Pfingsten – die verändernde Kraft des Geistes

Pfingsten ist das Fest der göttlichen Geistkraft, die die Erde erfüllt, Menschen in Bewegung bringt, Grenzen überschreitet und alles neu macht. Die Apostelgeschichte erzählt von einer grossen Verwandlung, die das Leben der verängstigten Jesusnachfolger:innen erfasst und in Bewegung bringt. Aus dieser verwandelnden Kraft heraus entsteht das, was wir heute Kirche nennen.

Am Anfang der Kirche stand die sprühende, lebensvolle, alles verändernde Kraft des Geistes. So behauptet es der Evangelist Lukas, der in seiner Apostelgeschichte ungefähr 70mal von dieser Geistkraft spricht. Wenn wir den ersten Band seines Doppelwerkes, das Lukasevangelium, hinzunehmen, sind es sogar über 100 Nennungen dieses Wortes. Die göttliche Geistkraft ist also im gesamten Werk des Lukas präsent; doch Pfingsten ist wie ein zündender Funke für den Weg der entstehenden Gemeinden.

Welche besondere Bedeutung die Pfingstereignisse für Lukas haben, wird bereits am Schluss des Lukasevangeliums deutlich. Nach dem Tod Jesu, als all das, worauf die Jünger:innen ihre Hoffnung gesetzt hatten, in Frage steht, finden wir sie in Jerusalem beisammen. Da tritt Jesus als Auferstandener in ihre Mitte und verspricht ihnen:

«Und siehe, ich werde die Verheissung meines Vaters auf euch herabsenden. Ihr aber bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet!» (Lukasevangelium 24,49)

El Greco, Pfingsten, Öl auf Leinwand, um 1600. Der Heilige Geist wird durch die Flammen dargestellt.

Am Schluss des Lukasevangeliums steht damit eine grosse und gleichzeitig etwas rätselhafte Verheissung an die Jünger:innen. Diese Verheissung greift Lukas zu Beginn der Apostelgeschichte wieder auf, wenn der Auferstandene den Jünger:innen noch einmal sagt:

«Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde.» (Apostelgeschichte 1,8)

Die vom Auferstandenen verheissene Kraft ist also die Kraft des Heiligen Geistes, so erfahren wir nun. Wie diese Geistkraft zu den Jünger:innen kommt, erzählt Lukas bald darauf in mitreissenden Bildern in der Pfingsterzählung (Apostelgeschichte 2). Von einem Brausen wie von einem heftigen Wind ist da die Rede, von etwas, das wie Feuerflammen ist und alle erfasst, ohne sie jedoch zu verbrennen. Doch es bewirkt, dass Erstarrung sich löst und Angst verwandelt wird, dass ein neuer Horizont sich öffnet und Grenzen überwunden werden und eine neue Sprache gefunden wird, so dass Verständigung auf ungeahnte Weise möglich wird.

Ruach – lebendige Geistkraft Gottes

«Heiliger Geist» – so nennt Lukas diese Kraft, die diese unglaubliche Verwandlung bewirkt. Damit greift er auf Vorstellungen des Ersten/Alten Testaments zurück, das auf vielfältige Weise vom «Geist», hebräisch ruach, spricht. Das hebräische Wort ruach bedeutet eigentlich Wind, Sturm oder auch Atem und meint die Kraft, die in einem Windstoss oder im Atem wirksam ist, die selbst bewegt ist und anderes in Bewegung setzt. Ruach ist also Energie, Vitalität, Lebenskraft, Lebensatem. Interessant ist, dass das Wort in den meisten Fällen grammatikalisch feminin verwendet wird und offenbar weibliche Aspekte damit verbunden werden.

Diese lebendig-lebensvolle und bewegende Kraft wird auch mit Gott in Verbindung gebracht: als ruach Gottes, meist übersetzt als «Geist Gottes»– oder auch als «Geistkraft», «Gotteskraft» oder «Lebenskraft», um die weiblichen Dimensionen dieser lebendigen Gotteskraft sichtbarer zu machen. Diese Geistkraft Gottes ist bei der Schöpfung zugegen und schwebt über dem Wasser, so heisst es zu Beginn der ersten Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis 1,2. Dieser schöpferische Atem Gottes macht lebendig und schenkt Leben, er befähigt Menschen zu aussergewöhnlichen Taten, wirkt in Königen oder anderen charismatischen Gestalten und bewirkt ekstatische Phänomene. Für die Endzeit wird erwartet, dass Gott diese Geistkraft auf alle Menschen ausgiesst:

«Danach aber wird Folgendes geschehen:

Ich werde meinen Geist ausgiessen über alles Fleisch.
Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein,
eure Alten werden Träume haben
und eure jungen Männer haben Visionen.
Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgiessen in jenen Tagen.
Ich werde wunderbare Zeichen wirken am Himmel und auf der Erde:
Blut und Feuer und Rauchsäulen.
Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln
und der Mond in Blut,
ehe der Tag des Ewigen kommt,
der grosse und schreckliche Tag.
Und es wird geschehen:
Jeder, der den Namen des EWIGEN anruft, wird gerettet.
Denn auf dem Berg Zion und in Jerusalem gibt es Rettung,
wie der EWIGE gesagt hat,
und wen der EWIGE ruft, wird entrinnen.»
(Joël 3,1-5)

Diese Sätze sind Teil einer Verheissung für die kommende Heilszeit Gottes. Dann werde zwar der Tag des Gerichtes Gottes in all seiner Unerbittlichkeit kommen; doch würden alle, die zu Gott umkehren, gerettet werden (Joël 3,5). Ihnen gelten all die Bilder überquellenden Lebens und Segens, die vor und nach diesem Text vor Augen gemalt werden. Und der Geist, der hier verheissen wird, erfasst in höchst demokratischer Weise alle, Frauen wie Männer, Alte wie Junge, Freie wie Unfreie.

Pentecost (Pfingsten), Tizian, Öl auf Leinwand, ca. 1545.

Heilsgeschichtliche Anklänge

Diese Sätze aus dem Buch des Propheten Joël zitiert Petrus in der Pfingsterzählung der Apostelgeschichte, um die Ereignisse in Jerusalem zu deuten (Apostelgeschichte 2,14–36). Lukas macht damit deutlich, dass nun all das passiert, was bei Joël gesagt ist. All die Phänomene, von denen die Apostelgeschichte erzählt, gehören also in die nun anbrechenden endzeitlichen Ereignisse.

Was Lukas erzählt, datiert er auf den «50. Tag», in der Einheitsübersetzung wiedergegeben als «Pfingsttag». Nach dem jüdischen Festkalender wird am 50. Tag, also sieben Wochen nach Pessach, das Wochenfest, Schawuot, gefeiert. Es ist nach Pessach und vor dem Laubhüttenfest das zweite der drei grossen Wallfahrtsfeste, an denen man, wenn man es sich leisten konnte, nach Jerusalem zum Tempel gepilgert ist, um dort zu opfern.

Ursprünglich war Schawuot ein Frühjahrs-Erntefest, bei dem die ersten reifen Früchte zusammen mit anderen Opfern zum Tempel gebracht wurden. In späterer, vermutlich erst rabbinischer Zeit, also nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr., erhielt das Fest eine neue, heilsgeschichtliche Füllung und wird zur Gedächtnisfeier des Bundesschlusses Gottes mit Israel am Sinai (Exodus 19), so wie das Pessachfest, das ebenfalls ursprünglich ein agrarisches Fest war, zur Gedächtnisfeier für den Auszug aus Ägypten wird. Wie weit diese heilsgeschichtliche Deutung des Festes zur Zeit des Lukas bereits verbreitet war, lässt sich aber nicht genau sagen.

Diese heilsgeschichtlichen Ereignisse der Gabe der Tora am Sinai würden allerdings gut zur erzählerischen Gestaltung des Pfingstgeschehens durch Lukas passen. Denn in den Phänomenen, die er beschreibt, könnten durchaus Motive der Offenbarung Gottes am Sinai anklingen. So legt es eine Schrift des jüdischen Theologen und Philosophen Philo von Alexandria (geboren ca. 15/10 v. Chr.) nahe, in der er den Dekalog kommentiert. Hier schreibt er zur Erscheinung Gottes am Sinai (Exodus 19,16f):

«Eine Stimme ertönte darauf mitten aus dem vom Himmel herabkommenden Feuer (…), indem die Flamme sich zu artikulierten Lauten wandelte, die den Hörenden vertraut waren, wobei das Gesprochene so deutlich klang, dass man es eher zu sehen als zu hören glaubte.»1

Wenn am Schluss der Pfingsterzählung die Leute die «grossen Taten Gottes» erwähnen, die hier verkündet werden, dann könnte das ebenfalls auf die Exodus-Erzählungen anspielen.

Moses auf dem Berg Sinai, Jean-Léon Gérôme, 1895-1900.

Mitreissende Wirkungen

Lukas ruft mit seiner Pfingsterzählung also ein ganzes Repertoire an alttestamentlichen Motiven wach: von der Offenbarung Gottes am Sinai bis hin zur endzeitlichen Geistausgiessung. Schliesslich geht es Lukas um nichts weniger als um die Initialzündung zu der grossen Bewegung, die sich aus den kleinen Anfängen in Jerusalem entwickelt, als es nach dem Tod Jesu alles andere als sicher war, dass es überhaupt weitergehen würde. Jetzt aber, so sagt Lukas, habe diese Frauen und Männer eine unglaubliche Kraft gepackt, so dass sie wieder eine Zukunft sehen und diese gestaltend in die Hand nehmen konnten.

Diese Kraft habe alle, die ganze Gemeinde, erfasst. Alle waren sie nämlich am selben Ort versammelt, betont Lukas. Die Geistkraft legt sich also nicht nur auf einige herausragende Protagonisten der Jesusbewegung, sondern auf alle, so wie auch nach dem Propheten Joël der Geist sehr demokratisch alle erfasst, Frauen und Männer, Alte und Junge, Knechte und Mägde. So ist es auch am Anfang dessen, was sich später zur Kirche entwickeln sollte: Alle werden von der Geistkraft erfüllt, und alle beginnen in der Kraft dieses Geistes zu sprechen.

Diese Kraft wird von Lukas zunächst als ein hörbares Phänomen beschrieben, wie ein starker Wind, dessen Brausen zu vernehmen ist (V. 2). Dieser Wind erfüllt das ganze Haus, in dem sie beisammen sind, wird zur Luft, die sie nun atmen, eben Gottes lebensspendende ruach, die alles, was ist, mit ihrem Lebensatem erfüllt, stärkt und in Bewegung bringt. Es ist aber auch ein sichtbares Phänomen, so wie am Sinai Gottes Erscheinung zu hören und zu sehen war. Gottes Geist wird beschrieben wie Zungen von Feuer, die sich verteilen und auf alle Anwesenden legen (V. 3). Jeder, jede wird davon erfasst. Das hat eine unglaubliche Wirkung: Alle sprechen in anderen Sprachen (V. 4).

Ähnliche Phänomene werden auch in den Paulusbriefen erwähnt. In seinem ersten Brief nach Korinth spricht Paulus in einer langen Liste von Ostererscheinungen davon, dass nach dem Tod Jesu eine Gruppe von 500 Christusgläubigen solche aussergewöhnlichen Erfahrungen gemacht habe (1. Korintherbrief 15,3-7). Paulus selbst und viele andere Gemeindemitglieder kannten zudem die Erfahrung, von der Geistkraft so in Ekstase gebracht zu werden, dass sie in «Zungen» – wohl ebenfalls in anderen, meist unverständlichen Sprachen – redeten. Auch das Johannesevangelium erzählt davon, dass Jesus am Ostertag der Jüngergruppe den Geist übermittelt habe (Johannesevangelium 20,21–23). Vielleicht hat Lukas solche oder ähnliche Traditionen in seine Pfingsterzählung einfliessen lassen und alles zu seinem packenden Gemälde zusammengefügt.

Teil des dreifarbigen Pfingstfensters in der Kirche der Pfarrei Heiliggeist in Belp.

Damit zeigt er aber: Am Anfang der Kirche stehen Erfahrungen von Verwandlung und neuer Kraft. Aus Erstarrung wird Bewegung, aus Abgeschlossenheit das Verkünden auf öffentlichen Plätzen, aus Perspektivlosigkeit entstehen neue Ideen für die Gestaltung der Zukunft. Petrus steht auf und hält seine erste öffentliche Rede in der Apostelgeschichte, und diese Rede geht vielen zu Herzen. Gleich im Anschluss an die Pfingsterzählung erzählt Lukas davon, wie die Gemeinde nun mit vielen guten Ideen, in gegenseitiger Fürsorge und Gütergemeinschaft ihr Zusammensein gestaltet. Der ganze weitere Weg der Apostelgeschichte wird als Frucht der Wirkungen des Geistes gezeichnet.

Lukas zeichnet zweifellos ein Idealbild der frühen Zeit. Schon damals hatte es seine eigene Gemeinde, die in viel späterer Zeit und längst nicht mehr in Jerusalem lebte, offenbar nötig, mit solchen Idealbildern Stärkung und Orientierung zu erhalten. Es spricht ein grosses Vertrauen in die Mündigkeit der Frauen und Männer des Anfangs aus der Erzählung der Apostelgeschichte. Da ist niemand, der den Geist für sich gepachtet hätte. Da ist niemand, der Gottes Kraft erst übersetzen und vermitteln müsste. Alle erhalten diesen Geist, alle sind eingeladen, aus dieser Kraft zu leben und Gemeinde, Kirche und die Welt zu gestalten. Es ist eine ermutigende Geschichte von Aufbruch und Empowerment, von Überwindung von Angst und Mut zu neuen Wegen, von der Überschreitung von Grenzen und gelingender Kommunikation. Viele werden sich auch für die Kirche von heute ein so packendes Pfingstfest wünschen.

  1. Philo von Alexandria, Über den Dekalog 46.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Die synodale Versammlung zur Weiterentwicklung der katholischen Kirche in Basel 2021. zvg/wikimedia. / Bild 1: El Greco, Pfingsten, Öl auf Leinwand, um 1600, Museo del Prado Madrid. / Bild 2: Sturm am Meer. Unsplash@armandsbrants / Bild 3: Pentecost (Pfingsten), Tizian, Öl auf Leinwand, ca. 1545. Wikiart. / Bild 4: Moses auf dem Berg Sinai, Jean-Léon Gérôme, Öl auf Leinwand, 1895-1900. Wikimedia commons. / Bild 5: Teil des dreifarbigen Pfingstfensters in der Kirche der Pfarrei Heiliggeist in Belp. Gestaltet von Glaskünstlerin Heidi Reich, 1993. Kathbern.

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