Das Neue Testament enthält viele Erzählungen mit offenem Schluss. Im Evangelium ist die Geschichte zwar zu Ende – doch beim Lesen oder Hören merkt man: Jetzt geht die Sache eigentlich erst richtig los. Gerade das Ende vieler Geschichten stellt neue Fragen, löst neue Dynamik aus. Das führt mitten hinein in die Botschaft Jesu.
Solche anregenden, offenen Schluss-Szenen gibt es einerseits in vielen Begegnungen, die Jesus mit Menschen hat – Gesprächen, Reden, Heilungen –, aber auch in Gleichnissen, die Jesus selbst erzählt. Unwillkürlich kommt die Frage auf: Wie geht die Geschichte eigentlich weiter? Was macht diese Erfahrung mit den Menschen, von denen erzählt wird? Wie gehen sie weiter in ihrem Leben – in dem Moment, in dem die Erzählung endet, aber auch am nächsten Tag, in der nächsten Woche?
Menschen zwischen Erstaunen, Entsetzen und Sprachlosigkeit
Oft erzählen die Evangelisten ausdrücklich davon, wie Menschen auf eine Begegnung mit Jesus reagieren. Das ist häufig dramatisch, denn was sie sehen und erleben, wühlt die Menschen auf. Einmal bringen zum Beispiel vier Männer einen gelähmten Menschen zu Jesus. Sie müssen ihn durchs Dach zu Jesus hinunterlassen, weil sie sonst nicht an ihn herankommen. Nachdem Jesus den Menschen geheilt (und ihm Sünden vergeben) hat, geraten alle ausser sich. Im griechischen Text steht ein Wort, das mit Ekstase zu tun hat (exhístemi). Und sie preisen Gott: «So etwas haben wir noch nie gesehen.» (Markusevangelium 2,1-12)

Die Reaktionen sind jedoch keineswegs immer so positiv. Nach der Brotvermehrung schickt Jesus seine Jüngerinnen und Jünger mit dem Boot voraus auf den See. Er selbst betet selbst noch auf einem Berg am Ufer. Mitten in der Nacht, so erzählt es Markus, kommt er über den See zu ihnen. Noch nachdem sie ihn schliesslich erkannt haben, sind sie bestürzt und fassungslos. Markus verwendet wieder dasselbe Wort (exhístemi), doch dieses Mal löst sich die Szene nicht in Gotteslob auf. Stattdessen schildert der Evangelist die Jünger als uneinsichtig, ja sogar: «ihr Herz war verstockt» (Markusevangelium 6,45-52). In anderen Situationen geht das bis zur Sprachlosigkeit: Als Jesus den Jüngerinnen und Jüngern zum zweiten Mal sein bevorstehendes Leiden ankündigt, «verstanden sie das Wort nicht, fürchteten sich jedoch, ihn zu fragen» (Markusevangelium 9,30-32).
Was geschieht wohl mit den Jüngerinnen und Jüngern – und in ihrer Begegnung mit Jesus –, nachdem die jeweilige Erzählung des Evangelisten zu Ende ist, jedenfalls im Text des Evangeliums selbst? Reden sie miteinander? Fragen sie Jesus später doch noch? In welcher Stimmung, mit welchen Hoffnungen sind sie weiter mit ihm unterwegs? Der überraschende, manchmal provozierende Abschluss solcher Erzählungen lädt dazu ein, die Geschichten weiter zu denken, innerlich mit den Jüngerinnen und Jüngern und mit Jesus mitzugehen und auch eigene, persönliche Antworten auf diese Fragen zu finden.
Was folgt auf das letzte Wort Jesu?
Oft hat Jesus im Evangelium das letzte Wort: Eine Begegnung oder ein Gespräch endet mit einem Jesuswort. Häufig eröffnet gerade dieses letzte Wort Jesu jedoch eine derart neue Sicht auf das Geschehen, dass das Gespräch jetzt erst richtig losgehen müsste. Manchmal ist die Situation, die diesem letzten Wort Jesu vorausgeht, auch so dynamisch oder sogar kontrovers, dass das letzte Wort gerade nicht dazu geeignet ist, nur «Ja und Amen!» darauf zu sagen. Gerade das letzte Wort lädt zu vertieftem Nachdenken ein, zum Abwägen, zur Suche nach neuen Perspektiven: Drei Beispiele:
- «Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.» (zur Sabbat-Einhaltung, Markusevangelium 2,23-28)
- «Dieser Generation wird niemals ein Zeichen gegeben werden.» (nachdem Pharisäer ein Zeichen vom Himmel zur Legitimation Jesu gefordert hatten, Markusevangelium 8,10-13)
- «Auf der ganzen Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.» (zur Salbung durch eine Frau vor der Passion, Markusevangelium 14,3-9)
Manchmal ist das letzte Wort Jesu in einer Erzählung auch ausdrücklich eine Frage – und sie bleibt unbeantwortet. In diesen Fällen ist besonders deutlich, dass Jesus (bzw. der Evangelist) damit den Auftakt zu vertieftem Nachdenken und gemeinsamer Suche nach Antwort setzt:
- «Versteht ihr immer noch nicht?» (zu seinen Jüngerinnen und Jüngern, die sich – trotz zwei Brotvermehrungen – Sorgen darum machen, dass sie kein Brot dabeihaben, Markusevangelium 8,14-21)
- «David selbst also nennt den Messias ‚Herr‘. Wie kann er dann sein Sohn sein?» (auf eine ziemlich komplizierte, schriftgelehrte Frage, Markusevangelium 12,35-37)
- «Wird der Menschensohn, wenn er kommt, Glauben auf der Erde finden?» (nach dem Gleichnis vom Richter und der Witwe, Lukasevangelium 18,1-8)
Wie die Gespräche damals, zur Zeit Jesu, weitergegangen sind, erzählen uns die Evangelisten nicht. Auch für uns heute sind diese Worte, Fragen und Szenen jedoch eine Einladung, selbst ins Gespräch mit der Schrift einzutreten.

Hat Jesus mit seinen Aufforderungen eigentlich Erfolg?
Eine weitere Art der Evangelisten, eine Erzählung mit einem offenen Schluss zu beenden, sind die Aufforderungen und Anweisungen Jesu. Sie stehen öfters am Ende einer Geschichte, und in den meisten Fällen bleibt offen, wie die angesprochenen Menschen darauf reagieren. Stösst Jesus auf positive Resonanz – oder bleibt alles beim Alten? Die Evangelien erzählen das nicht – und geben die jeweiligen Aufforderungen damit auch an uns heute weiter:
- «Wer Ohren hat zum Hören, der höre!» (als Abschluss des Gleichnisses vom Sämann, Markusevangelium 4,3-9): Wer hört genauer hin nach diesem Wort?
- «Geh und handle du genauso!» Diese Aufforderung ist die letzte Antwort Jesu auf die Frage eines Gesetzeslehrers, der ihn ursprünglich nach dem ewigen Leben gefragt hatte und später danach, wer sein Nächster sei. Jesus erzählt ihm darauf die Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukasevangelium 10,25-37). Was wird der Gesetzeslehrer nun tun? Wird er weiter theoretische Fragen stellen und bisweilen spitzfindige theologische Diskussionen führen? Oder lässt er sich auf die Aufforderung Jesu zu einer neuen Praxis ein, die Vorurteile und Abgrenzungen gegenüber anderen Menschen durchbricht?
- «Folge mir nach; lass die Toten ihre Toten begraben»: Mit dieser herausfordernden Aufforderung lädt Jesus einen seiner Jünger, der erst noch seine Vater begraben möchte, in eine neue Form der konkreten Nachfolge ein. Wird dieser sich darauf einlassen – oder bleibt er zuhause? (Matthäusevangelium 8,18-22)
«Wer ist denn dieser?»
Gewissermassen der Kulminationspunkt vieler Erzählungen mit offenem Schluss ist die Geschichte von der Stillung des Seesturms. Sie wird von allen drei Evangelisten erzählt (Markusevangelium 4,35-41, Lukasevangelium 8,42-45, Matthäusevangelium 8,23-27): Die Jüngerinnen und Jünger Jesu sind zusammen mit Jesus in einem Boot auf dem See Gennesaret unterwegs. Jesus schläft ein. Ein Sturm kommt auf und wird so gewaltig, dass sich das Boot mit Wasser füllt und zu sinken droht. In Todesangst wecken die Jünger Jesus auf. Jesus jedoch reagiert mit einer Frage und einem Vorwurf: «Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?» (Markusevangelium 4,40) Dann droht er dem Wind wie bei einer Dämonenaustreibung. Der Sturm legt sich und es tritt völlige Stille ein. In allen drei Evangelien endet die Geschichte mit einer Frage, die sich die Jüngerinnen und Jünger selbst stellen – und die wiederum unbeantwortet bleibt: «Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?» (Markusevangelium 4,41)

Diese Frage zeigt, worauf Geschichten mit offenem Ende im Neuen Testament abzielen: Gerade der Schluss vieler Erzählungen soll neue Fragen, Gespräche und Beschäftigung mit der Schrift auslösen, und zwar insbesondere die Frage nach der Identität Jesu und seiner Bedeutung für die Menschen: «Wer ist denn dieser?» Matthäus macht dies – im Unterschied zu Markus und Lukas – besonders deutlich, indem er diese Frage nicht nur die Jüngerinnen und Jünger im Boot stellen lässt, sondern sogar alle Menschen, weit über die kleine Gruppe im Boot hinaus: «Die Menschen aber staunten und sagten…» (Matthäusevangelium 8,27)
Kurt Marti hat einmal geschrieben: «Fragen bleiben jung. Antworten altern rasch.» Das gilt auch für die Christologie. Mit den Evangelisten können wir lernen, Grundfragen unseres Lebens und Glaubens immer wieder neu zu entdecken, zu stellen und darauf zu antworten. Keinesfalls nur mit «Ja und Amen», sondern mit je persönlichen Antworten in unserem Leben und in unserer Gemeinschaft. Auch in der Kirche. Der offene Schluss vieler Erzählungen in den Evangelien will uns, unsere Identität, unser Zusammenleben und unsere Welt berühren – und verändern.1
- Bildnachweise: Titelbild: Eine Frau geht mit einem Buch am Strand entlang. Unsplash@benwhitephotography / Bild 1: Heilung eines Gelähmten, Laurentius Ulrich Englisch, 2024, Acryl auf Papier. Wikimedia Commons: Laurentius Ulrich Englisch / Bild 2: Ein Gemälde an einer Gebäudewand. Ein Mann hält ein Buch in den Händen und denkt nach. Unsplash@tre4567 / Bild 3: Niccolò Circignani: Jesus beruhigt den Sturm am See Genezareth, Fresko in der Sala della Meridiana, Turm der Winde, Vatikan, 16. Jh. n. Chr. Wikimedia Commons.
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