Ins Schweigen beten

Lehrt Not beten? Ist es nicht eher so, dass Menschen in Not und Elend verstummen? Gehört es nicht zum Unglück, dass es die Seele zermalmt? Und doch beten Menschen in Krieg, Unglück und Not.

Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko haben mitten im Krieg eine Sprache gefunden: die Sprache der Ikonen.1 Das Künstlerpaar stellte diese Tage in der Kirchenbar jenseits in Zürich ihre Werke aus.2 Beide sind Ikonenmaler von Beruf und suchten einen Weg, um mit dem Grauen des Krieges umzugehen und die innere Schockstarre zu überwinden. Sie fingen an, Ikonen auf Holzplatten von leeren Munitionskisten zu malen und so dem Tod Leben entgegenzusetzen. Denn Ikonen bedeuten Licht. Sonia Atlanta erzählt, wie sich dieses furchtbare Holz, das hundertfachen Tod brachte, unter ihren Händen zu verwandeln beginnt und mit ihm sie selbst. Während sie Maria in einem Mantel voller Blumen malt, verliert der Krieg etwas von seiner Macht über ihr Herz. Atlantova spricht von einer therapeutischen, heilenden Wirkung des Ikonenmalens. Und sie verheimlicht nicht, dass es ihr manchmal unmöglich ist, weiter zu malen und ihr Ehemann die Ikone an ihrer Stelle vollendet.

«Ikonenmalen ist wie Beten mit Farben»

Die Kunst der Ikonographie ist eine alte orthodoxe Tradition. Motive, Attribute, Farbgebung und anderes sind klar geregelt. Die stilisierte Form, so Atlantova interessanterweise, habe sie in dieser Zeit der Erschütterung schätzen gelernt. Das Leiden des Krieges sei unfassbar und überwältigend. «Das Ikonenschreiben3 ist eine Art, dieses Leiden zu zeigen. Durch die Zweidimensionalität hältst du Distanz, denn das Leiden ist unvorstellbar.»4 Es ist behutsame, respektvolle Annäherung an das Leiden. Zugleich erinnern die Ikonen an das Gute. Sie wecken und stärken die Sehnsucht, das Leid zu überwinden. Ikonen öffnen den Blick, zeigen auf das, was wir noch nicht sehen.5 Ikonenmalen, so Sonia Atlanta, ist ein Gebet mit Farben.6

Beten ist Anrede

Beten ist kein innerer Monolog, sondern Anrede, Anrufung. Betende richten sich aus an etwas Höherem, sie bringen sich und ihr Leben vor Gott:

«Beten heisst ja nicht einfach das Herz ausschütten, sondern es heisst, mit seinem erfüllten oder auch leeren Herzen den Weg zu Gott zu finden und mit ihm zu reden.»7

Der oder die Betende geht davon aus, dass Gott da ist, uns zugewandt, hörend. Es spricht ein Welt- und Gottvertrauen aus den Betenden. Die Welt ist nicht leer und Gott wie eine Freundin, die zuhört und sich anrühren lässt.8 Diesem menschen- und lebensfreundlichen Gott streckt sich der Betende entgegen; von diesem Gott will sich die Betende anrühren und bewegen lassen.

Es ist dieses den Menschen zugewandte Angesicht, das «aufgespannte Ohr Gottes» (Felicitas Hoppe), das Menschen beten lässt. Doch was, wenn das Angesicht verdunkelt wird und die Anrufe ohne Antwort bleiben? Wenn das Gott- und Weltvertrauen in der Verzweiflung zerbricht, im Bombenhagel untergeht? «Wir leiden daran», so schreibt der Theologe Fulbert Steffensky, «dass unsere Gebete echolos in dunkle Abgründe fallen. Ein ganzes Leben beten, ohne eine Antwort zu hören.»9

Ins Schweigen beten

Beten verlangt den glaubenden Menschen etwas ab. Beten ist oftmals ein Beten ins Schweigen hinein. Es ist ein Schweigen, in dem sich das eigene Verstummen mit Gottes Schweigen verwoben zeigt. Aus der Nähe ist Ferne geworden, Gott bleibt verborgen. Auf was soll sich das Vertrauen stützen, dass Gott da ist?

Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko finden Trost und Zuversicht, indem sie sich eine Sprache ausleihen. Im Ikonenschreiben bekommt ihr verwundetes Herz Raum. Doch sie borgen sich mehr als nur eine Sprache. Sie bergen sich im Vertrauen und in der Überzeugung anderer, dass Gott hilft. Das Bild des Heiligen Michaels, des Kämpfers gegen das Böse, so bemerkt Sonia Atlanta, erinnere sie daran, dass auch das Gute stark ist. Eindrücklich ist zudem, dass Klymenko an ihrer statt – oder sagen wir besser: für sie? – Ikonen fertigstellt, wenn ihr das Malen schwer fällt. Es ist ein solidarisches Malen, das sich der Qual des anderen annimmt und ihr Gestalt und Ausdruck gibt – ein Fürbittgebet. Dieses lässt sich von der grossen Not anderer berühren und kümmert sich nicht so sehr um den Gedanken, ob Gott hilft.

«Ob es Gott gibt, ob er selbst vielleicht das Unglück zugelassen hat, ist jetzt, in dieser bestürzenden Not, nicht die Frage. Ob er überhaupt helfen kann, ist nicht jetzt zu entscheiden. Er muss. Es scheint gar nicht möglich, dass eine so grosse Klage, dass so viel wehrloses Bangen kein gnädiges Ohr finden… man muss beten, und man betet.»10

Mensch und Gott bewahren

Beten kann helfen, menschlich zu bleiben, seine Menschlichkeit im Schrecken und in der Not zu bewahren. Das Beten ist eine Möglichkeit des Handelns. Wer betend vor Gott tritt, findet sich nicht einfach ab mit der Not und arrangiert sich nicht mit dem, was ist:

«… da mag es geschehen, dass wir unerschrocken und furchtlos, zuversichtlich und widerständig werden inmitten der lebensbedrohlichen Lage, dass wir aus Resignation und Ohnmacht aufstehen und der Bedrohung zu wehren beginnen – vor Gott und den Menschen.»11

Beten widersetzt sich dem Zynismus und der Hoffnungslosigkeit. Es gibt mehr zu denken und zu hoffen, als die Wirklichkeit zeigt. Betende geben die grosse Verheissung des Lebens nicht preis und lassen nicht von Gott. «… braucht nicht auch Gott unser Vertrauen, um wirklich Gott sein zu können?!», fragt die Theologin Magdalene Frettlöh.12 Dieses gegenseitige Aufeinander-Bezogensein von Gott und Mensch bringt die junge Etty Hillesum, die als Jüdin im KZ umgebracht wird, auf berührende Weise zum Ausdruck, wenn sie in ihrem Tagebuch festhält, wie sie Gott Raum geben will:

«Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt […] Es wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, worauf es ankommt: Ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen.»13

Betend halten wir Räume offen und verbinden uns mit all den Menschen, die leidenschaftlich hoffen, dass eine neue Welt kommt.

  1. Ikonen sind Christus- und Heiligenbilder, die vor allem in der Ostkirche verehrt werden.
  2. Vgl. dazu die Sendung «Perspektiven» des Schweizer Radio SRF vom 18.02.2023: https://www.srf.ch/audio/perspektiven/ikonen-auf-munitionskisten-so-trotzt-ein-ukrainisches-kuenstlerpaar-dem-krieg?id=12332803 sowie der Bericht von Sabine Zgraggen auf kath.ch vom 04.02.2023: https://www.kath.ch/newsd/ikonenausstellung-in-zuerich-von-der-ukrainischen-front-in-unsere-haende/ (19.02.2023).
  3. Man spricht vom Ikonenschreiben, griechisch Ikonographie, da die Bilder analog der Bibel «die Gute Nachricht» erzählen.
  4. Sendung «Perspektiven», Minute 25.
  5. Vgl. Zur Kunst der Ikonen Johannes Oeldemann: Die Kirchen des christlichen Ostens. Orthodoxe, orientalische und mit Rom unierte Kirchen, Regensburg 2016, S. 180: «Die Ikonen laden zur Betrachtung und zur Verehrung ein. Aber das ist nicht das eigentliche Ziel. Sie wollen vielmehr den Menschen vom Schauen des Bildes zur Anschauung Gottes, von der Verehrung des Abbildes zur Anbetung des Urbildes führen», sowie: «Die Ikonostase soll in den Gläubigen die Sehnsucht nach dem Heil wecken, wie es in den Bildern dargestellt ist. Dieses Heil ist dem Menschen zugänglich.»
  6. Vgl. das Interview auf kath.ch, vom 13.09.2022, https://www.kath.ch/newsd/ikonenmalen-ist-wie-beten-mit-farben-ein-ukrainisches-kuenstlerpaar-auf-friedensmission/ (19.02.2023).
  7. Dietrich Bonhoeffer, zit. nach Erich Zenger: Mit meinem Gott überspringe ich Mauern. Psalmenauslegungen 1, Freiburg i.Br. 21994, S. 14.
  8. Vgl. den Aufruf zum beharrlichen Bitten in Lukasevangelium 11, 5-8. In Anlehnung an das Gleichnis schreibt Huub Oosterhuis: «Lerne fragen, flehen, drängeln, auf Fensterläden hämmern. Die Bibel ist die Erzählung eines Gottes der Freund ist – bei dem du mitten in der Mitte der Nacht auf die Fensterläden hauen darfst. Sei nicht matt, gelassen, vage. Sei vehement, bewegt, wachsam, aufgeregt.» (Huub Oosterhuis: Komm uns befreien, in: Junge Kirche 79 (2018), Heft 1, S. 10-12, hier S. 10.).
  9. Fulbert Steffensky: Der alltägliche Charme des Glaubens, Würzburg 2002, S. 23.
  10. Hans Schaller: Wenn ich beten könnte, Mainz 1997, S. 101f.
  11. Magdalene Frettlöh: Exaudi – oder: auf dass Gott uns heraus-höre. Predigt im Gespräch mit Psalm 27, in: Junge Kirche 76 (2015), Heft 3, S. 55-58, S. 57f.
  12. Magdalene Frettlöh: Exaudi, S. 57.
  13. Etty Hillesum: Das denkende Herz, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 149.

     

    Bildnachweise: Titelbild: «Auch das Gute ist stark», sagt die Künstlerin Sonia Atlantova. Ikone des Erzengels Michael, gemalt auf alten Munitionskisten aus dem Ukrainekrieg. Foto: Wolfgang Holz / Bild 1: Malstudio mit vielen Pinseln. Unsplash@kharaoke. / Bild 2: Eine Hand streckt sich und Dunkel aus. Unsplash@laicho. / Bild 3: Genug. Eine Frau hält an einer Demonstration ein Schild hoch. Unsplash@liamedwards.

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