Mit dem Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils jährt sich diesen Herbst zum 60. Mal auch die Veröffentlichung von «Nostra aetate». Die Erklärung markiert eine Wende im Umgang mit den nichtchristlichen Religionen – insbesondere mit dem Judentum.
Am 28. Oktober 1965 verabschiedete eine grosse Mehrheit der Konzilsteilnehmer die «Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen» («Nostra aetate», auf Deutsch: «in unserer Zeit»). Über den Inhalt der Erklärung wurde während der gesamten Dauer des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1695) gerungen.1 Im Fokus der Diskussionen stand von Anfang an eine Öffnung gegenüber dem Judentum. Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion und deren Glaubensinhalten bildet denn auch das Herzstück des Dokuments.
Neu war die grundsätzliche Standortbestimmung der katholischen Kirche: Bis zum Zweiten Vatikanum vertrat diese einen exklusiv verstandenen Wahrheitsanspruch, nach dem ausserhalb der Kirche kein Heil zu finden sei («extra ecclesiam nulla salus»). Das von Papst Johannes XXIII. (1958–1963) initiierte und unter Papst Paul VI. (1963–1978) verabschiedete Dokument «Nostra aetate» (NA) anerkennt Wahres und Heiliges nun auch in anderen Religionen, wenngleich, wie der jüdische Historiker Michael Wolffsohn betont, «der Überlegenheitsanspruch bleibt»2.

Existenzielle Sinn- und Lebensfragen verbinden alle Menschen
Anstelle von Abgrenzung und Exklusivität erkannte man als Aufgabe der Kirche, «Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern» und das in den Blick zu nehmen, «was den Menschen gemeinsam ist und sie zur Gemeinschaft untereinander führt» (NA, Nr. 1). Alle Menschen suchten irgendwann Antworten auf existenzielle Sinn- und Lebensfragen, also auf Fragen wie: Was ist der Weg zum wahren Glück? Welchen Sinn hat das Leid? Oder: Woher kommen die Menschen und wohin gehen wir?
Gemeinsam sei allen Menschen und Völkern zudem «eine gewisse Wahrnehmung jener verborgenen Macht, die dem Lauf der Welt und den Ereignissen des menschlichen Lebens gegenwärtig ist» (NA, Nr. 2), die nicht selten auch zu der Anerkenntnis einer Gottheit führe. Auch bildeten sich in allen Religionen Lehren, Lebensregeln und heilige Riten aus. Die katholische Kirche lehne «nichts von alledem ab» (NA Nr. 2). Ihre Aufgabe sei es aber, im Gespräch und in der Zusammenarbeit mit anderen Religionen Jesus Christus als den «Weg, die Wahrheit und das Leben» (Johannesevangelium 14,6) zu verkündigen und die mit dem christlichen Glauben verbundenen Güter und Werte zu wahren und zu fördern.
Dem Islam und dem Judentum widmet «Nostra aetate» jeweils einen eigenen, jedoch unterschiedlich stark gewichteten Abschnitt. Mit Bezug auf die muslimische Religion würdigt die Erklärung die gemeinsamen Glaubensinhalte – die Erwartung der Auferstehung der Toten und des Gerichts, den Bezug auf Abraham, die Verehrung Marias und Jesu als eines Propheten – und benennt den entscheidenden theologischen Unterschied (Jesus, den Muslim:innen «nicht als Gott anerkennen», NA Nr. 3). Ausserdem ruft das Dokument beide Seiten zum gegenseitigen Verständnis auf.

Absage an die These von den Juden als «Volk der Gottesmörder»
Mit Bezug auf das Judentum steckt «Nostra aetate» einen weiteren Rahmen ab. Betont wird das «gemeinsame geistliche Erbe», die besondere Verbindung von Christentum und Judentum, «das Band, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist» (NA Nr. 4). «Nostra Aetate» anerkennt das Judentum als Wurzel des Christentums. Zudem grenzt es sich ab von dem in der christlichen Theologie über Jahrhunderte verbreiteten Vorwurf, das jüdische Volk als Ganzes trage die Schuld am Leiden und Tod Jesu.
Unter dem Eindruck des erst 20 Jahre zurückliegenden Holocausts verurteilt das Konzilsdokument «alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben» (NA Nr. 4). Hier klingt der von christlicher Seite geprägte Antisemitismus an, mit der auch die Kirche der Verfolgung und Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten den Boden bereitet hatte.
Namentlich erwähnt wird die Shoa und die Mitverantwortung der Kirche jedoch nicht. Erst 1998 nimmt eine von Johannes Paul II. eingerichtete Kommission kritisch Stellung zu der Rolle und Verantwortung von Christ:innen und besonders von kirchlichen Amtsträgern während der NS-Zeit. Eine explizite Entschuldigung der Kirche als Institution steht bis heute aus.
«Nostra aetate» beruft sich abschliessend auf die universale Menschenwürde und die damit verbundenen Menschenrechte. Die Erklärung wendet sich gegen «jede Diskriminierung eines Menschen oder jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen», weil dies dem Geist Christi widerspreche. Ein Aufruf, der heute nicht oft genug wiederholt werden kann, auch und gerade mit Blick auf den aktuell weltweit erstarkenden Antisemitismus.

Tiefere Gründe des aktuellen Antisemitismus
Befasse sich die katholische Kirche nicht mit «den tieferen Gründen von Judenhass», drohe auch sie wieder in Antijudaismus abzugleiten, schreibt der Luzerner Judaist und Theologe Christian Rutishauser in einem Beitrag der «Herder Korrespondenz». Er fragt: «Stellen Verschwörungstheorien über jüdische Weltherrschaft säkulare Zerrformen eines früheren Gottesglaubens dar? Mutiert die Frustration über eine zu komplexe, unerlöste Welt in Judenhass, weil das Judentum das messianische Bewusstsein und damit auch das Wissen um die Unerlöstheit geweckt hat?»3 Auch eine Auseinandersetzung mit dem Land der Bibel, mit dem Staat Israel und mit dem jüdischen Volk hält Rutishauser für unausweichlich. Vom Judentum als Religion sei beides nicht zu trennen.
Mit Blick auf den christlich-jüdischen Dialog stellt die Veröffentlichung von «Nostra aetate» einen Wendepunkt dar, hinter den es kein Zurück gibt. Die Erklärung markiert zugleich nur den Anfang eines Weges, auf dem zwar bereits einige Schritte getan wurden, dessen Ende aber noch lange nicht erreicht ist.
- Vgl. Hardy Ostry: Die Judenfrage auf dem Konzil – der Kampf um Nostra Aetate, in: Thomas Brechenbacher/Hardy Ostry: Paul VI. Rom und Jerusalem, Konzil, Pilgerfahrt, Dialog der Religionen, mit einem Vorwort von Walter Kasper, Trier 2000, S. 116–241.
- Michael Wolffsohn: Feindliche Nähe. Von Juden, Christen und Muslimen, Freiburg i. Br. 2025, S. 196.
- Christian M. Rutishauser: Eine Theologie des Landes und der Diaspora, in: Herder Korrespondenz 3/2025.
Bildnachweise: Titelbild: Davidstern, Kreuz und Halbmond. Es sind bekannte Symbole von Judentum, Christentum und Islam. Unsplash/Pfarrblattt Bern / Bild 1: Eine Sitzung während dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Wikimedia Commons. / Bild 2: Synagoga and Ecclesia in Our Time (2015). Die Skulptur von Joshua Koffman wurde anlässlich des 50. Jahrestages von Nostra aetate von der Saint Joseph’s University in Auftrag gegeben. Hier werden Judentum und Christentum als gleichberechtigtes Paar dargestellt. Wikimedia Commons: Calimeronte / Bild 3: Plakat mit dem Zitat „Die Kirche verwirft jede Diskriminierung eines Menschen und jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen, weil dies dem Geist Christi widerspricht. II. Vatikanisches Konzil, Nostra aetate – 1965“ am Kölner Dom bei der Veranstaltung „Köln stellt sich quer“ am 14. Januar 2015. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
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