses von Glauben und Technik – selbst in der Bibel. Lassen wir aber zunächst nicht die Bibel zu Wort kommen, sondern die bekannte Jesusfilmparodie «Das Leben des Brian»: In einer grossartigen Szene überlegt dort eine jüdische Freischärlergruppe, warum die Römer unbedingt aus dem Land geworfen werden müssen. Zum Missfallen ihrer Anführer dreht sich die Diskussion aber schnell in eine ganz unerwartete Richtung. Man besinnt sich auf die fortschrittlichen Kulturtechniken der Römer, die offensichtlich allgemeines Gefallen finden: ein ausgebautes Strassensystem für schnelle Fortbewegung, halbwegs sichere Städte, Aquädukte für frisches und sauberes Trinkwasser, Foren und Thermen… Der Film zeigt damit – auf zugegeben parodistische Weise –, dass der römische way of life mit seinen ausgefeilten technischen Lösungen zwar aus der Sicht gläubiger Juden ein Gräuel ist, aber wohl wegen seiner zivilisatorischen Fortschrittlichkeit von nicht wenigen auch sehr geschätzt wurde.
In der Zeit des frühen Christentums ist dieser römische way of life mit seinen modernen Techniken sogar der Humus, der überhaupt erst sein explosionsartiges Wachstum ermöglicht. Die Missionsreisen des Paulus wären ohne das römische Wege- und Handelsnetze, ohne die überall gesprochenen Weltsprachen Griechisch und Latein, ohne die grossen und modern verwalteten Weltmetropolen Rom, Korinth, Athen vermutlich irgendwo im Sande der Levante verlaufen. Die Schriften des Neuen Testaments wurden wie selbstverständlich auf Griechisch verfasst und damit der Sprache der römischen Hochkultur. Um es wiederum pointiert zu sagen: Ohne die römischen (Kultur-)techniken hätte es das Christentum sehr schwer gehabt, überhaupt irgendwo ausserhalb interessierter jüdischer Gemeinden Durchsetzungskraft zu entwickeln.
Spannungsverhältnis
Wie die frühen Christ:innen wohl mit der parodoxen Situation umgegangen sind, immer wieder von der Staatsmacht verfolgt zu werden und selbst ein äusserst angespanntes Verhältnis zu Rom zu haben – und gleichzeitig davon zu profitieren, dass es eben dieses technisch vorteilhafte «System Rom» gibt? Wie empfand man die Spannung von der Konfrontation im Glauben und der Kollaboration in den verwendeten Techniken? Davon macht das Neue Testament nur wenig Mitteilung. In einem Buch des Alten Testaments, knapp 150 Jahre früher verfasst, finden wir jedoch einige Hinweise, wie bedrohlich aus Sicht gläubiger Juden Techniken wahrgenommen werden, die das Volk Israel von seinem Gott entfremden.
Das erste Makkabäerbuch (1 Makk), eine der ganz späten Schriften des Alten Testaments, berichtet aus der Zeit nach dem Tod Alexanders des Grossen und der Machtübernahme seiner Nachfolger in den von Alexander eroberten Gebieten. So hält unter dem Herrscher Antiochus IV. Epiphanes die griechische Welt auch Einzug in Israel. Es wird ein Gymnasium für die Jugend erbaut, der Tempelschatz wird geplündert, Schweine und andere unreine Opfertiere dürfen im Tempel geopfert werden, den Männern gelingt es angeblich sogar, ihre Beschneidung rückgängig(!) zu machen. Das Buch lässt bei aller Skandalisierung dieser Vorgänge allerdings auch durchblicken, dass viele im Volk Israel im Grunde ganz froh sind, endlich zu den technisch fortschrittlichen Nationen aufschliessen zu dürfen (1 Makk 1,11-15). Man darf sich vorstellen, dass dies vor allem Leute waren, die aus diesem Anschluss unmittelbaren Nutzen zu ziehen wussten: Junge Menschen aus der Oberschicht, denen sich dadurch die Welt öffnete, und Händler. Doch etwas ist anders als zur Zeit der frühen Christen: Weil das jüdische Leben noch stark mit Tempel und Territorium verknüpft ist, kann die zwangsweise Durchsetzung fremder Kulturtechniken nur als Angriff auf die eigene Lebensweise verstanden werden. Aufstände und Kriege bis in das zweite Jahrhundert nach der Zeitenwende, die als Verteidigung der eigenen Lebensweise und Religionspraxis zu verstehen sind, sind die Folge.
Kehren wir nach diesem kurzen Blick in das Alte Testament wieder zum Christentum zurück. An Paulus haben wir gesehen, dass es für ihn als römischen Bürger vollkommen normal ist, relativ unbefangen mit den Techniken umzugehen, die ihm zur Verbreitung des Glaubens zur Verfügung stehen. Gleiches gilt für seine christlichen Mitbürger:innen. An Raimundus Lullus wurde deutlich, dass das Christentum eine Kraft entfalten kann, die Menschen zur Entwicklung technisch-fortschrittlicher Höchstleistungen antreiben kann – selbst wenn ihre Auswirkungen andere sind als zunächst gedacht. Das sind zwei kleine Einblicke, die sich noch durch zahlreiche weitere vertiefen liessen.
Technik klug einsetzen
Was aber lässt sich aus ihnen für unseren Umgang mit den unterschiedlichsten Techniken ableiten? Sollte man allen technischen Neuerungen gegenüber unterschiedslos aufgeschlossen sein? Oder gibt es Linien, welche nicht überschritten werden sollten? Nach welchen Kriterien sollte dann eine Beurteilung von neuer, fortschrittlicher Technik stattfinden?
In den christlichen Hauptströmungen gilt der Einsatz von Technik so lange als «gut», wie er der Schöpfung und insbesondere dem Menschen «gut tut» und ihre Ziele fördert. Wenn sie als «Mittel zum Zweck» dabei hilft, dass Menschen ein Leben gestalten können, das für sie selbst und zugleich auch für andere ein Segen ist und wird. Wenn dies von Christ:innen beherzigt wird, dann zeigen sie sich darin als wahre Ebenbilder eines Gottes, der schöpferisch tätig ist – denn Technik ist Schöpfung auf Menschenart. Das Christentum ist keineswegs so technikfeindlich, wie oft kolportiert wird; so lange die eingesetzten Techniken die christlich gebotenen Tugenden fördern, sollte man allem Neuem gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen sein.
Ja, wir Christ:innen sollten uns sogar dazu berufen fühlen, mit der verantwortungs- und liebevollen Nutzung von den sich uns bietenden technischen Möglichkeiten echte, humane Avantgarde in einer Welt werden, die von grossen Spaltungen bedroht ist. Vertrauen wir nicht darauf, dass die grossen Internetfirmen von Apple bis Zoom durch wiederum technische Lösungen die Filterblasen öffnen und die gesellschaftlichen Gräben schliessen können, die durch die sozialen Netzwerke und Fake News entstanden sind. Es liegt an uns, die von uns selbst geschaffenen Techniken in menschenfreundliche Bahnen zu lenken. Fühlen wir uns darin bestärkt, in allen Lebensbereichen lustvoll Techniken einzusetzen – um damit für einen christlichen Humanismus und für den Schutz der Schöpfung zu wirken.1
- Bildnachweise: Titelbild: Kirche und Satellitenschüsseln. Photocase / Bild 1: Eine Rechenscheibe Lullus‘ zur algorithmischen Berechnung der Struktur der universellen Prinzipien wie Güte, Macht, Weisheit. Es ist das frühste Beispiel für algorithmische Programmierung. Wikimedia Commons / Bild 2: Portrait Raimundus Lullus‘, aus dem 16. oder 17. Jh.n Chr., Künstler unbekannt. Wikimedia Commons / Bild 3: Wojciech Korneli Stattler, Machabeusze (Makkabäer), 1842, Öl auf Leinwand / Bild 4: Ein Gottesdienst wird während der Covid-Pandemie zur online-Übertragung aufgenommen. Unsplash@typegon
Kommentare
1 Kommentare zu “«Gäbe es in der IT-Welt Heilige, wäre Lullus einer ihrer Fürsten»”
11.01.23
Thomas Staubli
Danke für diesen zusammenhangsstarken Artikel mit Linien bis hin zu den verfolgten, innovativen Gegnern der Makkabäer, deren Schriften in der Bibel leider nicht überliefert sind. Zur Rückgängigmachung der https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2020/50420/woher-kommt-das-die-beschneidung