Was haben ein Popkonzert, ein Fussballspiel und eine Zusammenkunft von Christ:innen gemeinsam? – Alle drei sind Versammlungsorte, an denen gesungen wird.
Das ist umso bemerkenswerter als es in den heutigen westlichen Gesellschaften nur wenige Räume und Gelegenheiten gibt, ungezwungen und ohne besondere Ansprüche und Erwartungen miteinander zu singen.
Wir sind eine Gemeinschaft
Niemand muss sich darum sorgen, nicht gut genug zu singen, es geht nämlich nicht um künstlerische «Perfomance», nicht darum, vor Publikum aufzutreten. Hier sind die Zuhörenden die Singenden selber. Ihr Gesang ermöglicht es ihnen, Teil des Geschehens zu sein, sich aktiv daran zu beteiligen und sich mit ihm emotional zu identifizieren. Wer einen Song von Taylor Swift mitsingt, outet sich als «Swiftie»; wer im Stadion singt, unterstützt seine Mannschaft und bekennt sich als ihr Fan.
Auch beim Singen in der christlichen Gemeinde geht es um Partizipation, Identifikation und Bekenntnis. Singend nehmen wir am Gottesdienst teil, wir tragen gemeinsam den Gottesdienst, wir bringen den Glauben gemeinschaftlich zum Ausdruck.
Dabei darf es keinen Gruppendruck geben, die einzelne Person muss in jedem Moment frei sein, ob und wie stark sie sich singend einbringt. Aus dem Singverhalten der einzelnen Person darf nicht auf ihren Glaubensstand geschlossen werden. Es kann die verschiedensten Gründe geben, warum jemand nicht mitsingen möchte. Wie eine Gemeinde als Ganze singt, kann gleichwohl als Indikator für ihre Lebendigkeit betrachtet werden. «Im Singen gibt die Kirche und geben die Christen kund, dass sie glauben, wem sie glauben, was sie glauben und wie sie glauben.»1
Wir haben eine lange Tradition
Das gemeinsame Singen zieht sich durch die ganze jüdisch-christliche Geschichte. Es versteht sich als geistgewirkte Antwort auf eine miteinander geteilte, existenzielle Erfahrung mit Gott. Was nicht mit Worten allein gesagt werden kann, das verlangt nach Gesang. Der kann die Form des Lobpreises und Dankes, der Bitte oder auch der Klage annehmen.2
Nach der Befreiung aus der Sklaverei und dem Durchzug durch das Rote Meer sangen Mose, Mirjam und die Israeliten ein Siegeslied (Exodus 15). Die Psalmen sind zum grossen Teil Gesänge. Auch Jesus wird sie gesungen haben, biblisch bezeugt ist, dass er nach dem letzten Mahl mit seinen Jüngern einen Lobgesang anstimmte (Markusevangelium 14,26).
Im Neuen Testament finden sich Lieder, die wohl im Gottesdienst der Gemeinde gesungen wurden (z.B. Philipperbrief 2,5-11). In den Apostelbriefen werden die Gemeinden immer wieder aufgerufen: «Singt Gott Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder in Dankbarkeit in euren Herzen!» (z.B. Kolosserbrief 3,16). Einem Bericht des römischen Statthalters Plinius an Kaiser Trajan zufolge, soll das Singen von Liedern zum Kennzeichen der christlichen Versammlung im 1. Jahrhundert gehört haben.3
Es gab in der Kirche auch kritische Stimmen, die das Singen der Gemeinde beschränken und kontrollieren wollten. Mit der Entfaltung der Liturgie ab dem 4. Jahrhundert ging der Gesang allmählich an Spezialisten über: an den Kantor und die Schola, die zum Stand der Kleriker und Ordensleute gehörten. Die Gemeinde fand aber stets Wege, sich mit Akklamationen oder Volksliedern zu beteiligen. Davon zeugen etwa die ältesten deutschsprachigen Kirchenlieder, «Leisen» genannt», die aus Einschüben in das «Kyrie eleison» hervorgingen.4
Es bewegt mich, dass wir diese und andere alten Kirchenlieder bis heute singen und uns so mit Glaubensgeschwister verbinden, die Jahrhunderte vor uns gelebt haben.
Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) hat den Stellenwert des gemeinsamen Singens neu hervorgehoben. Der Grundlagentext des Konzils zur Liturgie erwähnt noch vor den Liedern sogenannte «Akklamationen», «Responsorien» und «Antiphonen».5 Dass es sich hierbei um eine einfache, wirkungsvolle Art gemeinsamen Singens handelt, die keine Notenkenntnisse voraussetzt, machen Fangesänge im Sport deutlich: Auf den Zuruf des Vorsängers, Capo genannt, «antworten» alle mit einem Gegenruf.6 Das «call and response»-Prinzip ist typisch u.a. für Spirituals und Gospels.7
Wir wirken mit und handeln gemeinsam
Partizipation (Teilnahme, Teilhabe) ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit.8 Er begegnet in Schule und Erziehung, im Beruf und in der Freiwilligenarbeit, in der Politik und auch in der Kirche.
Für das jüngste Konzil ist «tätige Teilnahme» (lateinisch: participatio actuosa) zu einem Schlüsselbegriff mit eminent theologischer und ekklesiologischer9 Bedeutung geworden. Gemäss 2. Vatikanum sind alle Getauften auf der Grundlage des allgemeinen Priestertums zur Teilnahme an der Liturgie berechtigt und verpflichtet.10
Wenn davon die Rede ist, dass ein Gottesdienst partizipativ sein soll, wird oft an die Verständlichkeit der Sprache gedacht, an die Niederschwelligkeit der Riten, an die Mitwirkung möglichst vieler bei der Gottesdienstgestaltung, an das Vortragen von Texten und Sprechen von Gebeten. Dabei machen das Konzilsdokument zur Liturgie und die nachfolgenden Ausführungsbestimmungen deutlich, dass sich «tätige Teilnahme» hauptsächlich und primär im Gesang im Gottesdienst realisieren lässt.11
In der Tat findet beim gemeinsamen Singen Teilnahme nicht nur auf der individuellen, sprachlichen und diskursiven Ebene statt, sondern es wird darüber hinaus eine körperliche und emotionale Beteiligung möglich. Hierarchien und Machtstrukturen verlieren an Bedeutung; laute und leise, hohe und tiefe Stimmen mischen sich.
Wir sind Kirche
Die Singenden bringen mit ihrer Stimme ihre je eigene Persönlichkeit ein und erfahren sich gleichzeitig als Teil eines grösseren Ganzen, in dem sie nicht vollständig aufgehen, zu dem sie sich aber zugehörig fühlen. Sie bilden eine Gemeinschaft von Individuen, die sich gegenseitig ihres Glaubens versichern und ihn bekräftigen. Sie erleben sich als Menschen, die gemeinsam gottesdienstlich handeln.12 Darin zeigt sich mündiges Christsein und verwirklicht sich Kirche als vielfältige, in Christus versammelte und geeinte Gemeinschaft.13
- Philipp Harnoncourt: Gesang und Musik im Gottesdienst, in: Harald Schützeichel, Die Messe. Ein kirchenmusikalisches Handbuch, Düsseldorf 1991, S. 9-25, hier S. 15.
- Zur Theologie und Geschichte vgl.: Singen und Musizieren, in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. Teil 3, Regensburg, 2. Aufl. 1990, S. 131-179.
- Vgl. Martin Hengel: Das Christuslied im frühesten Gottesdienst, in: Weisheit Gottes – Weisheit der Welt. Band 1. Hg. von Walter Baier u.a., St. Ottilien 1987, S. 257-404.
- Vgl. Singen und Musizieren, in: Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. Teil 3, Regensburg, 2. Aufl., 1990, S. 131-179, hier S. 167.
- Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1963), Nr. 30.
- Vgl. Susanne Kübler: Die Kurve klingt
- Vgl. Call and Response – Wikipedia
- Vgl. Partizipation – Wikipedia
- Ekklesiologie = die Lehre über die Kirche.
- Liturgiekonstitution Nr. 14. Die Publikationen zu diesem Begriff sind unüberschaubar geworden. Vgl. etwa die online zugänglichen Artikel: Josef-Anton Willa: Gottesdienst geht alle an : Schweizerische Kirchenzeitung; Julia Knop: Participatio actuosa: Liturgie feiern – Kirche sein, in: Liturgie und Ökumene. Grundfragen der Liturgiewissenschaft im interkonfessionellen Gespräch. Hg. v. BirgitJeggle-Merz/Benedikt Kranemann: Freiburg i. Br. 2013, S. 240-254: Knop_049.pdf; Birgti Jeggle-Merz: Tätige Teilnahme in Sacrosanctum Concilium. Stolperstein oder Impulsgeber für gottesdienstliches Feiern heute?, in: Liturgisches Jahrbuch 63 (2013), S. 153-166: Jeggle-Merz_070.pdf
- Liturgiekonstitution Nr. 30.
- Vgl. hierzu die Abschnitte «Musikalische Gemeinschaft» und «Kompetenz zur Teilnahme», in: Achim Budde: Gemeinsame Tagzeiten. Stuttgart 2013, hier S. 166-173.
- Vgl. Albert Gerhards: «Mehr als Worte sagt ein Lied.» Theologische Dimensionen des liturgischen Singens, in Musica Sacra 114 (1994), S. 509-513.
Bildnachweise: Fusballfans im Stadion. unsplash@guoshiwushuang / Bild 1: Taylor Swift auf der „1989“ Welttournee. unsplash@chazmcgregor / Bild 2: Die große Psalmenrolle aus Qumran mit hebräischer Transkription, entstanden zw. 30 und 50 n. Chr. Wikimedia Commons, The Israel Antiquities Authority / Bild 3: Liedblatt. Unsplash@tylercallahan
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