Im Neuen Testament wird es als selbstverständlich vorausgesetzt und vielfältig beschrieben: Jesus war Jude. In der Kirchengeschichte wurde diese historische Tatsache jedoch Jahrhunderte lang verdrängt und verleugnet – einhergehend mit Judenverfolgungen und schlimmsten Pogromen. Es ist daher gerade für Kirchen eine dauerhafte Aufgabe, das Bewusstsein für das Judesein Jesu wach zu halten.
Immer wenn der Nahostkonflikt neu ausbricht – und dies ist seit dem 7. Oktober 2023 in grauenhafter Weise wieder der Fall –, grassiert in vielen Ländern und an vielen Orten neuer Antisemitismus und religiöser Antijudaismus. Während Antisemitismus auf völkischen Irrlehren aufbaut und rassistisch ist, wertet Antijudaismus die jüdische Religion ab und diskriminiert Menschen aufgrund ihres jüdischen Glaubens. Religiöser Antijudaismus war in christlichen Kirchen über Jahrhunderte verbreitet und ging mit schlimmsten Verfolgungen, Vertreibungen und Pogromen an Menschen jüdischen Glaubens einher.1 Umso grösser ist die Verantwortung der Kirchen, Antijudaismus nie mehr aufkommen zu lassen. Die Menschenrechte aller und die dazu gehörige freie Religionsausübung, vor allem auch von religiösen Minderheiten, sind überall unbedingt zu schützen. In Bezug auf den Nahostkonflikt ist ebenso das Völkerrecht in Israel und Palästina und weltweit unbedingt einzuhalten. Unrecht, das im Nahen Osten geschieht, darf weder zu Antisemitismus und Antijudaismus, noch zu Islamophobie führen.
Die Erinnerung daran, dass Jesus Jude war, ist ein probates Mittel gegen Antijudaismus und für die jüdisch-christliche Beziehung grundlegend.2 Auch für den christlichen Glauben ist es zentral wahrzunehmen, dass Jesus Jude war: Denn ohne dieses Wahrnehmen können Jesu Leben, Wirkung und Bedeutung nicht in ihren Tiefendimensionen verstanden werden. Im Folgenden seien daher einige wichtige Aussagen der Evangelien zum Judesein Jesu in Erinnerung gerufen.
Maria und Josef
Ein neugeborenes Kind ist jüdisch, wenn seine Mutter jüdisch ist. In Bezug auf Jesus heisst das: Maria war Jüdin.3 Ihr Name Maria – hebräisch Mirjam – verbindet sie mit einer langen Reihe jüdischer Frauen bis hin zu Mirjam, der Schwester des Moses: Diese Mirjam war eine Prophetin und sang mit anderen Frauen ein Lied der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten (Exodus 15,20-21). Im Lukasevangelium wird auch Maria als junge Prophetin beschrieben, die ebenfalls einen Lobpreis auf Gott anstimmte: das berühmt gewordene Magnifikat (Lukasevangelium 1,46-55). Besonders die beiden letzten Strophen des Magnifikats bezeugen das ganz selbstverständliche Jüdinsein Marias:
«54 Er [Gott] nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, 55 das er unseren Vätern [Vorfahren] verheissen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig» (Lukasevangelium 1,54-55).
Selbstverständlich war auch Josef Jude: Das Matthäusevangelium beginnt mit dem Stammbaum Jesu von Abraham bis Josef (Matthäusevangelium 1,1-17; vgl. Lukasevangelium 3,23-38). Josef spielt in der Geburtserzählung des Matthäusevangeliums eine zentrale Rolle, indem ein Engel Gottes dem Josef an entscheidenden Stellen im Traum erscheint (Matthäusevangelium 1,20; 2,13.19-20). So ist der Vater Jesu nicht nur durch seinen Namen «Josef» – hebräisch für: «Gott möge hinzufügen» –, sondern auch durch seine Träume stark verbunden mit dem Josef des Genesisbuchs, einem der zwölf «Söhne» / Stämme Jakobs (vgl. Genesis 37–50).4
Und Jesus vollzieht im Matthäusevangelium als neugeborenes Kind das nach, was über tausend Jahre vor ihm das ganze Volk Israel durchgemacht hatte: die Flucht nach Ägypten und die Rückkehr aus Ägypten (vgl. Genesis 37,1 – Josua).
Beschneidung
Entsprechend ihrem jüdischen Glauben liessen Josef und Maria ihren Sohn am achten Tag beschneiden (Lukasevangelium 2,21), dem zentralen Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum. Die Beschneidung wird auf Gottes «ewigen Bund» mit Abraham und seiner Nachkommenschaft zurückgeführt (Genesis 17,10-14). Bei der Beschneidung geben Maria und Josef ihrem Neugeborenen den Namen Jesus – hebräisch Jehoschua: «Gott rettet».5 Den gleichen Namen trug auch Josua, der Nachfolger des Mose (Josua 1,1). Die «Beschneidung und Namensgebung» Jesu wurde ab dem 6. Jahrhundert zuerst in den Kirchen Spaniens und Galiziens gefeiert. Ab ca. dem 12. Jahrhundert wurde dann in verschiedenen Ostkirchen und in der Römischen Kirche die Beschneidung am 1. Januar gefeiert. Manche Ostkirchen feiern dies bis heute. In der röm.-kath. Kirche wurde die Feier der Beschneidung des Herrn jedoch 1969 gestrichen und der 1. Januar zu einem «Hochfest der Gottesmutter» ernannt. Im Hinblick auf die Beziehung zum Judentum bestimmt kein guter Entscheid.
Darstellung im Tempel
Gleich nach der Beschneidung Jesu fährt das Lukasevangelium mit einer Erzählung fort, die nochmals in aller Deutlichkeit zeigt, wie sehr Maria und Josef ihren jüdischen Glauben mit ihrem Sohn Jesus lebten und sich an die Gebote der Torah hielten:
«22 Als sich für sie die Tage der vom Gesetz des Moses [= Torah] vorgeschriebenen Reinigung erfüllt hatten, brachten sie das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem Herrn darzustellen, 23 wie im Gesetz des Herrn geschrieben ist: Jede männliche Erstgeburt soll dem Herrn heilig genannt werden. 24 Auch wollten sie ihr Opfer darbringen, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben.» (Lukasevangelium 2,22-24; vgl. Exodus 12,2-4).
In vielen Kirchen, auch in der röm.-kath. Kirche, wird die sogenannte «Darstellung des Herrn» bis heute am 2. Februar gefeiert. Die im Lukasevangelium genannte «Heiligung» der Erstgeburt bezieht sich auf die Gebote während der Flucht aus Ägypten (Exodus 12,2.12). Die kultische «Reinigung» ist Frauen vierzig Tage nach der Geburt eines Jungen aufgetragen (Levitikus 12).6 Aufgrund der «Reinigung» von Maria vierzig Tage nach der Geburt Jesu entwickelte sich am 2. Februar neben der «Darstellung des Herrn» auch die Feier «Mariä Reinigung» (lateinisch: Purificatio Beatae Mariae Virginis), volkstümlich Mariä Lichtmess (Unser Lieben Frauen Lichtweihe) genannt. Anders als die «Beschneidung des Herrn» wurde der 2. Februar in der röm.-kath. Liturgiereform der 1960er Jahre wieder als Herrenfest betont.
Im Tempel – «mein Vater»
Die einzige Erzählung von Jesus als Kind in den Evangelien beginnt mit den Worten: «Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Pessachfest nach Jerusalem» und beschreibt dann, wie der 12-jährige Jesus im Jerusalemer Tempel zurückbleibt und den Schriftgelehrten Fragen stellt (Lukasevangelium 2,41-52). Seine Eltern merkten zunächst nicht, dass Jesus im Tempel zurückgeblieben war. Als sie ihn nach drei Tagen fanden und zur Rede stellten, antwortete Jesus gemäss dem Lukasevangelium: «Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?» (2,49) Hier wird im Lukasevangelium vorweggenommen, was in der Gottesbeziehung des erwachsenen Jesus zentral wird: Gott als «Vater» anzureden. Dabei geht es um ein Gottesverhältnis, das durch Vertrauen geprägt ist: «…wer würde seinem Sohn einen Stein geben, wenn er um Brot bitten…?» (Matthäusevangelium 7,9). Zu diesem Vertrauen gegenüber Gott ermutig Jesus auch seine Nachfolger:innen, wie das Vaterunser-Gebet zeigt (Matthäusevangelium 6,9-15; Lukasevangelium 11,2-4). Der Vorstellung von Gott als «Vater» entsprechend wird in den Evangelien die «Gottessohnschaft» Jesu betont, so bereits bei der Taufe: «Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden» (Markusevangelium 1,11 par.).
Die Metapher von Gott als «Vater» – oder «Mutter» oder «Eltern» – kommt ebenfalls im Ersten / Alten Testament vor:7 Gott wird erstens in Bezug auf den davidischen König als «Vater» beschrieben und der König als sein «Sohn» Gottes bezeichnet (z. B. Psalm 2,6-7; 89,27-28). Zweitens in Bezug auf rechtschaffene Menschen («Gerechte» / «Gottesfürchtige», z. B. Maleachi 3,17; Sirach 4,10; Weisheit 2,16-18; 3,1-3). Und drittens wird Gott in Bezug auf sein Volk der Israelit:innen mit einem «Vater» verglichen (z. B. Deuteronomium 1,31; 32,6; Jesaja 63,16) oder auch mit einer «Mutter». So spricht Gott z. B. gemäss Jesaja 66,13: «Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten».
Abgewehrte Versuchung
Nach seiner Taufe wird Jesus vom Widersacher vierzig Tage in der Wüste versucht, wobei Jesus in den Evangelien nach Matthäus und Lukas drei Mal mit je einem Zitat aus der Torah der Versuchung widersteht: Der Versuchung des Hungers widersteht Jesus mit dem Zitat: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt» (Matthäusevangelium 4,4 zitiert Deuteronomium 8,3). Der Versuchung des übernatürlichen Wunderwirkens mit: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen» (Matthäusevangelium 4,7 zitiert Deuteronomium 6,16). Der Versuchung der Macht mit: «Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen» (Matthäusevangelium 4,10 zitiert Deuteronomium 6,13).
Rabbi Jesus und das wichtigste Gebot
Jesus ging am Sabbat entsprechend seinem jüdischen Glauben in die Synagoge, «wie gewohnt» bemerkt das Lukasevangelium (4,16). Mehrfach wird erzählt, dass Jesus in den Synagogen lehrte, (Markusevangelium 6,1-6 par.). Von seinen Jünger:innen wird Jesus «Rabbi» genannten (Markusevangelium 9,5 u.ö.) und damit als Lehrer (der Torah, der «ersten fünf Bücher Moses») angesehen. Häufig wird auch erzählt, dass Jesus mit Schriftgelehrten, also Torah-Gelehrten, diskutierte (z.B. Markusevangelium 3,22; 7,1; 12,28).
Als Jesus von einem Schriftgelehrten gefragt wurde, was das höchste Gebot sei, antwortet Jesus nicht mit etwas Neuem, sondern zitiert zwei Stellen aus der Torah: «Das erste ist: Höre, Israel, Gott, unser Gott, ist der einzige Gott. Darum sollst du Gott, deinen Gott, lieben…» (Markusevangelium 12,29f; zitiert wird Deuteronomium 6,4f). «Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst…» (Markusevangelium 12,31; zitiert wird Levitikus 19,18).
Nach dem Wichtigsten im Glauben gefragt, verweist Jesus also auf zwei Aussagen in der Torah. Die hebräische / jüdische Torah (die fünf «Bücher Moses»), die Propheten (Bücher Josua bis Maleachi) und die Schriften (alle anderen Schriften von den Psalmen bis zur 2. Chronik) waren für Jesus das Wort Gottes. Gemäss dem Matthäusevangelium soll nicht einmal der kleinste Buchstabe (kein «Jota») oder das kleinste Zeichen der Torah vergehen, vielmehr sind alle Gebote der Torah zu halten (Matthäusevangelium 5,17-20).
Prophetisches Wirken
Neben seinem Wirken als Rabbi, wirkte Jesus auch als Prophet und zwar in grosser Kontinuität zu den Prophet:innen des Ersten Testaments. Er verkündet das nahe gekommene / gegenwärtige «Reich Gottes», die nahe gekommene Wirkmacht Gottes (Markusevangelium 1,15; Lukasevangelium 11,20) ebenso wie die zukünftige Wirkmächtigkeit Gottes (Matthäusevangelium 6,10; Markusevangelium 14,25). Daher hielten viele Leute Jesus für einen wiedergekommenen Propheten: «Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für sonst einen von den Propheten», während Petrus zu Jesus sagt: «Du bist der Christus» (Markusevangelium 8,28-29). Auch das griechische Wort «Christus» verbindet Jesus mit der jüdischen Heilsgeschichte: Es steht für das hebräische Wort «Maschiach» (Messias), was ebenso wie Christus «Gesalbter» (Gottes) bedeutet.8
Verwurzelt im jüdischen Glauben
Es gäbe noch sehr viel mehr zum Judesein Jesu zu erwähnen. Etwa die enge Verbindung der Gleichnisse Jesu mit den Gleichnissen des Alten / Ersten Testaments (vgl. z. B. das Weinberg-Gleichnis im Markusevangelium 12,1-11 und in Jesaja 5) und mit den Gleichnissen der Rabbinen.9 Auch dass Jesus sich zu den «Kindern Israels» gesandt fühlte und durch die Begegnung mit einer nicht-jüdischen Kanaanäerin lernte, dass Gottes Heil auch darüber hinaus wirken kann (Matthäusevangelium 15,21-28 par.). Oder sein Wirken als Wunderheiler im Vergleich mit anderen jüdischen Wunderheilern seiner Zeit.10 Die Gotteskraft in Jesus war gemäss den Evangelien so stark, dass er sogar Tote zum Leben erwecken konnte (z. B. Markusevangelium 5,34-43 par.), wie dies auch von den alttestamentlichen Propheten Elija (1 Könige 17,17-24) und Elischa (2 Könige 4,32-37) erzählt wird.
Im ganzen Neuen Testament wird klar ersichtlich und beschrieben, dass Jesus Jude war und alle Evangelien deuten das ganze Leben Jesu in Verbundenheit mit dem Alten Testament, der hebräischen Bibel, die dem Judentum heilig ist und damit auch Jesus heilig war. Wenn Jesus Kritik übte am Tempel oder an religiösen Praktiken oder Torah-Auslegungen von unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen seiner Zeit, so war das keine Ablehnung des Tempels, der Torah oder des Judeseins. Jesus engagierte sich vielmehr um glaubwürdiges Judesein gemäss Gottes Willen, in Bezug auf den Tempel wiederum mit Worten aus dem Ersten Testament: «Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker sein» (zitiert wird Jesaja 56,7), verbunden mit der Kritik: «Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht» (Markusevangelium 11,17; zitiert wird Jeremia 7,11).
Der «leidende Gerechte»
Die Kritik an den Machthabern seiner Zeit führten bei Jesus dazu, dass er von den Mächtigen verfolgt, verhaftet, gefoltert und umgebracht wurde. Diesem Schicksal ging Jesus gemäss den Evangelien mit offenen Augen entgegen, haben es doch vor ihm schon viele Propheten geteilt (Matthäusevangelium 5,12). Dabei ist immer wieder zu betonen, dass in Israel zur Zeit Jesu allein die römische Besatzungsmacht, vertreten durch den Statthalter Pontius Pilatus, das Recht hatte, die Todesstrafe auszusprechen.11 Es sind nicht «die Juden», die für den Tod Jesu verantwortlich sind, auch wenn manche neutestamentliche Stellen – historisch falsch! – derart Pauschalisieren. Die Kreuzigung ist keine jüdische, sondern eine römische Todesstrafe.
Der Verrat an Jesus, seine Verhaftung, sein Leiden und Sterben wurden von ihm und seinen Jünger:innen sowie den Evangelien mit den Erfahrungen und Vorstellungen des «leidenden Gerechten» verstanden und gedeutet.12 Die lange Geschichte des jüdischen Glaubens führte zur Erkenntnis, dass der Glaube – Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit, Gottes- und Nächstenliebe – zwar zu einem glücklichen Leben führen kann (Psalm 1), dass manchmal aber genau das Gegenteil eintrifft: Menschen, die sich für die Würde aller Menschen einsetzen und sich daher wehren gegen Machtmissbrauch und grausame politische, wirtschaftliche oder religiöse Herrschaft, werden von den Herrschenden verfolgt und kaputt gemacht – Erfahrungen, die die ganze Menschheitsgeschichte bis heute durchziehen. Im Alten Testament ist dies unter anderem in Psalm 69 oder in Weisheit 1,16-20; 5,1-13 beschrieben, und es ist eine Erfahrung von Jeremia 11,18-23 sowie des Gottesknechtes, des «leidenden Gerechten», in Jesaja 40-55.
In Jerusalem
Aufgrund solcher Erfahrungen werden gerade auch die letzten Tage und das Sterben Jesu mit vielen Zitaten aus dem Ersten Testament erzählt. Der Einzug Jesu in Jerusalem wird mit Worten aus dem alttestamentlichen Buch Sacharja 9 beschrieben und Jesus mit dem dortigen Friedenskönig gleichgesetzt: «…auf einem Esel reitend, einem Fohlen einer Eselin» (Sacharja 9,9; vgl. Matthäusevangelium 21,5-7). Das bedeutet: Es kommt ein ganz anderer König – ohne Schlachtross, ohne Armee, ohne Palast, ohne Gewalt. Jesus wird bei seinem Einzug mit dem Hosianna-Ruf begrüsst. Dieser Ruf stammt aus Psalm 118,25 und wird an den drei grossen Wallfahrtsfesten (Pessach, Schawuot, Sukkot) angestimmt: Aus hebräisch «Hoschia na» – «hilf doch», Gott – wird griechisch «Hosanna»: «Hosanna dem Sohn Davids! Gelobt sei er, der kommt im Namen Gottes» (Matthäusevangelium 21,9; Psalm 118,25-26).
Passion und letzte Worte Jesu
Jesus zog mit seinen Nachfolger:innen nach Jerusalem zum Pessachfest. Dort hielt Jesus mit den Seinen das letzte Abendmahl, das in vielen Teilen einem Sedermahl (Pessachfeier im familiären Rahmen) entsprach, historisch aber wohl eher vor der eigentlichen Pessachfeier stattfand und durch Jesus eine Neudeutung erfuhr. Nach dem letzten Abendmahl ging Jesus mit den Seinen in den Garten Getsemani, wo Jesus seine Todesangst mit dem Psalmwort: «Meine Seele ist zu Tode betrübt», zum Ausdruck brachte (Markusevangelium 14,34; Psalm 42,6.12; 43,5).
Der Verrat durch Judas wird mit Sacharja 11,12 gedeutet (vgl. Matthäusevangelium 27,9) und die Kreuzigung Jesu durch viele Psalmworte, so z. B. das Verteilen der Kleider Jesu durch die Soldaten mit Psalm 22,19: «Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand» (vgl. Matthäusevangelium 27,43), und die Verhöhnung Jesu am Kreuz mit Psalm 22,9: «Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat…» (Matthäusevangelium 27,43).
Besonders eindrücklich ist auch, dass Jesus bei seinem Tod gemäss den Evangelien mit Psalmworten zu Gott betete. Die letzten Worte Jesu im Markusevangelium waren Psalm 22,2: «Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Markusevangelium 15,34). Die letzten Worte im etwas später entstandenen Lukasevangelium entstammen Psalm 31,6: «Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist» (Lukasevangelium 23,46).
«aufgepfropft»
Die Jünger:innen Jesu waren nicht entgegen, sondern wegen ihres jüdischen Glaubens zur Überzeugung gekommen, dass Jesus der Christus / Messias, der Gesalbten Gottes, der Sohn Gottes ist, wie er in unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Zusammenhängen im Alten / Ersten Testament beschrieben ist. Und sie interpretierten den Tod und die Auferstehung Jesu aufgrund ihrer jüdischen Schriften (vgl. exemplarisch Lukasevangelium 24; Apostelgeschichte 13). Sie gingen weiterhin in den Tempel (Apostelgeschichte 3) und feierten die jüdischen Feste: So ereignete sich Pfingsten bei der Feier des jüdischen Festes Schawuot (Wochenfest), das am 50. Tag nach dem Mazzotfest (Fest der ungesäuerten Brote) gefeiert wird (vgl. Apostelgeschichte 2). Zusätzlich dazu brachen sie das Brot am ersten Tag der Woche, dem Sonntag, und feierten so das «Herrenmahl» (Apostelgeschichte 2,42; 20,7; 1. Korintherbrief 11,23-34).
Vor allem durch das Wirken des Apostels Paulus13 ging der Glaube an Christus von den urchristlichen juden-christlichen Gemeinden hin zu nicht-jüdischen Kulturen, so dass im römischen Weltreich und darüber hinaus christliche Kirchen entstanden, die nicht mehr alle jüdischen Gebote der Torah befolgten. Doch damals wie heute gilt, was Paulus mit seinem Vergleich mit dem Ölbaum erklärte: Das Judentum ist wie ein guter Ölbaum, und die Christusgläubigen sind wie ein Zweig, der in diesen guten Ölbaum «eingepfropft» wurde (Römerbrief 11,17-24). Sie sollen nie vergessen, dass sie von «der guten Wurzel» (dem Judentum) getragen sind und dass Gottes Bund mit dem jüdischen Volk nie aufgehoben wurde, denn «unwiderruflich sind die Gnadengaben und Berufung Gottes» (Römerbrief 11,29).
Das Wahrnehmen, dass Jesus Jude war – ebenso wie es die Jünger:innen, die Apostel und die Menschen der ersten judenchristlichen Gemeinden waren – , stärkt bei mir als Christ den Respekt vor den Menschen jüdischen Glaubens und die dankbare Verbundenheit mit ihnen und ihrer Glaubensgeschichte.
- Vgl. Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 5. Aufl. 2009, 486-592, mit weiterführender Literatur.
- Nach wie vor lesenswert sind die Jesus-Bücher von jüdischen Gelehrten, die Pioniere des jüdisch christlichen Dialogs waren, z. B. Schalom Ben-Chorin: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 1967; David Flusser: Jesus, Rheinbeck bei Hamburg 1968; Pinchas Lapide / Ulrich Luz: Der Jude Jesus. Thesen eines Juden, Antworten eines Christen, Einsiedeln 1979.
- Vgl. hierzu Schalom Ben-Chorin: Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht, München 1971.
- Vgl. André Flury: Erzählungen von Schöpfung, Erzeltern und Exodus (Studiengang Theologie 1,1), Zürich 2018, 248-249.
- Die Grossbuchstaben bei Gott stehen für den Gottesnamen JHWH.
- Zum Thema «Reinheit» vgl. Beate Ego: Reinheit / Unreinheit / Reinigung (AT), auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/33086/ (12.01.2025).
- Vgl. ausführlich Annette Schellenberg: Gott, als Vater (AT), auch mütterliche Aspekte, auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/33987/ (12.01.2025).
- Vgl. Ernst-Joachim Waschke: Messias (AT), auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/27061/ (12.01.2025); Dieter Zeller: Messias / Christus, auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/51997/ (12.01.2025).
- Vgl. Clemens Thoma / Simon Lauer / Hanspeter Ernst: Die Gleichnisse der Rabbinen, 4 Bde., Bern 1986-2000.
- Vgl. Hanna Rose: Heilung (NT), auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/46881/ (12.01.2024).
- Vgl. Gerd Theißen / Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 3. Aufl. 2001, 387-414.
- Vgl. Hans-Jürgen Hermisson: Gottesknecht, auf: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/19964/ (12.1.2025); André Flury: Der leidende Gerechte (Weish 2,1a.12.17-20; Mk 9,30-37), in: Die siebzig Gesichter der Schrift, Bd. 1: Auslegung der alttestamentlichen Lesungen des Lesejahres B, hg. v. Schweizerisches Katholisches Bibelwerk, Fribourg 2011, 251-255.
- Zum Judesein des Paulus vgl. Schalom Ben-Chorin: Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer Sicht, München 1970.
Bildnachweise: Titelbild: Rembrandt (1652), Kopf des Christus. Wikiart / Bild 1: Beschneidung Christi, Szene von einem Flügelretabel mit Darstellungen aus dem Leben Mariens und der Kindheit Jesu, ca. 1480 n. Chr., Brabant aus Mengen, Skulpturensammlung, Bode-Museum Berlin. Wikimedia Commons. / Bild 2: Darstellung Jesu im Tempel, Meister der Pollinger Tafeln, 1444 n. Chr., Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Wikimedia commons. / Bild 3: Mose erhält die Zehn Worte, Meister von San Vitale, Ravenna, vor 547 n. Chr. Wikimedia Commons / Bild 4: Bildnachweis: Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems, 1630 n. Chr., Rijksmuseum Amsterdam. Wikimedia commons / Bild 5: Pontius-Pilatus-Inschrift, 1961 in Caesaraea Maritima gefunden, die belegt, dass Pontius Pilatus 26 bis 36 n. Chr. Präfekt des Kaisers Tiberius in Judäa war, Israel Museum Jerusalem. Foto: André Flury / Bild 6: Giotto di Bondone: Einzug Jesu in Jerusalem, 1303-1306 n. Chr., Freskenzyklus in der Arenakapelle in Padua (Scrovegni-Kapelle). Wikimedia commons / Bild 7: Marc Chagall: Weisse Kreuzigung, 1938 n. Chr., Art Institute of Chicago. Wikiart, fair use / Bild 8: Ölbäume im Garten Getsemani. Foto: André Flury
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