Die Strasse des Jahresanfangs ist bei vielen Menschen gepflastert mit guten Vorsätzen. Im neuen Jahr muss alles anders werden! Mehr Sport, fairer aufgeteilte Hausarbeit, endlich nachhaltiger Einkaufen, liebevoller mit den Nächsten umgehen, den Fleisch- oder Alkoholkonsum reduzieren…
Klar, spätestens im Februar werden viele dieser guten Vorsätze vom inneren Schweinehund aufgefuttert sein. Erstaunlich ist aber doch, mit welchen ethischen Ansprüchen an uns selbst wir heute unseren Alltag planen. Dabei haben wir eine klar umrissene Vorstellung eines besseren Selbst vor Augen, die wir durch «Selbstoptimierung» erreichen möchten. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Von der wir glauben, dass wir sie erreichen könnten, wenn wir nur (endlich einmal!) richtig wollten. Wenn nicht dieses Jahr, dann im nächsten!
Soziologen sprechen davon, dass diese «ethische Selbstoptimierung» geradezu ein Religionsersatz für uns Westeuropäer:innen geworden ist: Nachdem das Christentum seine Funktion als Erlösungsreligion verloren habe und sich die Menschen nicht mehr von der Kirche sagen liessen, wie sie ihr Leben zu gestalten hätten, wichen sie nun auf neue «Erlösungsversprechen» aus. Beispielsweise genau auf jene eingangs genannten ethischen Verhaltensweisen, mit denen viele eine Art «Selbsterlösung» erhoffen. Vereinfacht ausgedrückt: Um den Himmel, der einst für alle weit offen stand, ist es still geworden – gesucht wird die Realisierung des Himmels im Hier und Jetzt. Die möglichen Schattenseiten liegen auf der Hand: Ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen wird durch falsche Entscheidungen und charakterliche «Mängel» erklärt.
Der dauerhafte Optimierungsbedarf der «Singularitäten»
In unserer Welt von Millionen von «Singularitäten» – mit diesem schönen Ausdruck bezeichnet der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz uns selbstoptimierende Menschen aus den wohlhabenden Weltgegenden – wird allgemein gültigen, womöglich sogar verbindlichen Überzeugungen und Verhaltensweisen eher mit Misstrauen begegnet. Was wirklich zählt und in der sozialen Welt die verbliebene harte Währung ist, ist das «Besondere» und «Einzigartige». Mit dem seltsamen Effekt, dass alle diesem Besonderen und Einzigartigem nachjagen und dabei gar nicht bemerken, wie ähnlich sie sich darin wieder werden. Ein schönes Beispiel dafür ist der sogenannte «Veganuary» (gebildet aus «vegan» und «January»), der ursprünglich einen Monat Verzicht auf alle Lebensmittel mit tierischen Inhaltsstoffen propagierte. Immer mehr Menschen entdecken seitdem den Veganuary als Möglichkeit, ihren besonderen ethischen Lebensstil als «kulturelles Kapital» und persönliches Alleinstellungsmerkmal zu nutzen. Ob jene es wollten oder nicht: Damit ist er in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Die ethische Botschaft der Kirchen verschwindet im Rückspiegel
Diese Entwicklungen sind aus Sicht der Institution Kirche sehr bedauerlich und bereits seit Jahrzehnten mit einem schmerzlichen «Rückzugsgefecht» verbunden. Vorbei ist nämlich längst der direkte Zugriff auf das Gewissen der Christ:innen über von der Kirche vorgegebene und allgemeingültige moralische Sätze, deren Einhaltung bei der Beichte genauestens überprüft und im Verdachtsfall mit Bussstrafen sanktioniert werden konnten. «Was man tun und lassen sollte» – das wussten bis vor wenigen Jahrzehnten alle Christ:innen nicht nur aus der Bibel, sondern vor allem auch von den unterschiedlichen Glaubensvermittler: innen: Von Katechet:innen, Priestern, Bischöfen und letztlich vom ganzen sozialen Umfeld, die alle dieses Wissen um das richtige Verhalten des «man» weitergaben und einforderten.
Generationen von Christ:innen haben diesen moralinsauren Kreislauf jedoch nicht als Chance zur Erlösung von persönlich erfahrener Schuld erlebt, sondern als bedrohlich und einengend. Die Frohbotschaft wurde von vielen Christ:innen als Drohbotschaft wahrgenommen, weil die Kirche über sie lange Zeit wie ein Scharfrichter und nicht wie ein barmherzig begleitender Hirte gewacht hatte.
Vorbei ist damit auch der politische Einfluss der Kirchen in öffentlichen Debatten. Wobei das so nicht ganz stimmt: Die Kirchen versuchen weiterhin, durch Positionspapiere, bischöfliche Verlautbarungen usw. Handlungsempfehlungen für eine christliche Lebensführung auszusprechen. Wenn sich aber schon die Christ:innen der jeweiligen Kirche kaum noch einen Deut um jene Vorgaben kümmern, dann erinnert der Einfluss der Kirchen nur noch an einen zahnlosen Tiger. Man behält ihn aus guten Gründen im Auge, weiss aber eigentlich, dass er den eigenen Interessen nicht mehr wirklich gefährlich werden kann. Auf den Punkt gebracht: Wer Menschen mit dem erhobenen Zeigefinger zu einer bestimmten Lebensführung «überreden» möchte, der steht heute völlig auf verlorenem Posten.
Welche Wege aber führen ausgehend von dieser Diagnose in die Zukunft? Wie können die ethischen Anliegen der christlichen Botschaft so Thema werden, dass sie überzeugte Umsetzer:innen findet? Vielleicht, indem die Grundthemen des christlichen Denkens & Handelns künftig stärker so vermittelt werden, wie die Menschen sich normalerweise am liebsten mit ihren Charakterzügen beschäftigen: spielerisch, wettbewerbsorientiert (man beachte nur die hohe Zahl an sogenannten «Challenges» in den sozialen Netzwerken!) und zugleich selbstverantwortlich.
Games: Neue Wege der ethischen Vermittlung?
Einer der Wege mag auf den ersten Blick «Uneingeweihte» sehr erstaunen: Es sind Computerspiele (oder Games) und artverwandte Unterhaltungsmedien, die heute auf ganz überraschende Art und völlig unbefangen Mass an christlichen Kernbotschaften nehmen und sie in gewandelter Form aktiv erlebbar machen. Wie das? Schauen wir uns aktuelle Rollenspiele wie beispielsweise Persona 5, Cyberpunk 2077 oder Disco Elysium an, sehen wir auf den ersten Blick nur faszinierende technische Meisterleistungen: Sie lassen Spieler:innen in fantasievoll konstruierte Welten abtauchen, die gleichwohl fast vollkommen realistisch aussehen. Auf den zweiten Blick offenbart sich aber, dass die vom Computer gesteuerten Bewohner dieser Welten selbst die typische Bandbreite von Werthaltungen und -präferenzen heutiger Menschen widerspiegeln – so wie es ihnen von den Regisseuren dieser Spiele einprogrammiert worden ist. Im Verlauf dieser Games werden die Spieler häufig mit Aufträgen konfrontiert, die ethische Entscheidungen nach sich ziehen müssen. Hilft man den Armen und Schwachen unentgeltlich, setzt man sich für das Überleben einer Gemeinschaft ein? Oder wird man zum «Outlaw» und verlegt sich aufs Zusammenraffen von Reichtümern?
In fast allen Games ist es nun so, dass typischerweise christliche Verhaltensweisen (Schutz der Armen und Schwachen, Gemeinsinn, Einsatz für Recht und Gerechtigkeit) als stark positiv bewertet werden, während egozentrisches Handeln (Diebstahl, Mord, Asozialität) zwar grundsätzlich geduldet wird, aber normalerweise nicht zum intendierten Spielziel führt. Manche Entscheidungen sind dabei auch aus theologischer Hinsicht unglaublich spannend inszeniert: Im bereits genannten Cyberpunk 2077 trifft man zufällig auf einen Mann mit Namen «Joshua», der die/den Spieler:in bittet, ihn zu seiner Familie zu begleiten. Im weiteren Verlauf erfährt man, dass Joshua Schuld auf sich geladen hat, von der er sich nun erlösen möchte. Der Aufbau der ganzen Situation ähnelt immer stärker der ganzen Passionsgeschichte, sie endet folgerichtig mit einer tatsächlichen Kreuzigung. Spannend ist nun aber, dass die/der Spieler:in durch seine Entscheidungen selbst Anteil an den Geschehnissen hat und (un-) willentlich dazu beiträgt, welche Wendungen sie nehmen. Am Ende ist die/der Spieler:in selbst eine Verkörperung von Judas Iskariot und wird sich fast zwangsläufig zutiefst zerknirscht fragen, warum und wie er zur Hinrichtung von Joshua beigetragen hat.
Selbstverständlich spielen in solchen Games auch fantasievoll entworfene Religionsgemeinschaften und Sekten eine Rolle, die aber meist eines gemeinsam haben: sie erscheinen in äusserst schlechtem Licht. Entweder sind die Priester:innen korrupt oder es stellt sich im Laufe des Spiels heraus, dass ihr Erlösungsangebot auf einer falschen Glaubensauslegung beruht, vielleicht auch nur passend zum eigenen Machtanspruch formuliert wurde. Von dieser manchmal ein wenig eindimensionalen Darstellung von Religion abgesehen (die aber wohl die typischen Wahrnehmungen der Zielgruppen der Games widerspiegeln dürfte) sollte man vielen heutigen Games jedoch zugestehen, mehr zu sein als einfach nur ein Zeitvertreib.
Denn es sind es heute Games, die in einer zunehmend entchristlichten Welt (und oft, ohne es direkt zu wollen!) wichtige Themen der Botschaft des Christentums ins Spiel bringen. Ihre ethische Stärke gewinnen sie aus dem fehlenden Zeigefinger: Die Spieler:innen selbst entscheiden über ihre Handlungen und erfahren die Konsequenzen im weiteren Spielablauf; sie können sogar ausprobieren, wie sich ihre Entscheidung auf die weitere Spielhandlung auswirken – ein Vorteil, den wir im Alltagsleben leider nicht geniessen dürfen und der vielleicht auch ein wenig den Druck aus dem Zwang zur Selbstoptimierung herausnimmt. Denn deutlicher kann dann werden, dass es verschiedene Wege zu den persönlichen Zielen geben kann und Erlösung etwas ist, dass immer ausserhalb der eigenen Schaffenskraft liegt.
So wäre es zwar in der Tat schön, wenn wir am Anfang eines neuen Jahres sehen könnten, wie sich unsere «guten Vorsätze» auf unser Leben auswirken werden. Aber vielleicht hat es ja auch etwas Gutes, das in unserem durchgeplanten Leben noch ein Hauch von Zufall und Abenteuer bleibt.1
- Bildnachweise: Titelbild: Raum mit vielen Videospielen. Unsplash@carltraw / Bild 1: Bücher zur Selbstoptimierung. Unsplash@delanodzr / Bild 2: Prediger mit erhobenem Zeigefinger. Unsplash@benwhitephotography / Bild 3: Blick ins Game «Cyberpunk 2077»: Screenshot des Spielauftrages «There is a light that never goes out». Foto: Reddit.com
Kommentare
1 Kommentare zu “Alle Jahre wieder… kommt das schlechte Gewissen”
11.02.25
Johannes
Dass sich Gesellschaften auch ohne Religionen positiv entwickeln, hat nicht nur Victoria Rationi in „Das Religionsparadox“ anhand einiger Statistiken nachgewiesen, vor kurzem schrieb auch der Friedensforscher Franz Jedlicka einen interessanten Artikel dazu auf LinkedIn (Der Wettstreit religiöser Länder mit der säkularen Welt). Wir Gläubigen sollten auch diese Erkenntnisse einmal sachlich diskutieren.
Johannes