«Und Friede auf Erden …» So tönt es alle Jahre wieder aus der Weihnachtsbotschaft herüber in unsere Welt. Und in jedem Jahr scheint der Friede weiter entfernt als je zuvor. Ist es nicht naiv, jedes Jahr aufs Neue von diesem Frieden zu singen? Und doch: Wie soll man leben ohne dieses Wort vom Frieden?
Es sind die Engel, die nach dem Lukasevangelium in der Nacht der Geburt Jesu von diesem Frieden singen:
«Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden den Menschen des Wohlgefallens.» (Lukasevangelium 2,14)
Mit den höchsten Höhen auf der einen Seite und der Erde auf der anderen Seite ist buchstäblich «alles» umfasst. «Alles» ist von dem Geschehen dieser Nacht erfasst. Hinter dem Wort «Ehre» in der ersten Zeile steht das griechische Wort doxa, das den Glanz, die sinnlich wahrnehmbare Herrlichkeit meint, die allein Gott auszeichnet und allein ihm zusteht. Gott ist zu preisen für das, was in dieser Geburt geschehen ist. Die zweite Zeile besingt, was diese Geburt für die Menschen auf der Erde bedeutet, für die Menschen, über die Gottes Wohlgefallen ausgerufen wird: Friede.
Eine Geburt in einer friedlosen Welt
Engel sind in der Bibel Boten aus Gottes Anderswelt, die etwas von dieser Welt Gottes herüberleuchten lassen in den Alltag unserer Welt. Sie öffnen Augen und Herzen, bringen Botschaften oder weisen den Weg dort, wo kein Weg erkennbar ist. Und es ist, als ob unsere Welt nichts nötiger bräuchte als solche Anstöße von woanders her, die uns daran erinnern, dass das, was in unserer Welt nicht gut ist, nicht so sein muss, sondern dass es anders und gut sein kann. Dazu gehört dieses Lied vom Frieden, das in einer friedlosen Welt erklingt.
Denn die Erzählung von der Geburt Jesu spielt nicht in einer heilen oder gar friedlichen Welt. Vielmehr sind Maria und Josef, die Eltern Jesu, eingebunden in eine Welt, in der ein mächtiger Kaiser das Sagen hat und die ganze Welt in Bewegung setzen kann, um seine Steuerschätzung durchführen zu lassen:
«Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erliess, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen. Diese Aufzeichnung war die erste; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging ein jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen.» (Lukasevangelium 2,1–3)
Und auch Maria und Josef müssen sich auf den Weg von Nazaret in Galiläa nach Betlehem in Judäa machen, um sich dort eintragen zu lassen, obwohl Maria hochschwanger ist und ihr Kind dann in der Fremde zur Welt bringen muss – dort, wo kein Platz für sie ist.
Eine Umkehrung der Machtlogik
Aber genau dieses ortlose Kind in der Krippe wird von dem Engel, der als erster in der Erzählung auftritt, mit den höchsten Titeln bedacht:
«Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkünde euch eine grosse Freude, die dem ganzen Volk zuteilwerden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.» (Lukasevangelium 2,10-11)
«Retter» und «Herr» sind Titel, die im römischen Reich dem Kaiser entgegengebracht wurden und mit denen der Kaiser in öffentlichen Inschriften und anderen Ehrungen gepriesen wurde. Gerade Augustus wurde mit solchen Titeln geehrt. In der Erzählung von der Geburt Jesu gehen aber diese Titel an das machtlose Kind in der Krippe über:
«Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.» (Lukasevangelium 2,12)
Die eigentliche, wirkliche Macht, so behauptet unser Text, liegt nicht bei dem scheinbar allmächtigen Kaiser, der in unserer Erzählung Augustus heisst, sondern bei dem ohnmächtigen Kind in der Krippe. Die Logik der Kaisermacht ist gebrochen, sie hat nicht das letzte Wort. Nun beginnt etwas ganz Neues und Anderes, es beginnt klein und wehrlos und ohnmächtig, und wer es als erstes erfährt und wer hingeht und sieht, das sind auch nicht die Mächtigen der Welt, sondern Hirten, Randsiedler der damaligen Gesellschaft. Und genau hier singen die Engel ihr Lied vom Frieden.
Es ist kühn und wohl auch etwas verrückt, eine solche Umkehrung der Macht zu behaupten. Aber die gesamte lukanische Kindheitsgeschichte erzählt davon, wie die neue Zeit Gottes ausgerechnet zwischen Frauen und Engeln und Hirten und Kindern beginnt. Die junge Frau Maria singt in ihrem Magnificat vom Sturz der Mächtigen und davon, dass die Hungernden mit Gaben beschenkt werden (Lukasevangelium 1,52-53). Der alte Mann Zacharias singt in seinem Benedictus von der Befreiung des unterdrückten Gottesvolkes (Lukasevangelium 1,68-79). Und die Engel singen vom Frieden, der in der Geburt dieses Kindes seinen Ausgangspunkt nimmt.
Biblische Friedensvisionen
Im Friedenslied der Engel finden vielfältige Friedensbilder und -visionen des Ersten Testaments ein Echo. Frieden – hebräisch Schalom – meint im Ersten Testament nicht allein die Abwesenheit von Waffengewalt, so grundlegend gerade dies ist. Der Begriff umfasst noch mehr:
«Schalom meint das Wohlergehen einer Stadt, die lebendige Solidarität innerhalb der Gesellschaft, Freundschaft, Gesundheit – kurz das gelingende Leben im gesellschaftlichen Bereich wie in der Natur. Friede ist in der Bibel zunächst weniger das Gegenteil von Krieg, sondern die wohlgeordnete Gesellschaft, in der alle leben können.»1
Dieses umfassende Wohlergehen war in der Geschichte der kleinen Staaten Israel und Juda allerdings nur allzu oft gefährdet. Den nahezu unbesiegbaren Heeren der damaligen Supermächte Assur und Babylon hatten diese Kleinstaaten im Laufe ihrer Geschichte wenig entgegenzusetzen, und in zahllosen biblischen Texten finden traumatisierende Erfahrungen von Krieg und Zerstörung, Tod und Leid einen Widerhall. Doch umso trotziger erwuchsen gerade zwischen den Trümmern Hoffnungen auf Frieden …
«… einen Schalom, der Mensch und Natur umgreift, Gerechtigkeit durchsetzt, die Erde erneuert und eine ganz neue Lebensgrundlage bietet.»2.
Vom Umschmieden tödlicher Waffen in lebensfördernde Werkzeuge träumt ein Text zu Beginn des Jesajabuches, der die ehemals verfeindeten Völker in friedlicher Absicht zum Zion strömen lässt, um die Weisung Gottes zu lernen, die zum Frieden führt. Der Text weiß, wie sehr ein tragfähiger Friede auf Recht und Gerechtigkeit beruht, und dass nur auf einer solchen Grundlage etwas Neues entstehen kann:
«Gott wird Recht schaffen zwischen den Nationen und viele Völker zurechtweisen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg.» (Jesaja 2,4)
Nur ein paar Kapitel später sieht ein weiterer Text das Ende aller Kriegshandlungen gekommen. Kriegswerkzeuge werden verbrannt:
«Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, jeder Mantel, im Blut gewälzt, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers.» (Jesajabuch 9,4)
Das Ende der Kriegshandlungen wird in diesem Text mit der Geburt eines Kindes in Verbindung gebracht, ein Kind, das mit Titeln bedacht wird, die von umfassendem, dauerhaftem Frieden künden, der mit Recht und Gerechtigkeit einher geht:
«Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.
Die große Herrschaft und der Frieden sind ohne Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, es zu festigen und zu stützen durch Recht und Gerechtigkeit, von jetzt an bis in Ewigkeit.» (Jesaja 9,5–6)
Es ist kaum vorstellbar, dass dieser Text nicht Pate stand, als Lukas seine Kindheitserzählungen schrieb. So lässt er den Engel gegenüber Maria die zukünftige Rolle des Kindes so umschreiben, dass es groß sein und Sohn des Höchsten genannt würde, dass Gott ihm den Thron seines Vaters David geben würde, dass es über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und dass seine Herrschaft kein Ende haben würde. (vgl. Lukasevangelium 1,32-33). Und in der Erzählung von der Geburt Jesu wiederholt Lukas mehrfach das David-Motiv, wenn Josef, der «aus dem Haus und Geschlecht Davids» stammte, nach Betlehem, «die Stadt Davids» gehen musste, um sich dort in die Steuerliste eintragen zu lassen, und wenn über das Kind gesagt wird, dass «in der Stadt Davids der Retter geboren» sei.
Wenn die Kriege ein Ende haben und «Gerechtigkeit und Friede sich küssen» (Psalm 85,11), dann kann sich der umfassende Schalom ausbreiten, der Mensch und Natur, die gesamte Schöpfung erfasst und sie so werden lässt, wie sie einst gedacht war:
«Ich werde über Jerusalem jubeln und frohlocken über mein Volk. Nicht mehr hört man dort lautes Weinen und Klagegeschrei. Es wird dort keinen Säugling mehr geben, der nur wenige Tage lebt, und keinen Greis, der seine Tage nicht erfüllt; wer als Hundertjähriger stirbt, gilt als junger Mann, und wer die hundert Jahre verfehlt, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und selbst darin wohnen, sie werden Weinberge pflanzen und selbst deren Früchte genießen. Sie werden nicht bauen, damit ein anderer wohnt, nicht pflanzen, damit ein anderer isst, sondern wie die Tage eines Baumes sind die Tage meines Volkes und das Werk ihrer Hände werden meine Auserwählten selber verbrauchen. Sie mühen sich nicht vergebens und gebären nicht für den schnellen Tod… Wolf und Lamm weiden zusammen, und der Löwe frisst Stroh wie das Rind, doch der Schlange Nahrung ist der Staub. Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, spricht der EWIGE.» (Jesaja 65,19-25)
Die Kraft von Friedensvisionen
All das klingt unrealistisch und utopisch. Die Realität unserer Welt mit ihren Machtverhältnissen, die Unrecht und Gewalt hervorbringen und stabilisieren – alles spricht dagegen. Doch die Frage ist: Gibt es nicht Alternativen dazu? Da die Kriege in den Köpfen der Menschen entstehen, muss auch der Friede in den Köpfen der Menschen befestigt werden, heißt es in der Präambel der Unesco. Die biblischen Friedensvisionen sind eine Inspirationsquelle, anders sehen und anders denken zu lernen – um die ewig gleichen gewaltvollen Denkmuster nicht immer weiter zu denken, um der Lähmung durch scheinbar unabänderliche Sachzwänge zu entkommen, um uns nicht länger nur als hilflose Opfer zu fühlen. Biblische Visionen schaffen andere Bilder, die die herrschende Gewalt in ihrer Unabänderlichkeit in Frage stellen und auf diese Weise Bewegung ins Denken und Handeln bringen. Sich auf die Spur dieser Visionen zu begeben, ist ein erster Schritt zur Veränderung; denn: «Ein Volk ohne Visionen geht zu Grunde.» (Buch der Sprüche 29,18)
Die «Weihnachtsgeschichte» im Lukasevangelium» giesst solche Visionen und Hoffnungen in eine Erzählung. Sie erzählt davon, wie in der vom Kaiser beherrschten Welt etwas Anderes beginnt. Es ist ein Un-Ort, ein Anders-Ort, an dem die Engel vom Frieden singen und das Neue seinen Ausgang nimmt. Ein Anfang ist gesetzt. Nun ist es an den Menschen, dass sie dem «Wohlgefallen», das über sie ausgerufen ist, in ihrem Leben und Handeln entsprechen.
- Ulrike Bechmann: Friedensvisionen der Bibel. Frauen arbeiten für den Frieden, in: Sabine Bieberstein (Hg.): Frauen schaffen Frieden (FrauenBibelArbeit 17), Stuttgart 2006, 9–14, hier 12.
- Ebd.
Bildnachweise: Titelbild: Schneeengel. iStock. / Bild 1: Engel-Weihnachtsbeleichtung in London. Unsplash@jamie_davies / Bild 2: Zanobi Strozzi zugeschriebene Krippendarstellung, ca. 1433–34 n. Chr. Tempera und Gold auf Holz. Im Metropolitan Museum of Art. Wikimedia Commons / Bild 3: Peace (Frieden, links) und Schalom (rechts) an der Friedenswand in Jaffa, Israel (Jaffa peace wall mosaic). Wikimedia Commons / Bild 4: Verkündigung des Herrn, Girolamo da Santacroce, ca. 1540 n. Chr., Öl auf Holz, Minneapolis Institute of Art. Wikimedia Commons
Kommentare
1 Kommentare zu “Und Friede auf Erden!”
16.12.24
Andrea
Mir gefällt die Friedensvision von Franz Jedlicka (Friedensforscher in Wien), der die Wichtigkeit einer gewaltfreien Kindererziehung betont („Die vergessene Friedensformel“).
LG Andrea