Die Passionserzählungen sind jene Texte aus dem Neuen Testament, die von der Verhaftung, dem Prozess und der Kreuzigung Jesu erzählen. Sie sind zum Kulturgut der Menschheit geworden, weit über persönliche Religiosität hinaus. Bachs Matthäus- oder Johannespassion und ungezählte künstlerische Darstellungen haben viele Szenen tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Das Bild von Jesus mit der Dornenkrone oder Sätze wie «sich die Hände in Unschuld waschen» sind sprichwörtliches Allgemeingut. Sogar in unserer postchristlichen Gesellschaft sind Anspielungen auf die Passion in der Popkultur und bis in die Werbung hinein anzutreffen.
Auch wenn die Grundstruktur der Erzählungen bei allen Evangelisten ähnlich ist, sind die Unterschiede doch erheblich. Mit ihren je eigenen Passionserzählungen setzen Markus, Matthäus, Lukas und Johannes unterschiedliche Akzente, um die Bedeutung Jesu auszudrücken und in die persönliche Nachfolge einzuladen.
Passion in vier Spiegelungen: Was nur jeweils ein Evangelist erzählt
Besonders auffällig ist, was jeweils nur ein Evangelist erzählt, nicht erzählt oder ganz anders erzählt als die anderen. Das zeigt, was der jeweilige Autor hervorheben möchte. So erzählt zum Beispiel Johannes eine überraschende Szene: Die ganze Kohorte römischer Soldaten, die in Jerusalem stationiert war – also mehrere Hundert Bewaffnete – kommt zum Garten Getsemani, um Jesus zu verhaften. Als Jesus sich zu erkennen gibt, «wichen sie zurück und stürzten zu Boden» (Johannesevangelium 18,6). Historisch ist das ziemlich unwahrscheinlich. Doch die geradezu groteske Szene illustriert einen wichtigen Aspekt der johanneischen Christologie: Selbst in der Passion bleibt Jesus stets Herr des Geschehens.
Nur Matthäus erzählt, dass sich die Frau des Pilatus kurz vor dem Urteilsspruch für Jesus einsetzt: «Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten! Ich habe heute seinetwegen im Traum viel gelitten.» (Matthäusevangelium 27,19) Einerseits erinnert dieser Traum daran, dass Gott im Matthäusevangelium schon bei der Geburt Jesu Menschen im Traum die richtigen Wege gewiesen hatte (damals hatten Josef und die Sterndeuter mehrmals geträumt). Dass nun die Frau des Pilatus das Fehlurteil ihres Mannes und damit den Tod Jesu verhindern will, ist eine deutliche Aufforderung an die Leserinnen und Leser des Matthäus, Jesus als «Gerechten» im Sinne des jüdischen Glaubens anzuerkennen.
Ebenfalls nur Matthäus erzählt kurz darauf, dass Pilatus demonstrativ seine Hände wäscht und sich von der Verantwortung für den Tod Jesu freispricht (Matthäusevangelium 27,24). Damit spielt der Römer Pilatus auf ein biblisches Ritual zur Entsühnung an (vgl. Deuteronomium 21,1-9). Matthäus zeichnet Pilatus dadurch als skrupellosen Gewaltherrscher, der nicht nur Recht und Gerechtigkeit mit Füssen tritt, sondern auch Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit schamlos pervertiert: Der einzige Mensch, der Macht über das Schicksal Jesu hat, stiehlt sich aus der Verantwortung und schiebt sie in demselben Moment, in dem er allein das Todesurteil spricht, anderen zu.
Lukas setzt einen eigenen Akzent, indem er etwas weglässt, wovon Markus, Matthäus und Johannes berichten: Von der Verspottung Jesu durch das Umhängen eines Purpurmantels, aber auch von der Dornenkrone und der Folter durch die römischen Soldaten lesen wir bei Lukas nichts. Warum nicht? Will Lukas Jesus (und uns, den Lesenden) zumindest einen kleinen Teil der Qual und der Ohnmacht ersparen? Will er Jesus noch etwas mehr Lebenskraft lassen für eine weitere Szene, wovon wiederum nur Lukas erzählt – dem Gespräch mit den beiden Mitgekreuzigten und der Verheissung: «Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein»? (Lukasevangelium 23,43) Sicher ist: Lukas schildert das Sterben Jesu als vorbildhaften Tod eines ungerechtfertigt Verurteilten, der viele Menschen tief berührt, wie es zum Beispiel auch von Sokrates erzählt wurde. Bei Lukas stehen nicht nur die Jüngerinnen unter dem Kreuz, sondern Jesus stirbt im Kreis vieler Freunde: «Und alle, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und gingen weg. Alle seine Bekannten aber standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm von Galiläa aus nachgefolgt waren und die dies mit ansahen.» (Lukasevangelium 23,48-49)
Weniger vorbildhaft kommt ausgerechnet Petrus im Johannesevangelium davon. Dass Petrus Jesus dreimal verleugnet, erzählen alle Evangelisten. Bei Markus, Matthäus und Lukas bereut Petrus dies bitterlich und weint, sobald er es realisiert (Markusevangelium 14,72/Matthäusevangelium 26,75/Lukasevangelium 22,62). Im Johannesevangelium dagegen kräht der Hahn, ohne dass von einer Reaktion des Petrus erzählt wird (Johannesevangelium 18,27). Erst in der Wiederbegegnung mit dem Auferweckten am See Gennesaret deutet Johannes eine Selbsterkenntnis des Petrus an: «Da wurde Petrus traurig, weil Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: Liebst du mich? Er gab ihm zur Antwort: Herr, du weisst alles; du weisst, dass ich dich liebe.» (Johannesevangelium 21,17)
Von tiefster Not bis zum Gottvertrauen: Die Sterbeworte Jesu am Kreuz
Markante Unterschiede zeichnen die Evangelisten bei den letzten Worten, die Jesus am Kreuz spricht. Bei Markus, Matthäus und Lukas stirbt Jesus als Betender, mit einem Satz aus den Psalmen Israels auf den Lippen. Doch wie die 150 Psalmen ganz unterschiedliche Gefühlslagen zum Ausdruck bringen, so auch die Psalmworte, die die Evangelisten Jesus in den Mund legen. Bei Markus und Matthäus betet Jesus Psalm 22: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen …» Psalm 22 beginnt in tiefster Klage und Ausweglosigkeit. Wer diesen Psalm betet, fühlt sich von Menschen und von Gott selbst verlassen. Trotzdem ringt sich die Beterin, der Beter Schritt für Schritt zu der Hoffnung durch, dass Gott Rettung bringt: «Du aber, Gott, halte dich nicht fern! Du, meine Stärke, eile mir zu Hilfe! … Ich will deinen Namen meinen Brüdern und Schwestern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben …» (Psalm 22,20.23) Schon im frühesten Christentum diente Psalm 22 zur theologischen und spirituellen Deutung des Schicksals Jesu – nicht zuletzt deshalb, weil einige Verse aus dem Psalm eng mit der Passion verwoben sind: «Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand…» (Psalm 22,19).
Bei Lukas betet Jesus im Sterben einen Psalm mit ganz anderem Klang. Psalm 31 beginnt vertrauensvoll: «Gott, bei dir habe ich mich geborgen. Lass mich nicht zuschanden werden in Ewigkeit, rette mich in deiner Gerechtigkeit…» (Psalm 31,2) Was Lukas aus diesem Psalm als letztes Wort Jesu zitiert, drückt spezifisch lukanische Theologie aus: «In deine Hände lege ich meinen Geist» (Psalm 31,6). Bei Lukas spielt der Geist auch sonst eine besondere Rolle: Schon der Ursprung Jesu ist vom Heiligen Geist gewirkt (Lukasevangelium 1,35), und Maria, die Mutter Jesu, jubelt darüber im Heiligen Geist (Lukasevangelium 1,47). Bei der Taufe durch Johannes steigt der Heilige Geist auf Jesus herab (3,22), und später jubelt Jesus selbst im Heiligen Geist (Lukasevangelium 10,21). Nun, am Ende seines Lebens, gibt Jesus den von Gott empfangenen Geist mit den Worten von Psalm 31,6 zurück: «Und Jesus rief mit lauter Stimme: Vater in deine Hände lege ich meinen Geist. Mit diesen Worten hauchte er den Geist aus.» (Lukasevangelium 22,46).
Johannes schliesslich verzichtet auf die Psalmen. In höchster Eigenständigkeit, die das Jesusbild im Johannesevangelium auch sonst prägt, stirbt Jesus mit den Worten: «Es ist vollbracht.» (Johannesevangelium 19,30) Das ist Ausdruck der spezifisch johanneischen Christologie, wonach Jesus als lebendiges Wort von Anfang an bei Gott war (Johannesevangelium 1,1), später aber «unter uns gewohnt» (1,14) und von Gott «Kunde gebracht» hat (Johannesevangelium 1,18). Als Vollendung dieses Weges, so Johannes, muss Jesu «über die Erde erhöht» werden (Johannesevangelium 12,32-33; 3,14) – gemeint ist die Kreuzigung.
«Ich sehe dich in tausend Bildern…»
«Ich sehe dich in tausend Bildern…» ist der Anfang eines frühromantischen Gedichtes, mit dem Novalis (1772-1801) seinen vielschichtigen Blick auf Maria, die Mutter Jesu, in Worte gefasst hat. Ähnliches lässt sich auch über das Bild sagen, das das Neue Testament von Jesus zeichnet. Es gibt vier grosse «Gemälde» bzw. Erzählzyklen, in denen Markus, Matthäus, Lukas und Johannes Jesus in je spezifischer Weise portraitieren. Die Umrisse, die Grundbotschaft malen zwar alle Evangelisten in ähnlichen Farben. Im Detail zeichnen sie das Antlitz Jesu jedoch unterschiedlich, unter anderem: Markus besonders menschlich, Matthäus besonders jüdisch, Lukas besonders vorbildhaft, Johannes besonders erhaben. Die vielschichtigen Perspektiven, Spiegelungen und Resonanzen, die das bei Leserinnen und Lesern seit 2000 Jahren auslöst, laden auch uns heute zur Nachfolge auf vielfältigen Wegen ein.1
- Bildnachweise: Titelbild: Ein Gemälde eines abstrakten Kreuzes an einer Wand. Unsplash@jrkorpa / Bild 1: Die vier Evangelistensymbole: Engel (Matthäus), Löwe (Markus), Stier (Lukas) und Adler (Johannes). An der Decke des Altarraums der Wernigeröder Christuskirche. Wikimedia Commons/Christian Reinboth / Bild 2: Ostfenster 3 in der All Saints Church in Tudeley (Kent, England), gestaltet von Marc Chagall. Wikimedia Commons/Michael Garlick / Bild 3: Jesus am Kreuz mit dem Schriftzug „Es ist vollbracht“. Wikimedia Commons/Path2018
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