In Klöstern wird es vorwiegend praktiziert, das mehrmals tägliche Gebet in Gemeinschaft, Stundengebet oder Tagzeitenliturgie genannt. Doch alle Christ:innen sind eingeladen, dem Tag durch regelmässige Zeiten des Gebetes einen Rahmen und eine Prägung zu geben.
«Ein Tag sollte mehr als 24 Stunden haben», seufzen wir manchmal, wenn wir wieder mal nicht schaffen, was wir uns vorgenommen haben. Zur Wahrnehmung, dass die Stunden wie im Flug eilen, kommt für uns heutige Menschen als Stressfaktor der Eindruck hinzu, permanent mehrere Dinge gleichzeitig erledigen zu müssen, und trotz Multitasking und Zeitmanagement den vielen rund um die Uhr an uns herangetragenen Erwartungen und Ansprüchen letztlich nie ganz zu genügen.
Während einer beruflichen Auszeit wohnte ich mehrere Monate in einem Kloster und nahm an den täglichen Gebeten teil. Dabei erlebte ich die Tagesstruktur im Wechsel von Arbeiten und Beten, von aktiver und kontemplativer Tätigkeit als wohltuend. Die äussere Ordnung half mir innerlich klarzukommen. Der vorgegebene Rahmen setzte zwar Grenzen, stellte aber gleichzeitig einen Gestaltungsraum zur Verfügung.
Den Tag durch das Gebet ordnen
Das mehrmalige Gebet zu bestimmten Zeiten des Tages gehört zur religiösen Praxis aller drei abrahamitischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam.
Im Judentum bildet der Tag die Heilsgeschichte ab. Religiöse Jüdinnen und Juden gedenken am Abend des Exodus, der Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten, am Morgen vergegenwärtigen sie den Bundesschluss am Sinai. Hinzu kommt eine dritte Gebetszeit am Nachmittag.
Volljährige Angehörige muslimischen Glaubens sind zu fünf Gebetszeiten am Tag verpflichtet. Das tägliche rituelle Gebet gehört zu den fünf Säulen des Islam.
Christ:innen beten seit den Anfängen dreimal am Tag, vorzugsweise an den Schwellenzeiten am Übergang von der Nacht zum Tag und vom Tag zur Nacht sowie zum Sonnenhöchsttand am Mittag.
Den Ausgangspunkt dieser Praxis bildet die Forderung des Apostels Paulus: «Betet ohne Unterlass!» (1 Thessalonicherbrief 5,17). Dahinter steht die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi. Die Gläubigen können zwar nicht ununterbrochen beten, weil sie ihrer Arbeit nachgehen oder sich um ihre Familie kümmern müssen. Doch durch das Beten in regelmässigen Abständen bleibt ihr Leben auf Christus ausgerichtet, das Gebet hält sie wachsam und bereit für sein Kommen. Die Sonne und ihr Stand am Himmel verweisen auf Christus als das «Licht der Welt» (Johannesevangelium 8,12; 9,5). Er wird gepriesen als wahre Sonne, die alle Finsternis vertreibt (Morgenlob), die den Alltag erleuchtet (Mittagsgebet) und am Ende des Tages – und des Lebens – nicht untergeht (Abendlob).
In den christlichen Stadtgemeinden entwickelte sich ab dem 4. Jh. die Praxis, dass die Gläubigen sich morgens und abends, jeweils vor und nach der Arbeit, zum gemeinsamen Gebet versammeln. Es wurden Hymnen und Psalmen entsprechend der Tageszeit gesungen, z.B. Psalm 63 am Morgen, Psalm 141 am Abend. An der Schwelle zur Nacht wurde feierlich ein Licht als Christussymbol entzündet.
Demgegenüber beschreibt die auf Benedikt von Nursia (480-547) zurückgehende Ordensregel, die Benediktsregel, sieben Feiern am Tag und ein Nachtgebet. Diese Ordnung wurde für die Klostergemeinschaften prägend.
Im Alltag innehalten
Verschiedene praktische und theologische Gründe führten dazu, dass in der Spätantike die gemeinsamen Gebetszeiten in den christlichen Gemeinden weitgehend verlorengingen und das Stundengebet als verpflichtendes Gebetspensum den Klerikern und Ordensleuten vorbehalten blieb.
Die in der Seelsorge tätigen Priester verrichteten es ab dem 15. Jahrhundert zunehmend privat und verwendeten dafür ein eigenes Buch, das sogenannte Brevier (von lateinisch: breviarium = kurzes Verzeichnis, Auszug).
In England wurde zur Reformationszeit das Morgen- und Abendgebet in den Gemeinden wiedereingeführt. Es lebt bis heute an Kathedralkirche weiter.
Die «einfachen» Gläubigen suchten sich Ersatzformen wie das Rosenkranzgebet oder das dreimal tägliche Angelus-Gebet. Wenn die Kirchenglocke läutete, hielten die Arbeitenden auf dem Feld inne und sprachen den «Angelus» (lateinisch = Engel), ein Gebet, das an die Menschwerdung Gottes erinnert und mit den Worten beginnt: «Der Engel des Herrn brachte Maria die frohe Botschaft». Von diesen Anfangsworten erhielt das Gebet seinen Namen. Heute noch ertönt vielerorts die Angelus-Glocke um 6 Uhr, 12 Uhr und 18 Uhr und lädt zum Gebet ein.
Im Zuge der Säkularisierung gerieten die traditionellen volksreligiösen Gebetsformen weitgehend in Vergessenheit. Das Bedürfnis nach Besinnung und Gebet ist aber weiterhin vorhanden. In Innenstadtkirchen und an Wallfahrtsorten zünden Gläubige verschiedener Religionen Kerzen an oder tragen ein Anliegen ins Fürbittbuch ein.
Wie eine Art Ritual
Wie aber lässt sich das Gebet in den Alltag integrieren, ohne dass es als weitere Verpflichtung in einem schon dicht gedrängten Tagesablauf wahrgenommen wird?
Bischof Franz von Sales (1567-1622) wird das Wort zugeschrieben: «Gib dir jeden Tag eine Stunde Zeit zur Stille. Ausser wenn du viel zu tun hast. Dann gib dir zwei.» Gemeint ist: Wenn wir wenig Zeit haben, darf das Gebet erst recht nicht zu kurz kommen. Allerdings ist eine regelmässige Praxis entscheidender als Dauer oder Häufigkeit des Gebetes.
Am einfachsten ist wohl, wenn wir das Gebet mit einer Tätigkeit verbinden, die wir sowieso schon jeden Tag wie eine Art Ritual ausüben. Bei Tisch danken wir Gott, dem Geber alles Guten, für Nahrung und Gemeinschaft, am Abend (vor oder nach dem Zähneputzen) geben wir das Frohe und Belastende, Begegnungen und Ereignisse des Tages demjenigen zurück, der Tag und Nacht in Händen hält.
Darüber hinaus ist es hilfreich, sich nicht nur eine bestimmte Zeit für das Gebet zu reservieren, sondern auch einen Raum vorzusehen, der zur Sammlung und zum Beten einlädt, sei es, dass wir uns einen geeigneten Platz in einer Kirche aussuchen oder zu Hause mit einer Kerze oder einem Bild einen Raum gestalten.
Aus einer regelmässigen persönlichen Gebetspraxis heraus, wächst nicht selten der Wunsch, sich mit anderen Menschen im Gebet zu verbinden. Es bilden sich Gebetskreise im privaten oder öffentlichen Rahmen. Diese sind oftmals ökumenisch und greifen gerne auf einen gleichbleibenden Ablauf und überlieferte Elemente zurück – Lieder, Psalmen, das Vaterunser –, auf Formen die sich bewährt haben, die wenig Vorbereitung bedürfen und sich durch Wiederholung nicht abnützen.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) und die nachfolgende Liturgiereform haben das Stundengebet den Gläubigen in gewisser Weise wieder zurückgegeben, indem sie es als priesterliche Aufgabe aller Getauften verstanden. Sie empfahlen, das Morgengebet, die Laudes (lateinisch = Lobgesänge), und das Abendgebet, die Vesper (lateinisch = Abend), gemeinschaftlich und öffentlich zu feiern. Wie lässt sich diese priesterliche Aufgabe beschreiben? Christ:innen beten nicht nur für sich selbst, sie stehen im Gebet für die Menschen und die Welt vor Gott ein. Sie halten den Glauben an das Kommen Jesu Christi in das alltägliche Leben der Menschen wach. Sie rufen den Namen Gottes in Erinnerung, damit Gott in der Welt vorkommt und er sie segnet.
Als Gemeindegottesdienst ist die Tagzeitenliturgie auch sechzig Jahr nach der Erneuerung durch das Konzil erst noch zu entdecken, der geistliche Schatz ist erst noch zu heben.
Ob einfaches Tischgebet oder feierliche Vesper – Gebetszeiten wollen nicht als vom «profanen» Alltag isolierte, «heilige» Zeiten verstanden werden. Sie halten das Bewusstsein wach, dass der Tag als Ganzer «geheilt» ist, von Gott gehalten, unabhängig davon, was wir erreicht haben und ob uns der Tag gelungen erscheint. Eine unmittelbare Wirkung lässt sich dem Beten generell nicht zuschreiben. Doch kann durch eine regelmässige Gebetspraxis allmählich und unmerklich eine Haltung der Dankbarkeit und des inneren Friedens heranwachsen, ein Empfinden von Getragen-sein und Aufgehoben-Sein, von Bedeutung und Sinnhaftigkeit.1
- Bildnachweise: Titelbild: Ernest Biéler. Im Gebet. Vor der Kirche Saint-Germain in Savièse. Öl auf Leinwand 1886. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne. / Bild 1: Benediktinerinnen-Kloster St. Johann im Val Müstair, Kanton Graubünden. Wikimedia. Foto: Wladyslaw Sojka / Bild 2: Gebet in der Morgensonne. Unsplash@aaronburden. / Bild 3: Regenbogen über einer Kirche mit Glocke. Unsplash@metinozer / Bild 4: Drei Mädchen beten füreinander
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