Widerstand und Ergebung

Dietrich Bonhoeffer war einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Sein Widerstand gegen Hitlers Nationalsozialismus und sein tiefes Gottvertrauen machen ihn auch heute noch zu einem Vorbild des christlichen Glaubens. Sein Leben und seine Theologie, sowie seine Briefe, Gedichte und Gebete, die er im Gefängnis kurz vor seiner Ermordung am 9. April 1945 schrieb, sind eine tiefe Quelle der Inspiration – gerade auch in unserer Zeit, in der weltweit wieder Nationalisten, Autokraten und Diktatoren auf dem Vormarsch sind.

Leben und Theologie sind bei Dietrich Bonhoeffer untrennbar verbunden. Bevor auf seinen persönlichen Glauben anhand seiner Gebete und Gedichte im Gefängnis eingegangen wird, seien daher einige Stationen seines Lebens in Erinnerung gerufen: Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau zusammen mit seiner Zwillingsschwester Sabine als sechstes von acht Kindern in eine bildungsbürgerliche Familie geboren. Sein Vater, Karl Bonhoeffer, war Psychiater und Neurologe, und seine Mutter, Paula Bonhoeffer, geborene Hase, war Lehrerin und stammte aus einer angesehenen Theologenfamilie.1

Der Weg zum Theologen

Bonhoeffer begann 1923 in Tübingen das Theologiestudium, wechselte ein Jahr später nach Berlin, wo er bereits mit 21 Jahren aufgrund seiner Dissertation Sanctorum Communio (Gemeinschaft der Heiligen) promovierte. Nach dem Vikariat in Barcelona (1928), der Habilitation und einem Studienjahr in den USA (1930/31) kehrte Bonhoeffer nach Deutschland zurück. Hier begegnete er in Bonn erstmals Karl Barth, der Bonhoeffers politisches Engagement entscheidend prägen sollte. In Berlin war Bonhoeffer unter anderem als Dozent und lutherischer Pfarrer tätig, leitete Konfirmandengruppen und richtete eine «Jugendstube» für arbeitslose Jugendliche ein, die 1933 von den Nationalsozialisten als «kommunistisch» bezeichnet und aufgelöst wurde. Nachdem Bonhoeffer zwei Mal vergeblich versuchte hatte, eine Pfarrstelle im Berliner Osten zu erhalten, übernahm er die Aufgabe eines internationalen Jugendsekretärs des ökumenischen Weltbunds für Freundschaftsarbeit der Kirchen – ein Weltbund, der gegen Nationalismus gerichtet war.2

Dietrich Bonhoeffer mit Konfirmanden 21. März 1932 in Friedrichsbrunn

Bonhoeffer trat früh und vehement gegen die Beeinflussung der Kirche durch das nationalsozialistische Regime ein. Bereits einen Tag nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, forderte Bonhoeffer in einer Radiopredigt am 1. Februar 1933 die Begrenzung der Macht des Kanzlers, sprich: des «Führers», durch die Rechtsordnung und das Wohl des Volkes und begründet dies auch theologisch: «Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes.» (DBW 12, S. 257f). Die Ausstrahlung der Radiopredigt wurde von der Sendeleitung unterbrochen, doch Bonhoeffer hielt sie u. a. drei Wochen später vor Berliner Pfarrern – von denen jedoch viele den Vortrag verliessen, weil sie für Hitlers Nationalsozialismus waren und Widerstand dagegen als kommunistisch ablehnten. Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag und am nächsten Tag erschien die «Notverordnung» zum «Schutz von Volk und Staat». Diese schränkte die persönliche Freiheit, die Pressefreiheit und vieles andere massiv ein und war zwölf Jahre die Grundlage des nationalsozialistischen Terrors.

Kirchenkampf

In der Evangelischen Kirche Deutschlands entbrannte ein heftiger Kirchenkampf. Die Mehrheit war begeistert von Hitler und der (scheinbaren) Bedeutung, die die Kirche unter ihm wieder erhielt. In kurzfristig anberaumten Kirchenwahlen am 23. Juli 1933 gewannen die «Deutschen Christen» 70 Prozent der Stimmen und übernahmen die entscheidenden Machtstellen in der Kirche. Am 6. September 1933 wurde der Arierparagraph in der Evangelischen Kirche eingeführt. Bonhoeffer schlug daraufhin den oppositionellen Pfarrern den Austritt aus der Evangelischen Kirche vor, da er deren Verfassung nun als Häresie ansah. Doch er fand kaum Befürworter. Er gründete darauf einen Pfarrernotbund zum Schutz von Pfarrern jüdischer Herkunft. Von Oktober 1933 bis 1935 übernahm Bonhoeffer eine Auslandspfarrstelle in London. Karl Barth gegenüber begründete Bonhoeffer diesen Schritt damit, dass er nicht mehr in der von Deutschen Christen gelenkten Kirche sein wolle und auch von ehemaligen Freunden wegen seinem klaren Widerstand gegen die Nationalsozialisten immer mehr isoliert sei. Karl Barth hingegen forderte Bonhoeffer auf, zurückzukehren. Dies tat Bonhoeffer im April 1935 und übernahm für die Bekennende Kirche die Ausbildung der angehenden Pfarrer im Predigerseminar Finkenwalde in Pommern. 1937 wurde das Predigerseminar von den Nazis geschlossen. Die Ausbildung von Pfarrern für die Bekennende Kirche musste daraufhin illegal im Untergrund stattfinden. Bonhoeffer war im März 1939 erneut in London und im Juni in den USA, doch er lehnte es ab in den USA zu bleiben, weil er seine Aufgabe im Widerstand in seiner Heimat sah.

Dietrich Bonhoeffer 1939 mit E. Bethge

Gewalttätiger Widerstand?

Bonhoeffer rang sehr mit der Frage des gewalttätigen Widerstandes. Er hatte bei seinem ersten Aufenthalt in den USA einen überzeugenden christlichen Pazifismus schätzen gelernt und zog mehrfach in Erwägung, nach Indien zu reisen, um den gewaltlosen Widerstand Mahatma Ghandis kennenzulernen, der ihn dazu auch einlud. Doch in der jetzigen konkreten Situation des Nazi-Regimes? Schon in seinem mehrfach überarbeiteten Vortrag «Die Kirche vor der Judenfrage» von 1933 hatte Bonhoeffer Partei für die Jüd:innen ergriffen. Grundsätzlich befürwortete er zwar die lutherische Zwei-Reiche-Lehre, wonach Staat und Kirche ihre je eigenen Zuständigkeitsbereiche haben und der Staat «die Judenfrage» gemäss Recht und Ordnung regeln dürfe. Auch war Bonhoeffer noch in der damals üblichen antijüdischen, falschen Meinung verhaftet, dass «die» Juden Jesus ans Kreuz geschlagen hätten und dafür eine lange Leidensgeschichte durchmachen müssten. Dennoch und gleichzeitig formulierte Bonhoeffer die Überzeugung, dass die Kirche Partei für die Opfer ergreifen müsse: «Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören […] Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.»3

Planung von Attentaten

Je stärker die Nazi-Diktatur wurde und die Verfolgung und Ermordung von Jüd:innen zunahmen, desto stärker trat Bonhoeffer für den gewalttätigen Widerstand gegen Hitlers Nationalsozialismus ein: Zwar war sich Bonhoeffer bewusst, dass das Leben eines Attentäters von schwerer Schuld belastet ist. Er nahm die Möglichkeit der Schuld jedoch bewusst auf sich, weil er überzeugt war, dass es eine noch grössere Schuld wäre, nichts gegen den wahnsinnigen Massenmord des Nazi-Regimes zu tun.

So war Dietrich Bonhoeffer indirekt in die Pläne einiger Attentatsversuche gegen Adolf Hitler involviert, insbesondere in die des Widerstandsnetzwerks um Admiral Wilhelm Canaris, in welchem sich auch Dietrichs Bruder Klaus Bonhoeffer engagierte. Canaris leitete die «Abwehr», den militärischen Geheimdienst des Dritten Reiches. Bonhoeffer war Teil des Netzwerkes von Verschwörern, die eine Tötung Hitlers planten, um das Nazi-Regime zu stürzen. In seinem Elternhaus trafen sich Gegner des Nazi-Regimes auch mit hohen Positionen in der Abwehr oder der Wehrmacht. Bonhoeffer begann in der Abwehr zu arbeiten, und verwendete seine internationalen ökumenischen Kontakte für die Verschwörer gegen Hitler auch im Ausland, was als Hochverrat galt.

Bonhoeffer mit seinen Eltern in deren Garten an der Marienburger Allee 43

Verlobung, Verhaftung und Hinrichtung

Wie sein ganzes Leben war auch seine Verlobung durch das schreckliche Kriegsgeschehen geprägt: Die 18-jährige Maria von Wedemeyer (geb. 23.4.1923, gest. 16.11.1977) konnte ihr Ja zur Verlobung mit dem 36-jährigen Dietrich Bonhoeffer am 13. Januar 1943 nicht bei einem persönlichen Zusammensein, sondern nur schriftlich geben und sah ihn vor seiner Verhaftung nicht mehr: Am 13. und 21. März 1943 unternahmen Angehörige der Gruppe um Canaris Anschläge auf Hitler, die fehlschlugen. In der Folge wurde Dietrich Bonhoeffer am 5. April 1943 zusammen mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi verhaftet. Maria von Wedemeyer sah Bonhoeffer erstmals wieder am 24. Juni 1943 im Berliner Gebäude des Reichkriegsgerichts. Ein zweiter Besuch folgte fünf Wochen später. Die acht weiteren kurzen Besuche fanden im Militäruntersuchungsgefängnis in Berlin-Tegel statt, der letzte am 23. August 1944. Der Briefwechsel von Maria von Wedemeyer und Dietrich Bonhoeffer während seiner zweijährigen Haft widerspiegeln ihre Beziehung und die Umstände jener schrecklichen Zeit überaus eindrucksvoll.4

Kurz vor der Niederlage des Krieges ordnete Hitler persönlich am 5. April 1945 die Hinrichtung der «Verschwörer» des Attentatversuchs von Claus Schenk Graf von Stauffenberg vom 20. Juli 1944 an, zu welchen er auch Dietrich Bonhoeffer zählte, obwohl dieser zur Zeit dieses Attentats bereits ein Jahr in Haft war. Bonhoeffer wurde ins Konzentrationslager Flossenbürg deportiert, dort in einem Scheinprozess zusammen mit andern zum Tode verurteilt und in der Morgendämmerung des 9. Aprils 1945 erhängt.

Nur elf Tage später, am 20. April, beging Hitler Suizid, am 24. April befreite die U. S. Army die Gefangenen des Konzentrationslagers Flossenbürg, am 7. Mai wurde in Reims (F) die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Truppen unterzeichnet.

Die Hinrichtungsstätte Bonhoeffers und weiterer Widerstandskämpfer: der Hof des Arrestblocks im KZ Flossenbürg

Wer bin ich?

Wie sehr Bonhoeffer mit seinem christlichen Glauben rang und gleichermassen daraus lebte, zeigen auf eindrücklichste Weise seine Gebete und Gedicht aus dem Gefängnis.5

Immer wieder bringt Bonhoeffer seine Not zum Ausdruck und setzt sein Vertrauen, ganz ähnlich wie die biblischen Psalmen, dennoch und gerade darin auf Gott. So beispielsweise im Gebet in besonderer Not: «Herr Gott, | großes Elend ist über mich gekommen. |Meine Sorgen wollen mich erdrücken |ich weiß nicht ein noch aus. | Gott, sei gnädig und hilf | Gib Kraft zu tragen, was du schickst. | laß die Furcht nicht über mich herrschen […]» (DBW 8, S. 208).

Im Morgengebet betet Bonhoeffer nicht nur für die Mitgefangenen, sondern auch für alle, «die in diesem Haus ihren schweren Dienst tun», das heisst die Gefängniswärter usw. Seinem eigenen Elend setzt Bonhoeffer die Hoffnung auf Gott entgegen: «In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht / ich bin einsam, aber du verläßt mich nicht / ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe / ich bin unruhig, aber bei dir ist Frieden / in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld / ich verstehe deine Wege nicht, aber du weißt den rechten Weg für mich […]» Dabei ist das Glauben und Beten Bonhoeffers stets auf Jesus Christus ausgerichtet, mit ihm verbunden: «Herr Jesus Christus, / du warst arm und elend, gefangen und verlassen wie ich. / Du kennst alle Not der Menschen, / du bleibst bei mir, wenn kein Mensch mir beisteht / du vergißt mich nicht und suchst mich, / du willst, daß ich dich erkenne und mich zu dir kehre / Herr, ich höre Deinen Ruf und folge.» (DBW 8, S. 204-206).

Gottvertrauen

Bonhoeffers Gebete und Gedichte6 sind kein oberflächliches, kein «billiges» Gottvertrauen, sondern durch Selbstzweifel und Selbstreflexion geprägt, etwa, wenn Bonhoeffer die Diskrepanzen zwischen seiner Wirkung nach aussen und seiner eigenen Gefühlswelt zur Sprache bringt, wie im Gedicht Wer bin ich: «Wer bin ich? Sie sagen mir oft, / ich träte aus meiner Zelle / gelassen und heiter und fest / wie ein Gutsherr aus seinem Schloß. […] Wer bin ich? Sie sagen mir auch, / ich trüge die Tage des Unglücks / gleichmütig, lächelnd und stolz, / wie einer, der Siegen gewohnt ist. / Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? / Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? / Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, / ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, / hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, / dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, / zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, / umgetrieben vom Warten auf große Dinge, / ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, / müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, / matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? […]» Und auch in diesem Gedicht-Gebet setzt Bonhoeffer sein Vertrauen gegen alle Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit auf Gott und formuliert in den Schlusszeilen: «Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!» (Juli 1944, DBW 8, S. 22-23).

Märtyrer des 20. Jahrhunderts mit Dietrich Bonhoeffer (auf dem Bildausschnitt ganz rechts). An der Fassade über dem großen Westportal der Westminster Abbey, London.

Von guten Mächten

In seinem ersten Gedicht in Gefangenschaft beklagte Bonhoeffer im Juni 1944 den Verlust der Vergangenheit, wobei die nicht lebbare «Vergangenheit» mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer in vielen Zeilen greifbar wird: «Es fiel die Tür ins Schloß, / ich höre deine Schritte langsam sich entfernen und verhallen. / Was bleibt mir? Freude, Qual, Verlangen? / Ich weiß nur dies: du gingst – und alles ist vergangen […]» Verzweiflung und selbst Hass werden im Gedicht zum Ausdruck gebracht. Erst gegen Ende findet sich etwas Hoffnung wieder: «Ich strecke die Hände aus / und bete – – / und ich erfahre das Neue: / Vergangenes kehrt dir zurück / als deines Lebens lebendigstes Stück» (Juni 1944, DBW 8, S. 570-571).

Sein letztes Gedicht, Von guten Mächten, schrieb Dietrich Bonhoeffer am 19. Dezember 1944 in seinem letzten Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer. Er befand sich seit Oktober nicht mehr im Wehrmachtsgefängnis in Tegel, sondern im Kellergefängnis der SS-Sicherheitszentrale an der Prinz-Albrecht-Strasse in Berlin, einem Haus des Terrors. Sein Schreiben, ein einziges Blatt, hinten und vorne eng beschrieben, ist der Zensur unterworfen und beginnt mit den Worten: «Meine Liebste Maria! Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und euch danken kann.» Während in seinem ersten Gedicht, Vergangenheit, Klage und Verzweiflung den Grundton ausmachen, so ist es in Bonhoeffers letztem Gedicht das Gottvertrauen, das sich durch seine tiefe Verbundenheit mit den Seinen und dem vergangenen Erlebten getragen weiss:

«Es werden sehr stille Tage in unseren Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlid von den Engeln heißt: ‹zweie die mich decken, zweie die mich wecken›, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute, unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsene heute nicht weniger brauchen als die Kinder. Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich.»7

Am Schluss des Briefes schreibt Bonhoeffer: «Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und die Geschwister». Und dann schreibt Bonhoeffer das Gedicht Von guten Mächten, in welchem er seine Hoffnung, seine «Ergebung» im Sinne eines Gottvertrauens und seine Glaubensstärke in tiefster Weise zum Ausdruck bringt:

Autograph des Gedichts Von guten Mächten in seinem Brief an Maria von Wedemeyer aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin, Dezember 1944

Von guten Mächten

  1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
    behütet und getröstet wunderbar,
    so will ich diese Tage mit euch leben
    und mit euch gehen in ein neues Jahr.
  2. Noch will das alte unsre Herzen quälen,
    noch drückt uns böser Tage schwere Last.
    Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
    das Heil, für das du uns geschaffen hast.
  3. Und reichst du uns den schweren Kelch,
    den bittern
    des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
    so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
    aus deiner guten und geliebten Hand.
  4. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
    an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
    dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
    und dann gehört dir unser Leben ganz.
  5. Laß warm und hell die Kerzen heute flammen,
    die du in unsre Dunkelheit gebracht,
    führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
    Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.
  6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
    so laß uns hören jenen vollen Klang
    der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
    all deiner Kinder hohen Lobgesang.
  7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
    erwarten wir getrost, was kommen mag.
    Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
    und ganz gewiß an jedem neuen Tag.(Dezember 1944, DBW 8, S. 607-608
  1. Zur Biographie von Dietrich Bonhoeffer vgl. Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, Gütersloh 9. Aufl. 2005; zu allen Schriften Bonhoeffers Dietrich Bonhoeffer: Werke, 17 Bände und 2 Ergänzungsbände, herausgegeben von Eberhard Bethge u. a., Gütersloh 1986-1999 [abgekürzt als DBW].
  2. Keinesfalls darf Bonhoeffer für christlichen Nationalismus missbraucht werden, wie dies seit ein paar Jahren in den USA geschieht: https://www.dietrich-bonhoeffer.net/bonhoeffer-aktuell/bonhoeffer-einzelmeldung/news/stellungnahmen-zur-politischen-vereinnahmung-dietrich-bonhoeffers/ [31.3.2025]
  3. Aus Dietrich Bonhoeffer: Die Kirche vor der Judenfrage, in: DBW 12, 348-365. Zur Bedeutung des Vortrags vgl. Hans-Walter Krumwiede: Zur Stellung der «mosaischen» Juden nach Bonhoeffers erster Judenschutzschrift «Die Kirche vor der Judenfrage» (1933), in: Kirchliche Zeitgeschichte/Contemporary Church History 17/2004, 386-395.
  4. Ruth-Alice von Bismarck / Ulrich Kabitz (Hrsg.): Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer – Maria von Wedemeyer 1943-1945, München 1992.
  5. Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, herausgegeben von Eberhard Bethge, Gütersloh 18. Auflage 2005.
  6. Zur Deutung der Gedichte aus der Haft vgl. Jürgen Henkys: Geheimnis der Freiheit. Die Gedichte Dietrich Bonhoeffers aus der Haft. Biographie, Poesie, Theologie, Gütersloh 2005.
  7. Ruth-Alice von Bismarck / Ulrich Kabitz (Hrsg.): Brautbriefe, S. 208.

     

    Bildnachweise: Titelbild und Bild 5: Märtyrer des 20. Jahrhunderts mit Dietrich Bonhoeffer. An der Fassade über dem großen Westportal der Westminster Abbey, London. Wikimedia Commons/Roland Fischer / Bild 1: Wikimedia Commons/Bundesarchiv, Bild 183-R0211-316 / CC-BY-SA 3.0 / Bild 2: E. Bethge und D. Bonhoeffer. 1939 vor dem Haus in Sigurdshof. Quelle: Bildbiografie Dietrich Bonhoeffer. Bilder aus seinem Leben, herausgegeben von Eberhard Bethge, Renate Bethge und Christian Gremmels, © Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh 2005 / Bild 3: Bonhoeffer mit seinen Eltern in deren Garten an der Marienburger Allee 43. Quelle: Bildbiografie Dietrich Bonhoeffer. Bilder aus seinem Leben, herausgegeben von Eberhard Bethge, Renate Bethge und Christian Gremmels, © Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh 2005 / Bild 4: Die Hinrichtungsstätte Bonhoeffers und weiterer Widerstandskämpfer: der Hof des Arrestblocks im KZ Flossenbürg. Wikimedia Commons / Bild 6: Autograph des Gedichts Von guten Mächten in seinem Brief an Maria von Wedemeyer aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, 19. Dezember 1944

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