Gott zu Besuch bei Abraham und Sarah

Die Erzählung von Gottes Besuch bei Abraham und Sarah gehört zu den bekanntesten der Bibel (Genesisbuch 18,1-15). Das wirklich Erstaunliche der Erzählung wird jedoch häufig übersehen: Dass Gott hier nämlich als ganz unkonventionell beschrieben wird, ja, dass Gott aus «Rollen» ausbricht, die Menschen Gott üblicherweise zuschreiben.

Es gibt verschiedene Arten, wie Menschen von Gott reden. Häufig wird mit abstrakten Begriffen formuliert: Gott ist «Liebe», Gott ist «Geist», Gott ist der:die «ganz Andere», das «Geheimnis des Lebens», die «Idee des Guten» usw. Im Genesisbuch und andern biblischen Schriften wird nicht abstrakt, sondern narrativ von Gott geredet: Um zu beschreiben, in welcher Weise an Gott geglaubt wird und welches Gottesbild die Menschen haben, wird eine Erzählung über Gott entworfen. Es wird erzählt, wie Gott handelt, wie Gott beispielsweise die Welt erschafft oder Gebote erlässt, und wie Gott Menschen erscheint und mit ihnen redet. Diese narrative Theologie (erzählende Rede von Gott) ist nicht unkritisch oder naiv, denn die Erzählungen sind nicht wortwörtlich als Berichte über historische Ereignisse zu verstehen. Vielmehr stellen die Erzählungen eine tiefsinnige und oft auch selbstkritische und humorvolle Reflexion des eigenen Gottesbildes und der eigenen Glaubensgeschichte dar. So reflektieren etwa die Erzelternerzählungen insgesamt das Zusammenwachsen verschiedener Stämme und Traditionen zum einen Volk Israels / Judas und die Beziehung zu den Nachbarvölkern (Genesisbuch 12–50).

Abraham und die drei Engel, Byzantinisches Mosaik in Monreale, Sizilien

Genesis 18

Mit der Gattung Familienerzählung wird die eigene Religions-/Volksgeschichte reflektiert. Abraham, Sarah, Hagar, Isaak, Rebekka, Jakob, Rahel, Lea sind keine Nomad:innen in grauer Vorzeit. Sie stehen vielmehr als Identifikationsfiguren für die Stammes- und Religionsgeschichte, wobei Abraham und Sarah für das ganze Volk Israel mit Juda stehen. Wenn also im Genesisbuch von Abraham und Sarah erzählt wird, so wird von der eigenen Identität als jüdisches Volk erzählt.

Abraham und Sarah wurden von Gott berufen, ein Segen für andere zu sein (Genesis 12). Nach manchen Irrungen und Wirrungen sind sie in Mamre (im heutigen Hebron) sesshaft geworden. Was ihnen fehlt, ist eine Zukunft als Volk, das heisst in der Gattung Familienerzählung ein Nachkomme. In diese Situation hinein wird folgende Erzählung entworfen:

1 Gott erschien Abraham bei den Eichen von Mamre, während er bei der Hitze des Tages am Eingang des Zeltes saß. 2 Er erhob seine Augen und schaute auf, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Als er sie sah, lief er ihnen vom Eingang des Zeltes aus entgegen, warf sich zur Erde nieder 3 und sagte: Mein Herr, wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, geh doch nicht an deinem Knecht vorüber! 4 Man wird etwas Wasser holen; dann könnt ihr euch die Füße waschen und euch unter dem Baum ausruhen. 5 Ich will einen Bissen Brot holen, dann könnt ihr euer Herz stärken, danach mögt ihr weiterziehen; denn deshalb seid ihr doch bei eurem Knecht vorbeigekommen. Sie erwiderten: Tu, wie du gesagt hast! 6 Da lief Abraham eiligst ins Zelt zu Sara und rief: Schnell drei Sea feines Mehl! Knete es und backe Brotfladen! 7 Er lief weiter zum Vieh, nahm ein zartes, prächtiges Kalb und übergab es dem Knecht, der es schnell zubereitete. 8 Dann nahm Abraham Butter, Milch und das Kalb, das er hatte zubereiten lassen, und setzte es ihnen vor. Er selbst wartete ihnen unter dem Baum auf, während sie aßen. 9 Sie fragten ihn: Wo ist deine Frau Sara? Dort im Zelt, sagte er. 10 Da sprach er: In einem Jahr komme ich wieder zu dir. Siehe, dann wird deine Frau Sara einen Sohn haben. Sara hörte am Eingang des Zeltes hinter seinem Rücken zu. 11 Abraham und Sara waren schon alt; sie waren hochbetagt. Sara erging es nicht mehr, wie es Frauen zu ergehen pflegt. 12 Sara lachte daher still in sich hinein und dachte: Ich bin doch schon alt und verbraucht und soll noch Liebeslust erfahren? Auch ist mein Herr doch schon ein alter Mann! 13 Da sprach Gott zu Abraham: Warum lacht Sara und sagt: Sollte ich wirklich noch gebären, obwohl ich so alt bin? 14 Ist denn für Gott etwas unmöglich? Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich wieder zu dir kommen; dann wird Sara einen Sohn haben. 15 Sara leugnete: Ich habe nicht gelacht. Denn sie hatte Angst. Er aber sagte: Doch, du hast gelacht. (Genesisbuch 18,1-15)

Wenn wir diese Erzählung als Nachdenken über das eigene Gottesbild, die eigene Religiosität, verstehen, so überraschen zumindest drei Aussagen.

 

Gott sehen?

Es gehört zum jüdisch-biblischen «Credo», dass kein Mensch Gott sehen kann (vgl. Exodusbuch 33,18-23). Von Abraham wird jedoch in Genesis 18 wie selbstverständlich erzählt, dass er am Zelteingang sitzt, seine Augen erhebt und drei «Männer» sieht (Vers 2), von welchen zumindest einer als Gott (Jhwh) bezeichnet wird (Verse 1.13f). Das Unmögliche wird hier als Möglichkeit geschildert: Ein Mensch sieht Gott – weil Gott den Menschen besucht, weil Gott entgegen seiner gewöhnlichen «Rolle» als Unsichtbarer, Unfassbarer für einmal so beschrieben wird, dass Gott sich sehen lassen will (vgl. auch Exodus 24,9-11).

Ein einziger Gott – oder drei?

Weiter ist es biblisch ebenso unaufgebbare Glaubenssache, dass es nur einen einzigen Gott gibt.1 Doch in Genesis 18 erscheint Gott dem Abraham so, dass Abraham drei Männer dastehen sieht (Vers 2). Das Aussergewöhnliche für die damalige ziemlich patriarchale Zeit ist nicht, dass hier «Männer» (hebr. anaschim) erscheinen, sondern dass es drei an der Zahl sind, drei menschliche Gestalten, welche der Text in geheimnisvoller Schwebe lässt zwischen Gott, Menschen und Engeln (vgl. Genesisbuch 19,1.15). Jene christlichen wie jüdischen Versuche,2 welche die drei Gestalten eindeutig erklären wollen – sei es als Trinität, als drei prophetische Männer, als Jhwh und zwei Engel –, bleiben hinter dem Rätselhaften der Erzählung zurück. Und vielleicht will Genesis 18 genau dies: Das Geheimnisvolle Gottes betonen, den Glauben zum Ausdruck bringen, dass Gott vielfältiger ist, als wir es uns vorstellen können, dass Gott immer wieder überraschend, immer wieder anders, grösser – mitunter aber auch kleiner, sprich: menschlicher erscheinen kann, als unser «Drehbuch» es vorsieht.

Rollenwechsel – oder: Isst Gott unkoscher?

Drittens ist es normalerweise Gott, Schöpferin allen Lebens, der den Menschen Nahrung gibt zur rechten Zeit (Psalm 104,27; 145,15) und die Menschen zu einem Festmahl einlädt (Jesajabuch 25,6; Matthäusevangelium 22,1-14). In Genesis 18 werden jedoch die Rollen getauscht: Gott erscheint als Gast und lässt sich von Sara, Abraham und deren Knecht bekochen. Am meisten überrascht dabei, was Abraham den göttlichen Gästen zum Essen vorsetzt: Abraham trägt ihnen «Butter, Milch und Kalbfleisch» auf – und sie essen davon (Vers 8)! Damit übertritt Gott aber eines der grundlegendsten biblischen Speisegebote.3 Neben der Einteilung in reine (zum Essen erlaubte) und unreine (zum Essen nicht erlaubte) Tiere (Levitikusbuch 11) sowie dem Verbot, Blut zu essen (Genesisbuch 9,4; Levitikusbuch 17,11f), woraus das Schächten als Schlachtmethode resultiert, lautet das grundlegende Speisegebot:

«Du sollst ein Böckchen nicht in der Milch seiner Mutter kochen» (Exodusbuch 23,19; vgl. 34,26; Deuteronomiumbuch 14,21).

Lammspiesse mit Granatapfelkernen

Gewiss, die Erzählung in Genesis 18 sagt nicht explizit, dass das Kalbfleisch in Milch (seiner Mutter) gekocht wurde. Und ab welcher Zeit genau Milch(speisen) und Fleisch im Judentum nicht zusammen gegessen wurden, ist eine nicht vollständig geklärte Frage. Und dennoch lässt dieser Speiseplan für Gott aufhorchen: Will die Erzählung etwa sagen, Gott übertrete die eigenen Gebote, Gott esse unkoscher?

Auslegungsversuche

Zahlreiche jüdische Auslegungen nehmen diese Brisanz des Textes durchaus wahr. Sie versuchen zumeist, die Sachlage zu mildern: So wird beispielsweise behauptet, das Fleisch sei erst später aufgetragen worden –, was keinen Anhalt im Text hat. Oder es wird argumentiert, die Speisegebote seien erst seit Mose in Kraft getreten und nicht schon bei Abraham. Diese Argumentation hat etwas für sich, doch ganz zu überzeugen vermag auch sie nicht: Warum sollte Gott hier etwas in derart exponierter Weise tun, was Gott «später» verbieten wird? Historisch gesehen ist Genesis 18 zudem mit grosser Wahrscheinlichkeit viel später (erst nachexilisch) entstanden als das Speisegebot in Exodus 23,19, das sich im Bundesbuch befindet (Exodus 20,22–23,33).

Gott durchbricht religiöse Konventionen

So liegt die Annahme nahe, dass die biblische Erzählung hier Gott ganz bewusst religiöse Konventionen durchbrechen lässt, die sonst für unumstösslich gelten. Es wird damit eine Gewichtung der biblischen Gebote vorgenommen: Wichtiger als kultisch-religiöse Gebote ist gemäss Genesis 18 die Annahme der menschlichen Gastfreundschaft! Gott is(s)t, wo man ihn einlädt, kann in Anlehnung an das berühmte Diktum von Menachem Mendel von Kozk gesagt werden: «Gott wohnt, wo man ihn einläßt»4. Die jüdische Tradition kann im Talmud mit Bezug auf Genesis 18 sogar sagen: «Gäste zu bewirten ist grösser, als das Angesicht Gottes bzw. der Schekinah zu empfangen» (Talmud, bShabbat 127a).

Genesis 18 formuliert zudem die Überzeugung, wichtiger als kultisch-religiöse Normen sei für Gott die Verheissung der Zukunft: Abraham und Sara wird ein Kind verheissen, das für die Zukunft Israels steht. Beiden erscheint diese Zukunftsverheissung so unglaublich, dass sie darüber lachen, zuvor schon Abraham (Genesis 17,17), nun Sarah (18,12-15).

Sarah hört und lacht, James Tissot, 1996–1901 n. Chr.

Gott – vielfältiger, überraschend, unverfügbar

Genesis 18,1-15 bringt somit in verschiedenen Facetten die Überzeugung zum Ausdruck, dass wir Gott nicht in ein einziges Bild zwängen sollen und dass wir nicht definieren können, wie Gott ist. Gott ist mehr, vielfältiger, unverfügbar. Für Gott ist nichts unmöglich (Vers 14) – nicht das Verheissen von Zukunft für Sarah und Abraham, aber auch nicht das Ausbrechen aus Rollen, die wir Menschen Gott üblicherweise zuschreiben.

Offenheit für Veränderungen

In all dem wird auch gesagt, dass der persönliche Glaube ebenso wie die Religionsgemeinschaft offen sein sollen für Veränderungen, für Neues, für Entwicklungen. Persönlicher Glaube muss sich entwickeln können, um tragfähig zu bleiben. Religionsgemeinschaften müssen sich verändern, aktualisieren können, um eine Zukunft zu haben.

Für die heutige Zeit und einen christlichen Kontext formulierte diese Offenheit für Veränderungen und Überraschungen des Gottesglaubens der Berner Pfarrer und Dichter Kurt Marti (1921–2017) in einem Gedicht zum Ausdruck gebracht:

Noch bevor wir dich suchen, Gott,
warst du bei uns.
Wenn wir dich als Vater anrufen,
hast du uns längst schon wie eine Mutter geliebt. Wenn wir Herr zu dir sagen,
gibst du dich als Bruder zu erkennen. Wenn wir deine Brüderlichkeit preisen, kommst du uns schwesterlich entgegen. Immer bist du es,
der uns zuerst geliebt hat. […]5

  1. Vgl. u. a. Deuteronomiumbuch 6,4; Jesajabuch 44,6; Markusevangelium 12,29; Lukasevangelium 18,19.
  2. Vgl. etwa den Überblick im sehr lesenswerten Genesiskommentar des Rabbiners Benno Jacob: Das erste Buch der Tora. Genesis, (Berlin 1934) Nachdruck Stuttgart 2000, 435-437.
  3. Vgl. Kathrin Gies: Speisegebote, auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/30106/ [25.8.2024].
  4. Überliefert in Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, 785.
  5. Kurt Marti: Gottesbefragung. Der 1. Johannesbrief heute, Stuttgart 1982, 150.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Abraham und die drei Engel, Jacopo Vignali, erste Hälfte 17. Jahrhundert, Öl auf Leinwand. Heute im Hermitage Museum, St. Petersburg, Russland. Wikimedia Commons / Bild 1: Abraham und die drei Engel, Byzantinisches Mosaik in Monreale, Sizilien, Italien. Wikimedia Commons / Bild 2: Lichter gesehen durch eine Brille. Unsplash@stevenwright / Bild 3: Lammspiesse mit Granatapfelkernen. Unsplash@ahungryblonde_ / Bild 4: Sarah hört und lacht (Sara rit en écoutant). James Tissot, Gouache auf einem Brett, circa 1896-1901. Wikimedia Commons.

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