Die Bergpredigt: Jesus als Schriftausleger

Die Bergpredigt gilt als besonders typisch für die Botschaft Jesu. Das ist sicher richtig. Gleichzeitig zeigt sich bei genauerem Hinsehen, wie sehr die Bergpredigt vom Ersten Testament und anderen jüdischen Texten geprägt ist. Die Bergpredigt schöpft nicht nur aus diesen Traditionen, sondern legt die Schriften aus, ist mit ihnen im Gespräch und bezieht im Gegenüber zu ihnen Position. Hier zeigt sich in besonderer Weise, was es bedeutet, wenn wir anerkennen: Jesus war Jude.

Die Bergpredigt ist die erste große Redekomposition im Matthäusevangelium (Matthäusevangelium 5–7). Hier lässt Matthäus seinen Protagonisten Jesus gleich zu Beginn der öffentlichen Wirksamkeit zentrale Inhalte seiner Botschaft formulieren.

Die Szenerie ist eindrücklich: Jesus steigt auf einen Berg, setzt sich wie ein Lehrer und beginnt zu lehren. Es ist also eher eine Rede oder eine Lehre auf dem Berg als eine eigentliche Predigt. Die Bezeichnung als «Bergpredigt» verdanken wir dem Kirchenlehrer Augustinus (354–430 n. Chr.), der seine Auslegung zum Matthäusevangelium 5–7 «Über die Predigt des Herrn auf dem Berg nach Matthäus / De Sermone Domini in Monte secundum Matthaeum» betitelte.

Viele bekannte Jesusworte finden sich in dieser Redekomposition: die Seligpreisungen ebenso wie die Worte vom Salz der Erde und dem Licht der Welt, der Aufruf zur Feindesliebe ebenso wie das Vaterunser oder die goldene Regel.

Die heutige Kirche auf dem Berg der Seligpreisungen am See Genezareth (Israel), wo Jesus gemäss der Tradition die Bergpredigt gehalten haben soll.

Die Tora bleibt in Kraft

Vom Anfang der Rede an zeigt Matthäus seinen Jesus im Dialog mit den jüdischen Schriften. Dabei geht es an keiner Stelle darum, dass Jesus die Tora oder andere Schriften ausser Kraft setzen oder einschränken würde. Vielmehr geht es um die Auslegung der Schriften durch Jesus. Dies wird besonders deutlich in dem Abschnitt, der zumeist als «Antithesen» bezeichnet wird, weil sich Jesus hier ganz explizit mit den Weisungen der Tora auseinandersetzt (Matthäusevangelium 5,21-48). Diesem Abschnitt wird eine Art Grundsatzerklärung vorangestellt, die die uneingeschränkte Geltung der Schriften und speziell der Tora bekräftigt:

«Denkt nicht, ich sei gekommen, die Tora und die Propheten aufzulösen!
Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen.»
(Matthäusevangelium 5,17)

Dabei bedeutet das «Erfüllen» – wörtlich übersetzt: «voll machen» – weder eine Ablösung der Tora durch Jesus noch eine Überbietung. Vielmehr meint es eine Bekräftigung und Bestätigung – und damit das Gegenteil des «Auflösens».

Nach dieser Grundsatzerklärung kann es in dem folgenden Abschnitt, den sogenannten «Antithesen» (Matthäusevangelium 5,21-48), also keinesfalls um ein «Auflösen» oder «Aufheben» der Tora gehen. Vielmehr geht es um deren rechte Auslegung. Diese erfolgt in der Perspektive des Matthäusevangeliums «selbstverständlich» durch Jesus, der als souverän argumentierender Schriftgelehrter präsentiert wird. Und auch wenn der Jesus der Bergpredigt dabei pointiert Stellung bezieht, zeigt sich: Die Auslegung der Tora durch Jesus, wie sie Matthäus vorstellt, ist bereits in einen jüdischen Diskussionskontext eingebettet und greift Vorbilder aus biblischen und außerbiblischen Texten auf.

Auszug aus einer Levitikusschriftrolle aus Qumran, vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr.

Zum Beispiel: die Feindesliebe

Exemplarisch lässt sich dies am Spruch zur Feindesliebe zeigen, mit dem die Reihe der sogenannten «Antithesen» abgeschlossen wird und der oft als besonders typisch für Jesus angesehen wird:

«Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist:
Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.
Ich nun sage euch dazu:
Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen …»
(Matthäusevangelium 5,43-44)

Der Spruch nimmt in seiner einleitenden These zunächst das Nächstenliebegebot aus dem Buch Leviticus auf:

«Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.» (Leviticus 19,18)

Das gilt es zunächst festzuhalten; denn in der christlichen Auslegung wurde oft (und wird manchmal noch) übersehen, dass das Nächstenliebegebot aus der Tora stammt und ein zentrales jüdisches Gebot ist.

Matthäus greift dieses Nächstenliebegebot nicht nur an dieser Stelle, sondern noch an zwei weiteren Stellen seines Buches auf, zitiert es dort allerdings jeweils vollständig mit der Näherbestimmung «wie dich selbst» (Matthäusevangelium 19,19; 22,39). Hier in Jesu Rede auf dem Berg lässt er diese Näherbestimmung weg und formuliert stattdessen: «Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.» (Matthäusevangelium 5,43)

Ein solches explizites und allgemeines Gebot, die Feinde zu hassen, ist allerdings an keiner Stelle der alttestamentlichen Schriften zu finden.1 Trotzdem ergänzt Matthäus das alttestamentliche Nächstenliebegebot durch eine solche Maxime, die vielleicht in manchen Diskursen geäussert worden sein mag, aber nicht in den massgeblichen Schriften verankert ist. Damit modelliert er eine profilierte Position, gegenüber der er seinen Jesus Stellung beziehen lässt:

«Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen,
damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet;
denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten
und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.» (Matthäusevangelium 5,44-45)

Mit der Ausweitung auf die Feinde führt der Jesus der Bergpredigt das alttestamentliche Nächstenliebegebot weiter und spitzt es dadurch zu, dass sich die Liebe auch auf die Feinde beziehen soll. Allerdings wird es dem Schriftgelehrten Matthäus kaum entgangen sein, dass schon im Buch Leviticus im unmittelbaren Kontext des Nächstenliebegebots gefordert wird, gegenüber dem schuldig gewordenen Nächsten keinen Hass zu hegen, keine Rache zu üben und ihm nichts nachzutragen, sondern ihn lediglich zurechtzuweisen (Leviticus 19,17-18). Damit ist der Schritt, eine solche Haltung auch gegenüber Feinden zu praktizieren, fast schon vorbereitet.

Levitikus 19,17 auf Hebräisch auf einem Prideparade-Schild in Ashdod, Israel

Ein faires Verhalten gegenüber Feinden wird explizit an anderen Stellen des Ersten Testaments gefordert. So fordert das weisheitliche Buch der Sprüche, auch dem Feind in einer Notlage Hilfe zu gewähren:

«Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen,
hat er Durst, gib ihm zu trinken;
so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt
und der Ewige wird es dir vergelten.»
(Buch der Sprüche 25,21-22)2

Auch im «Bundesbuch», einer alten Rechtssammlung im Buch Exodus, wird zur konkreten Hilfeleistung für den Feind aufgefordert, wenn dieser sich in einer Notlage befindet:

«Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest,
sollst du ihm das Tier zurückbringen.
Wenn du siehst, wie der Esel deines Feindes unter seiner Last zusammenbricht,
dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!»
(Exodus 23,4f.)

Zwar ist hier nicht wörtlich vom «Lieben» des Feindes die Rede; doch geht es um konkrete Handlungen, die dem Feind in einer Notsituation zugutekommen sollen. Gefordert ist nicht Liebe im emotionalen Sinne, sondern ein konkretes Tun, das man auch dem in Not geratenen Feind angedeihen lassen soll. Wen man sich unter dem Feind vorstellen soll, wird nicht näher ausgeführt.

Faires Verhalten gegenüber den Feinden in der jüdischen Tradition

Die beiden Texte aus dem Buch der Sprüche und dem Bundesbuch haben einen vielfältigen Nachhall in der frühjüdischen Bibelexegese gefunden. So führt ein Midrasch zum Buch der Sprüche 25,21 den Gedanken weiter und zeigt, wie man durch das positive Tun den Feind sogar zum Frieden bewegen könne:

«Rabbi Chama ben Chanina sagte: ‹Wenn dein Feind, der dich töten will, hungrig und durstig in dein Haus kommt, gib ihm Speise und Trank, und Gott wird Frieden in sein Herz tun.›»

Das nicht kanonisierte 4. Makkabäerbuch, das etwa zeitgleich zum Matthäusevangelium und vermutlich ebenfalls in Syrien entstanden sein dürfte, nimmt auf Exodus 23,4f. Bezug und zeigt anhand des Beispiels der Hilfe für die Feinde, wie die Urteilskraft die Leidenschaften im Griff habe:

«Und haltet das bitte nicht für etwas Paradoxes, wo doch die Urteilskraft mit Hilfe des Gesetzes selbst die Feindschaft zu überwinden vermag. Sie verzichtet darauf, durch Umhauen der Bäume die Kulturpflanzungen der Kriegsgegner zu verwüsten (vgl. Dtn 20,19f), sie rettet das (verirrte) Vieh der persönlichen Feinde vor dem Zugrundegehen und hilft ihm, wenn es (unter seiner Last) zusammenbricht, wieder auf die Beine.» (4. Makkabäerbuch 2,9b)

Ähnliche Auslegungen finden sich in zahlreichen weiteren jüdischen Schriften. Und Ähnliches liesse sich zu vielen weiteren Abschnitten der Bergpredigt zeigen.3

Die Bergpredigt, Cosimo Rosselli, Fresko in der Sixtinischen Kapelle, Vatikan, zw. 1481 und 1482 n. Chr.

Matthäus und Jesus als jüdische Schriftausleger

All dies zeigt: Der jüdische Schriftgelehrte Matthäus schöpft aus einer reichen Tradition der jüdischen Schriften und ihrer Auslegung. Er erweist sich in seinem gesamten Werk und besonders in der Rede auf dem Berg als ein ausgezeichneter Kenner der Tora, der prophetischen Schriften, der Psalmen und anderer Schriften, die heute zur Bibel gehören und auch solche, die später keinen Eingang in den Kanon gefunden haben. Diese Texte sind Ausdruck jüdischer Diskussionen um die Schriftauslegung, die zu seiner Zeit geführt wurden und mit denen er sich auseinandersetzt.

Innerhalb dieser Diskussionen stellt Matthäus seinen Jesus in seiner Rede auf dem Berg als einen überzeugenden jüdischen Lehrer dar, der gegenüber anderen Schriftinterpretationen seine Auslegung des Gotteswillens vorträgt und dabei durchaus pointiert Stellung bezieht. Für Matthäus ist klar: Gegenüber den anderen Schriftinterpretationen ist es Jesus, der den Gotteswillen «richtig» auslegt. Wie grundlegend es ist, der Auslegung Jesu zu folgen und sein Handeln danach auszurichten, zeigt Matthäus im Schlussgleichnis der Bergpredigt: Wer Jesu Worten folgt und danach handelt, ist wie ein Mensch, der sein Haus auf Fels gebaut hat (Matthäusevangelium 7,24-27). Anderen Schriftgelehrten hingegen wirft Matthäus vor, mit ihren Auslegungen «das Himmelreich zu verschliessen» (Matthäusevangelium 23,13).

Auch wenn diese Auseinandersetzungen hart sind: Sie spielen sich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ab, in einer Zeit, als die Spannungen zwischen christusgläubigen Menschen jüdischer Herkunft und Menschen jüdischer Herkunft, die nicht an Jesus als den Messias glaubten, zunahmen und bereits zu Trennungsprozessen geführt hatten. Umso wichtiger ist es zu sehen, wie Matthäus seinen Jesus – trotz alledem oder gerade deshalb – inmitten der jüdischen Diskurse der Zeit verortet und wie grundlegend er Jesus als Juden versteht. Das gilt es mit Matthäus heute wieder zu lernen.

  1. Gelegentlich wird auf Deuteronomium 23,4-7; Psalm 139,19-22; Jesus Sirach 12,1-6 oder die Gemeinderegel aus Qumran 1QS 1,3f.9f verwiesen; doch handelt es sich hier um spezielle Fälle und nicht um allgemein gültige Gebote.
  2. Ähnlich auch Buch der Sprüche 24,17; Buch Jesus Sirach 10,6; 28,1-6.
  3. Vgl. z. B. Sabine Bieberstein: Die Bergpredigt als Schriftauslegung, in: Welt und Umwelt der Bibel 115 (1/2025), 9–13.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Ausblick von einem Berg auf den See Genezareth. Foto: TA / Bild 1: Die heutige Kirche auf dem Berg der Seligpreisungen, wo Jesus gemäss der Tradition die Bergpredigt gehalten haben soll. Wikimedia Commons: Itamar Grinberg/israeltourism / Bild 2: Auszug aus einer Levitikusschriftrolle aus Qumran (11QpaleoLeva ), vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr. Wikimedia Commons: Shai Halevi on behalf of the Israel Antiquities Authority /Bild 3: Levitikus 19,17 auf Hebräisch auf einem Prideparade-Schild in Ashdod, Israel. Wikimedia Commons: Danny-w. / Bild 4:  Die Bergpredigt, Cosimo Rosselli, Fresko in der Sixtinischen Kapelle, Vatikan, zw. 1481 und 1482 n. Chr. Wikimedia Commons.

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