Die Bibel ist mehr als ein Text. Sie ist ein Buch, das man anfassen, in die Hand nehmen und worin man blättern kann. Zu den sogenannten Buchreligionen zählt man gemeinhin das Judentum, das Christentum und den Islam. Was hier interessiert, sind nicht dogmatische Gemeinsamkeiten oder Unterschiede, sondern das Medium «Buch» und der konkrete Umgang damit.
Von der Schriftrolle zum Codex
Die Entstehung des Christentums in den ersten Jahrhunderten n.Chr. geht einher mit einer Medienrevolution. Neben der Schriftrolle als weithin verbreitete Buchform1 kam in der römischen Kaiserzeit der Codex auf und setzte sich nach und nach durch. Dieser bestand aus beschriebenen Blättern aus Papyrus oder Pergament, die aufeinandergelegt, gebunden und zwischen zwei Holzplatten oder Karton gesteckt wurden. Christ:innen setzten voll auf die neue Buchform. Das Eingebundene war durch die Buchdeckel geschützt und so leichter aufzubewahren. Vor allem aber war die Handhabung bequemer, konnte man doch einfach etwas nachschlagen.
«Ein Kodex kann man an jeder Stelle aufschlagen. Wer bei einer Buchrolle eine bestimmte Passage aufrufen will, hat zu tun. Dauert es zu lange, kann er <durchdrehen>. Erst als der Text in Codices übertragen wurde, bei denen es möglich wurde, vor und zurückzublättern, Zitate schnell aufzurufen und zu vergleichen, konnte sich ein anderer, wenn man so will, gelehrterer Umgang mit dem Text ergeben.»2
Der Codex veränderte die Lesegewohnheiten. Im Gegensatz zur Rolle, die man mit beiden Händen halten musste, liess er eine Hand frei zum Blättern und Schreiben. Das Auswendiglernen bzw. das Zitieren aus dem Gedächtnis verlor an Gewicht. Obwohl ein Codex mehr Text fassen konnte als eine Schriftrolle, war es eher selten, dass die ganze christliche Bibel in einem Codex vereint war.3 Bis zum Buchdruck war die Bibel auch physisch eine kleine Bibliothek, die im Bücherschrank einer klösterlichen Schreibstube ihren Platz beanspruchte.
Freude an Gottes Weisung (Tora)
Selbstverständlich hat das rabbinische Judentum die neue Buchform auch benutzt. In der Synagoge aber wird bis heute aus Schriftrollen vorgelesen. Zentral im Gottesdienst ist die Toralesung. Wochenabschnitt für Wochenabschnitt wird in einem Jahr die gesamte Tora, die fünf Bücher Mose (Pentateuch), gelesen. Und wenn an Simchat Tora wieder von vorne angefangen wird, ist dies ein Grund zur Freude und wird gefeiert. Michel Bollag, der Mitbegründer des Zürcher Lehrhauses (heute ZIID), spricht von einer Liebesbeziehung, wenn er das jüdische Verhältnis zur Tora beschreibt. Seine Sätze betonen die Körperlichkeit:
«Wenn Juden in die Nähe der Tora kommen, küssen sie sie, umarmen sie. Am Tora-Freudenfest oder wenn eine neue Torarolle feierlich eingeweiht wird, tanzen die Männer mit ihr durch die Synagoge. Juden behandeln die Tora wie einen beseelten Leib.»4
Jüdische Menschen würden der Tora denselben Respekt entgegenbringen wie einem Menschen und Torarollen, wenn sie alt sind, begraben. Denn die Tora ist Gottes Weisung und bedeute Leben. So vergleicht Psalm 1 den Menschen, der Lust hat an der göttlichen Weisung mit einem Baum, am Wasser gepflanzt, dessen Blätter nicht welken. Die Tora will gelernt, verinnerlicht werden, um aus ihr zu handeln.
Ein ästhetisches Hörerlebnis
Im Islam werden die heiligen Texte wie (teilweise) auch im Christentum und Judentum gesungen. Die Rezitation ist eine äusserst wichtige religiöse Aufgabe, die gelernt werden will. Denn der Koran versteht sich als Rede Gottes, die durch Rezitation vernehmbar gemacht wird. Der Koran ist also vor allem ein Hörerlebnis, das sich durch Poesie und sprachliche Schönheit auszeichnet.5 Rezitiert wird in arabischer Sprache. Da in mehreren Suren festgehalten wird, dass der Koran in Arabisch herabgesandt wurde (vgl. Sure 26,195), spielt die Koransprache eine besondere Rolle. Übersetzungen werden als «Verstehenshilfen» gesehen und in diesem Sinn zugelassen.
Die Bedeutung der Originalsprache wird auch vom jüdischen Theologen Michel Bollag betont: «Die tiefere Botschaft der biblischen Schriften kann nämlich nur über das Hebräische vermittelt werden. Die Botschaft steckt in den Buchstaben. Dabei dürfen wir aber keineswegs den Fehlschluss ziehen, die Botschaft sei mit dem Wortlaut identisch.»6
Die Septuaginta – eine griechische Bibel
Zu den ältesten christlichen Texten zählen die Paulusbriefe. Sie wurden in griechischer Sprache verfasst, da ihre Adressat:innen in Korinth, Philippi, Rom oder in Kleinasien zu Hause waren. Zu dieser Zeit existierte auch eine griechische Übersetzung der hebräischen Bibel: die Septuaginta. Sie entsprang dem Bedürfnis jüdischer Menschen in der Diaspora und entstand im 3. Jahrhundert v.Chr. in Alexandria. Der Legende nach sollen 72 Schriftgelehrte aus Jerusalem die gesamte Tora in nur 70 Tagen übersetzt haben. Deshalb der Name Septuaginta, was auf Griechisch 70 bedeutet. Alexandria, die Stadt im Nildelta, war damals ein wirtschaftliches und geistiges Zentrum und für seine grosse Bibliothek bekannt. Die Septuaginta war nicht einfach nur eine Übersetzung der hebräischen Bibel, sondern der Versuch, mit der hellenistischen Philosophie ins Gespräch zu kommen und einen Gegenentwurf zu präsentieren.7 So ordnete sie beispielsweise die Bücher der hebräischen Bibel neu und sortierte nach dem Prinzip Vergangenheit (Tora/Pentateuch), Gegenwart (Schriften) und Zukunft (Propheten).
Griechisch war die lingua franca der damaligen Zeit und die Septuaginta weit verbreitet. Sie prägte die christliche Bibel und Theologie. Wenn die Evangelisten die Schrift zitierten, um das Schicksal und die Rolle von Jesus aus Nazaret zu deuten, griffen sie auf die griechische Bibel, die Septuaginta, zurück. So hält der Fachmann für Altes Testament und biblische Textgeschichte, Heinz-Josef Fabry, fest:
«Für das Urchristentum wurde die Septuaginta die Offenbarungsurkunde, aus der heraus das Christusereignis zu erklären war.»8
Die Prägung der christlichen Bibel durch die Septuaginta ist an der Anordnung und Anzahl der alttestamentlichen Bücher sichtbar, aber auch an bestimmten Übertragungen hebräischer Worte. So sprechen die christlichen Bibeln vom Gesetz (griech. nomos) und nicht so sehr von der Weisung Gottes, wenn sie die Tora meinen. Die Übersetzung der Septuaginta leistete so dem verbreiteten christlichen Verständnis des Judentums als einer starren Gesetzesreligion Vorschub.9
Während in der frühen Kirche die Septuaginta zur Heiligen Schrift wurde, setzte sich im Judentum im 2. Jahrhundert n.Chr. eine andere hebräische Version als kanonisch durch als jene, die der Septuaginta als Vorlage gedient hatte. Dass sich die hebräische Bibel und das Alte Testament unterscheiden, hat also vor allem textgeschichtliche Gründe. Die Textgeschichte lehrt uns, dass es verschiedene Traditionsströme gab und wir uns verabschieden müssen von der «Vorstellung einer durchgängigen Einlinigkeit unseres Bibeltextes vom Erst-Autor bis zum heutigen Leser».10
Bibelübersetzungen
Im Kontext des Christlichen ist zu erinnern, dass es in den Anfängen des Christentums noch keine eigene Heilige Schrift gab. Das Christusereignis war entscheidend. Nach und nach kursierten verschiedene Briefe, es entstanden die Evangelien – auch sie in Griechisch und nicht in der Sprache Jesu verfasst. Im 4. Jahrhundert dann wurde die Situation schon unübersichtlich: es existierten verschiedene, teilweise fehlerhafte lateinische Übersetzungen der Evangelientexte, und es gab ein griechisches Altes Testament (die Septuaginta), das sich von der hebräischen Bibel unterschied. In dieser Unübersichtlichkeit fasste ein sprachbegabter Gelehrter, Hieronymus, vom Papst Damasus den Auftrag, die lateinische Übersetzung nach der griechischen Vorlage zu überarbeiten. Hieronymus übersetzte letztlich die ganze Bibel ins Lateinische und – dies war neu und nicht ohne Brisanz – er ging zurück zu den Quellen und übersetzte das Alte Testament aus dem Hebräischen. Sein Werk, die Vulgata, wurde über Jahrhunderte zur Standardbibel. In der Ostkirche übersetzten Cyrill und Method die Bibel im 9. Jahrhundert ins Slawische; in der Westkirche kam es zum Streit um die Bibel und zum grossen Kraftakt Luthers, dessen Übersetzung nicht nur den Protestantismus, sondern auch die deutsche Sprache massgeblich prägte.
- Das griechische τά βιβλία (ta biblia) bezeichnete im Plural Bücher wie auch Schriftrollen. Es war lange eine respektvolle Bezeichnung für die Tora und wurde später für die biblischen Bücher insgesamt benutzt. Aus den Büchern wurde später im Lateinischen das Buch (biblia).
- Eckhard Nordhofen: Corpora. Die anarchisches Kraft des Monotheismus, Freiburg i.Br. 2. Aufl. 2019, S. 206.
- Ausnahmen sind der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert n.Chr., der bis 1869 im Katharinenkloster auf der Sinaihalbinsel aufbewahrt wurde, und der Codex Vaticanus aus derselben Zeit.
- Michel Bollag: Lesen Juden und Christen dieselbe Bibel? Eine jüdische Perspektive (2010), https://www.nordkirche-weltbewegt.de/wp-content/uploads/2020/04/dieselbe-bibel-08-2009_bollag.pdf (Zugriff 14.11.2024)
- Vgl. Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 6. Aufl. 2018.
- Michel Bollag: Lesen Juden und Christen.
- Vgl. Heinz-Josef Fabry: Die erste Bibel der Kirche. Die Septuaginta und ihre deutsche Übersetzung, in: Bibel und Kirche 69 (2014), S. 8-13, S. 9: «So wurde beispielsweise der Schöpfungsbericht der Genesis in der LXX als eine Erörterung zu Platons ‹Timaios› gestaltet, um die platonische Lehre von einer Präexistenz der Materie einzuholen.» Eine jüdische Stimme zur Septuaginta ist zu finden bei: Leonard Greenspoon: Die Septuaginta, in: Das Neue Testament – jüdisch erklärt, Stuttgart 1921, S. 765-769.
- Heinz-Josef Fabry: Die erste Bibel, S. 11.
- Weitere bekannte Beispiele sind der Begriff «Kyrios» / Herr, der das hebräische Adonaj wiedergibt, mit dem der unaussprechliche Name Gottes ersetzt wird oder der Begriff «parthénos» (Jungfrau), der im Mattäusevangelium steht: «Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären» (1,23). Der zitierte Jesajatext 7,14 spricht von einer «jungen Frau». Fabry mutmasst, dass die Septuaginta mit Jungfrau übersetzte, um sich vom ägyptischen Isis-Kult abzugrenzen. (Vgl. Heinz-Josef Fabry: Die erste Bibel, S. 10)
- Heinz-Josef Fabry: Die erste Bibel, S.12.
Bildnachweise: Titelbild: Eine Wand voller Bücher mit einer Tür. Unsplash@eugi1492/ Bild 1: Folio 5r aus dem Codex Amiatinus (um 700 n. Chr., eine der ältesten erhaltenen Bibelhandschriften), Esra beim Schreiben: „Als die heiligen Bücher in den Feuern des Krieges verbrannt waren, reparierte Esra den Schaden“. Heute in Florenz in der Bibliotheca Laurenziana (Signatur MS Amiatinus 1). Wikimedia Commons / Bild 2: Lesung aus der Thora, Aish-Synagoge, Tel Aviv, Israel. Wikimedia Commons: Roy Lindman / Bild 3: Das antikeAlexandia im Vordergrund und das moderne Alexandia im Hintergrund. Unsplash@dilip_28
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