Gott ist Geheimnis. Gläubige Menschen verschiedener Religionen ahnen, dass das Göttliche geheimnisvoll ist – und bleibt. Gott lässt sich nicht begreifen. Kein Mensch kann über Gott verfügen. Was aber folgt aus dieser Einsicht für die Weitergabe des Glaubens?
Im Religionsunterricht, bei der seelsorglichen Begleitung von Menschen, aber auch wenn es um die Spiritualität ganz allgemein geht, stellt sich immer wieder die Frage: Wie können Menschen in Berührung kommen mit dem Göttlichen? Wie kann es gelingen, einen Zugang zu schaffen zu dem, was alle menschliche Wirklichkeit übersteigt – und was gleichzeitig den Menschen im Tiefsten betrifft?
Religion ist nicht (nur) eine Sache des Verstandes. Und in der Religion geht es um mehr als um bewegende sinnliche Erfahrungen. Beide Ebenen, die kognitive und die körperliche sind wichtige Bestandteile des Glaubens. Denn Glaube will gelebt und auch reflektiert werden. Sowohl im Erleben als auch in der Reflexion berührt der Mensch jedoch ein «Mehr». Dieses «Mehr» macht das Erleben und die Reflexion zu einer unabschliessbaren Angelegenheit. Gläubige Menschen nennen es «Gott» – und wahren so in ihrem Gottesbegriff das Unergründliche, Unverfügbare, Geheimnisvolle.
Mystagogie
Wie kann nun aber vermittelt werden, was sich gar nicht fassen und auf einen Nenner bringen lässt? Das göttliche Geheimnis (griech. mysterion) erfordert eine besondere Didaktik. Im Griechenland der Antike hat sich für die Vermittlung des Glaubens als Geheimnis der Begriff «Mystagogie» herausgebildet. Übersetzen lässt sich dieser Begriff mit «Einführung ins Geheimnisvolle». Das Christentum hat das Konzept der Mystagogie von den antiken Mysterienkulten übernommen, in denen es ursprünglich beheimatet war, und insbesondere auf die Liturgie übertragen: Die liturgischen Vollzüge wurden nicht nur gemeinsam praktiziert, sondern den Teilnehmer:innen dabei auch in ihrem tieferen Sinn erläutert. Dahinter steckt folgende Vorstellung: In der christlichen Liturgie geht es um viel mehr(!), als dem blossen Auge sichtbar ist. So können Aussenstehende zwar genau mitverfolgen und beschreiben, was in der Feier der versammelten Gemeinde vor sich geht. Doch für die Gläubigen spielt sich diese Feier sozusagen nicht nur auf der Oberfläche ab. Vieles von dem, was hier geschieht, erschliesst sich nur denjenigen, die selbst aktiv an der Feier teilnehmen. Die einzelnen Handlungen und Vollzüge haben für sie einen tieferen Sinn.
Im 20. Jahrhundert hat der katholische Theologe Karl Rahner (1904–1984) den Begriff «Mystagogie» wieder ins theologische Bewusstsein gehoben – und für seine Zeit angewandt. Nicht allein die Liturgie, sondern das gesamte Leben des Menschen bietet demnach einen Ort und Anlass zur Einführung in das (göttliche) Geheimnis.
Im Folgenden soll der Denkweg Karl Rahners 1 schrittweise nachgegangen werden:
Die Welt von heute
Mutiger als viele theologische Denker seiner Zeit hat Rahner formuliert, was im Grunde immer offensichtlicher wurde: Der christliche Glaube ist nicht mehr selbstverständlich. Die Gesellschaft wird nicht mehr massgeblich vom christlichen Weltbild geprägt. Dass die Welt damit zunehmend «weltlich» in Erscheinung tritt, rief aus gläubiger Sicht die Frage auf den Plan, ob sie damit nicht auch gottloser wird. Dies hat Rahner entschieden verneint. Zwar führte aus seiner Sicht kein Weg daran vorbei, die Welt in ihrer Eigendynamik anzuerkennen, wollte man den Menschen wirklich ernst nehmen. Gleichzeitig wollte Rahner auch – den christlichen Glaubensüberzeugungen folgend – an Gott und seiner Erfahrbarkeit (in dieser Welt) festhalten.
Die Vorstellung von Gott
Wenn Gott als Geheimnis gedacht wird, dann sprengt Gott jeden Rahmen des Denkens und Erlebens, weil Gott immer «mehr» ist als sich sagen, (be)greifen, ergründen, begründen, erfassen, erfahren… lässt. Entscheidend für Rahners Vorstellung von Gott ist zudem, dass Gott nicht von aussen in die weltliche und menschliche Wirklichkeit hineinkommt. Gott ist der Grund von allem, was ist. Und somit ist Gott dieser Welt weder fremd noch äusserlich. Das hat zur Folge, dass Gott im Leben eines Menschen da ist und wirken kann, noch bevor dieser Mensch beginnt, an Gott zu glauben und sich diesem Gott (bewusst) zuzuwenden. Mehr noch: Gottes Dasein und Wirken sind ganz und gar unabhängig davon, ob jener Mensch sich überhaupt je mit dem göttlichen Geheimnis aktiv auseinandersetzt.
Das Verständnis vom Menschen
Der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er mitten in dieser Welt lebt – und also durch und durch «weltlich» ist. Zum Menschsein gehört es aber auch, sich die Frage nach dem eigenen Woher und Wohin zu stellen. Dass die Sinnfrage den Menschen durch sein Leben begleitet bzw. immer wieder aufpoppt, mag darauf hinweisen, dass der Mensch über sich hinausweist und sich selbst nie genug ist. Vor dem Hintergrund von Rahners Gottesbild lässt sich festhalten: Der Mensch lebt immer schon mit Gott in Berührung, da Gott Ursprung und Ziel von allem Sein ist. Durch diese existentielle Verbundenheit mit dem geheimnisvollen Gott kann auch der Mensch selbst als Geheimnis betrachtet werden. Dass (auch) Menschen unergründlich sind und sich auf keine Formel bringen lassen, erahnen wir im menschlichen Zusammensein. In solchen Begegnungen mit anderen Menschen – aber auch, wenn ich ganz bei mir bin, ist daher Gott anzutreffen – ob ich das nun in irgendeiner Weise spüre oder nicht.
Die Deutung des Alltags
Gott ist der geheimnisvolle Grund von allem, was ist; davon geht Karl Rahner in seinem Verständnis von Mystagogie aus. Und umgekehrt lässt sich dann auch sagen: Die ganze Wirklichkeit hat an sich etwas Geheimnisvolles, Unverfügbares, Unergründliches. Dadurch gewinnt das alltägliche Leben eine religiöse Dimension: Denn überall kann Gottes Gegenwart entdeckt werden; es braucht dazu keine exklusiven Räume und vorgegebene Zeiten. Wo immer Menschen an das Geheimnis rühren, an das, was die Wirklichkeit in ihrem Grunde ausmacht und übersteigt, findet Gottesbegegnung statt – mitten im Alltag.
Die Weitergabe und Vermittlung des christlichen Glaubens brauchen demnach keine langen «Anfahrtswege». Sie kann bei dem ansetzen, was bei den Menschen bereits «da» ist. Die grössere Herausforderung mag es sein, das Geheimnis sein zu lassen, es nicht auflösen und so den Glauben auf einen greif- und reproduzierbaren Nenner bringen zu wollen. Wo es gelingt, das göttliche Geheimnis – oder: den geheimnisvollen Gott – im Leben eines Menschen bewusst zu machen, da werden Wege gebahnt zu einem persönlichen Glauben und einer gelebten Spiritualität.
- Vgl. dazu exemplarisch: Karl Rahner: Frömmigkeit früher und heute, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 23: Glaube im Alltag. Schriften zur Spiritualität und zum christlichen Lebensvollzug. Bearbeitet von Albert Raffelt, Freiburg i.Br. 2006, 31-46.
Bildnachweise: Titelbild: Eine Person gibt einer anderen einen Flyer. Unsplash@benwhitephotography / Bild 1: Sand rieselt durch zwei Hände. unsplash@hazardos Bild 2: Karl Rahner (links im Foto) im Jahr 1974 / Bild 3: Alltagsszene mit Auto und Kreuz im Hintergrund
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