Wer katholisch sozialisiert wurde, kennt sie gewiss, diese leicht süsslichen, sentimentalen Bilder von Jesus umgeben von einer Schar von Kindern und mit einem Kind auf dem Arm. Sie zeigen Jesus als netten Kinderfreund: ein Mann mit Herz für Kinder. Es ist eine kleinbürgerliche und verharmlosende Darstellung brisanter biblischer Texte. In diesen werden nämlich Rechtlosigkeit und Abhängigkeit thematisiert und Machtgehabe kritisiert.
Das «Kinderevangelium»
Die sogenannte Kindersegnung wird von allen drei Synoptikern, also im Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium überliefert. Sie erzählen nahezu identisch, wie die Jüngerschaft die Kinder von Jesus fernhält und abweist. Kinder scheinen ihnen nicht wert, beachtet zu werden. Jesus hingegen stellt sie ins Zentrum seiner Nachfolgegemeinschaft.
«Da brachte man Kinder zu ihm, damit er sie berühre. Die Jünger aber wiesen die Leute zurecht. Als Jesus das sah, wurde er unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.» (Markusevangelium 10,13-16)1
Bibelwissenschaftler:innen weisen darauf hin, dass das Verhalten der Jünger:innen als grob zu verstehen ist. Das verwendete griechische Wort epitiman wird vor allem im Zusammenhang mit Dämonenaustreibungen benutzt.2 Eine passendere Übersetzung als zurechtweisen ist also anherrschen.3 Sie herrschten die Kinder und ihre Begleitpersonen an: Was fällt euch ein? Was sucht ihr hier? Weg da!
Eine weitere Kinderszene erzählt uns das Markusevangelium einige Kapitel davor. Auch in dieser Szene – sie ist chronologisch gesehen die erste – geht es um das Unverständnis der Jünger:innen, die von ihrem Meister quasi eine Lektion erteilt kriegen. Denn sie begreifen nicht, um was es in der Nachfolge und Reich-Gottes-Verkündigung Jesu geht. Sie sind mit ganz anderen Dingen beschäftigt:
«Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr auf dem Weg gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander darüber gesprochen, wer der Grösste sei. Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.» (Markusevangelium 9,33-37; vgl. Matthäusevangelium 18,1-5 und Lukasevangelium 22,24-27)
Die Beschäftigung der Jüngerschaft mit Machtfragen macht deutlich, worum es dem Evangelisten Markus in den Kindertexten geht: um Strukturelles und eine Kritik an den ersten Gemeinden, die sich anfällig zeigen für Gruppenbildung und Herrschaftsstrukturen.4 Markus stellt die gängigen Muster auf den Kopf und fordert nichts weniger als einen Positionswechsel: «Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener (Sklave) aller sein.» Warum aber veranschaulicht er seine Aussage mit einem Kind?
Am äussersten Rand der Gesellschaft
Kinder hatten in biblischen Zeiten oftmals ein hartes Los.5 Ihre Mitarbeit auf dem Feld, beim Kleinvieh oder im Haushalt war überlebensnotwendig. Verarmte ihre Familie aufgrund von Missernten oder Krieg, gerieten sie nicht selten in Schuldsklaverei. Verloren sie einen Elternteil, waren sie schutzlos. Immer wieder taucht im Ersten Testament die Trias «Fremde, Witwen und Waisen» auf. Es sind dies die Verletzlichsten der Gesellschaft. Das israelitische Volk stellt sie unter den besonderen Schutz Gottes, um ihnen etwas Sicherheit zu verschaffen.
In der Sprache des Neuen Testaments, im Altgriechischen, gibt es zwei Begriffe für Kinder. teknon bezeichnet das Kind in seiner Beziehung zu seinen Eltern. In unseren Texten wird jedoch der Ausdruck paidion gebraucht, der ganz allgemein Kinder im gesellschaftlichen Kontext meint und sowohl Kind als auch Sklave/Sklavin bedeuten kann. Beide sind unmündig, rechtlos und «verfügbar», beide verrichten für Höhergestellte sogenannt niedrige Arbeit.
Zu den Aufgaben von Sklav:innen und Kindern gehört es beispielsweise, die Gäste des Hauses zu bedienen. Sie sind es, die ihnen die Sandalen aufschnüren, die Füsse waschen und sie bedienen, wenn sie zu Tisch liegen. Jesus und seine Anhänger:innen, so erfahren wir, halten sich «im Haus» auf und sind vermutlich gerade am Essen. Da wendet sich Jesus einem Kind zu – möglichweise ist es eines dieser Kindersklaven, möglicherweise ist es ein Kind der Familie –, und stellt es in die Mitte. Der Freiburger Theologe Markus Lau schreibt dazu:
«Das muss man sich plastisch vorstellen. Denn liest man genau, dann muss Jesus, um das Kind umarmen zu können, sich vor dem Kind klein machen. Denn Jesus nimmt es eben nicht auf seinen Arm, wie das in der Kunstgeschichte vielfach dargestellt wird, sondern umarmt es. Das aber ist nur möglich, wenn er sich vor dem kleinen Menschen selbst klein macht. Das ist eine waschechte Symbolhandlung»6
Kinder und das Reich Gottes
Kinder werden im Markusevangelium in eine enge Verbindung zum Reich Gottes gebracht. Sie sind gewissermassen die Tür dazu: «Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.» (Markusevangelium 10,15) Am Verhalten zu den Kindern und all jenen, die als klein und bedeutungslos gelten, entscheidet sich, ob man teilhat an Gottes neuer Welt. Damit sind gewöhnlich keine ersten Plätze oder Prestige zu gewinnen. Und doch verspricht Markus jenen, die den Kleinen mit Achtung und (Gast)Freundschaft begegnen, einen Gewinn: «Wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.» (Markusevangelium 9,37)
Ich möchte auf einen weiteren Aspekt hinweisen, den Jesus seinen Jünger:innen geradezu vor Augen führt, als er sich dem Kind zuwendet: er macht sich klein. Der Eintritt ins Reich Gottes bedingt ein wohlwollendes Handeln an den Kindern wie auch, zu werden wie die Kinder. Und damit ist eben nicht gemeint, dass Kinder unsere moralischen Vorbilder sind, da sie so einfach, vertrauensvoll, unschuldig, keusch oder was auch immer sind. Es geht um ihre gesellschaftliche Position. Nur wer nicht von oben herab handelt, auf Status verzichtet und sich nicht zu schade ist, Sklav:innenarbeit zu tun, tritt in Gottes Reich ein. Oder wie Markus es formuliert: wer «Diener:in aller» ist und den anderen so selbstverständlich dient, wie es die Kinder der damaligen Zeit tun (müssen). – Vielleicht können wir angesichts dieser Aufforderung etwas vom Unverständnis und dem Entsetzen der Jünger:innen nachvollziehen.
Jesu Sorge um die Kleinen
Zum Schluss noch ein Wort zu einer Stelle, die ich bis jetzt ausgeklammert habe, da sie schwierig zu übersetzen ist und unterschiedlich gedeutet wird. Sie drückt auf jeden Fall die grosse Sorge Jesu um die Kleinen aus. Zur Recht- und Schutzlosigkeit der Kinder und der «Kleinen» generell gehört auch, dass sie zu Opfer sexualisierter Gewalt werden können. Und so deutet der Jesuit Ansgar Wucherpfennig folgenden Abschnitt im Kontext von Missbrauch:
«<Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, ein Skandalon gibt (σκανδαλίσῃ; EÜ: <Ärgernis gibt>), für den wäre es besser, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.> (Mk 9,42; Mt 18,6) Jesus spricht hier in bildhafter Weise von Verletzungen, die den <Kleinen> angetan werden. Von dem griechischen Verb für <zu Fall bringen>, σκανδαλίζω, stammt das Wort Skandal. Ein σκανδαλον ist eigentlich ein Fallholz, das zwischen die Beine geworfen wird, etwa bei der Jagd, damit ein Tier strauchelt und verletzt oder halbtot liegen bleibt.»7
Für Wucherpfennig sind mit diesen Verletzungen, die Kindern angetan werden, sexuelle Übergriffe zumindest mitgemeint. Er argumentiert damit, dass in den Anschlussversen Warnungen ausgesprochen werden gegen Menschen, die durch ihre eigene Hand oder ein Auge selbst zu Fall kommen. Diese Verse haben Parallelen zu jüdischen Warnungen vor sexuellen Versuchungen oder zur Warnung vor sexuellen Verstössen in der Bergpredigt.
Die Schärfe der Worte und der Zusammenhang zu den Kindertexten im selben Kapitel sprechen dafür, dass Jesus damit Menschen im Blick hat, die sich an Kindern vergreifen.
«Mögliche Täter sollen auch schon beim ersten Aufkommen von Macht-, Unrechts- und Gewaltgedanken gegenüber <diesen Kleinen> nicht versuchen, irgendeine Form von Kompromiss mit ihnen einzugehen. Sonst geraten sie in eine Situation, in der sie ihre Machtwünsche und Gewaltgedanken nicht mehr zurücknehmen können.»8
Es lohnt sich, ja es gehört zu unserer Verantwortung als Theolog:innen und Christ:innen, der Verniedlichung der Kindertexte zu widersprechen und sie kritisch zu lesen. Sie schärfen unsere Sensibilität für Abhängigkeit und für Machtgehabe und übergriffiges Verhalten. So können die Texte zum Evangelium, d.h. zur guten Nachricht für Kinder und andere Kleine werden.
- Vgl. Lukasevangelium 18,15-17 und Matthäusevangelium 19,13-15. Die Texte spielten in der Theologiegeschichte eine wichtige Rolle bei der Frage der Kindertaufe, wobei beide Seiten ihre Position damit belegten.
- Vgl. Martin Ebner: «Lasst die Kinder zu mir kommen…». Das «Kinderevangelium» des Markus, in: Kinder in der Bibel 41 (2005), S. 14-16, S. 16. Dasselbe Wort wird auch in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und Petrus, der nicht will, dass Jesus leidet und auf der Verliererseite steht, benutzt (Markusevangelium 8,32f.). Die Lutherbibel übersetzt einmal mit «zurechtweisen» (Vers 32), in der Reaktion Jesu in Vers 33 aber treffender mit «bedrohen».
- So das Neue Testament in der Übersetzung von Fridolin Stier (München 1989) oder die Bibel in gerechter Sprache (Gütersloh 22006).
- Vgl. Martin Ebner: Lasst die Kinder, sowie im selben Heft der Praxisteil in der Mitte von Dieter Bauer: Jesu Sorge um die Kleinen.
- Vgl. Bettina Eltrop: Art. Kinder/Kindheit, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Wörterbuch im Internet (WiReLex) sowie Christl Meier/Karin Lehmaier: Art. Kinder, in: Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, S. 293f.
- Markus Lau: Die Versuchung der Macht. Neutestamentliche Gegenentwürfe, Zürich 2020, S. 47.
- Ansgar Wucherpfennig: Kinder in den neutestamentlichen Gemeinden: Potenzielle Opfer sexualisierter Gewalt, in: Bibel und Kirche 78 (2023), S. 26-32, hier S. 27.
- Ansgar Wucherpfennig: Kinder, S. 30.
Bildnachweise: Titelbild: Kinder spielen mit einem Regenbogentuch. Unsplash@artem_kniaz / Bild 1: Jesus mit den Kindern, Carl Bloch, Datum unbekannt, Öl auf Kupfer, heute im nationalhistorischen Museum im Schloß Frederiksborg (Dänemark). Wikimedia commons / Bild 2: Ein Haus steht auf dem Kopf und ein Kind läuft vorbei. Unsplash@itsaroadmap / Bild 3: Statue von Jesus mit zwei Kindern. Wikimedia Commons / Bild 4: Wildes Meer mit Kliff. Unsplash@amutiomi
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