In vielerlei Hinsicht leben wir in einer welthistorisch einmaligen Zeit mit einzigartigen, bislang unbekannten ethischen Herausforderungen. «Natürlich», werden Sie denken, «jetzt kommt wieder einer dieser Texte über die Klimakrise, über die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz, das Leid von Flüchtlingen oder über ein anderes sozialethisches Dauerbrennerthema …» Bei aller Relevanz der mit diesen Themen verbundenen Fragestellungen wollen wir uns in diesem Beitrag jedoch auf ein scheinbares ethisches Randthema fokussieren, das in seiner Relevanz aber keinesfalls unterschätzt werden sollte – weil es nämlich ursächlich dafür verantwortlich ist, wie wir unser Zusammenleben auf dieser Erde gestalten. Es handelt sich um die «Geschwisterlichkeit» und um die aktuelle Gefahr eines «Verlusts von Geschwisterlichkeit».
Diese Themensetzung ist erklärungsbedürftig, zumal «Geschwisterlichkeit» sehr abstrakt klingt – wie ein Kunstwort, das Politiker:innen, Philosoph:innen und auch Theolog:innen gerne benutzen, um wichtigen Sachverhalten ein prunkvolles und hübsches Mäntelchen zu geben. Im Wort stecken offensichtlich die «Geschwister», deren Verhalten und Verhältnis als vorbildhaft in den Fokus gestellt wird. Vorstellungen von Harmonie, von Familie, von Nähe, von Verantwortung und gegenseitiger Sorge schwingen dabei mit; der Aufruf zur «Geschwisterlichkeit» enthält demgemäss keine kleine Forderung: Es geht darum, mit seinen Mitmenschen im Geiste der Geschwisterlichkeit umzugehen und zusammenzuleben; eben verantwortungsbewusst, auf das Wohl des anderen bedacht, nicht eigennützig und selbstbezogen – auch dann, wenn die Mitmenschen faktisch überhaupt nicht eigene Geschwister sind!
Dieses Verständnis von Geschwisterlichkeit würden sicher viele sofort unterschreiben. Es spiegelt viele Vorstellungen und Ideale wieder, die unsere Kultur und unseren Blick auf die Welt geprägt haben und die uns als das ganz «Normale» und das «Mögliche», vielleicht sogar das «Richtige» erscheinen. Wir hören das Wort «Geschwister» und haben sofort bestimmte Bilder vor Augen, die für unser Denken und Handeln prägend werden; die uns das eine tun lassen und uns vom anderen abhalten.

Geschwister – nicht nur eitel Harmonie!
Die Vorstellungswelt zu Geschwistern und Geschwisterlichkeit ist von einer diesbezüglich reichen europäischen Tradition geprägt, die bis in die mythische Zeit zurückreicht. Wir denken heute vielleicht nicht mehr zuerst an Romulus und Remus, die beiden kriegerischen Gründer des römischen Weltreichs, aber als in christlicher Tradition stehende Menschen an die berühmten Geschwisterpaare Kain und Abel, Jakob und Esau oder gleich an die zwölf Söhne Jakobs, im Neuen Testament an die Schwestern Maria und Martha. Und dabei dämmert uns: Moment mal, nichts hier mit trauter Geschwisterliebe! Geschwisterlichkeit heisst neben den oben genannten positiven Aspekten auch Ambivalenz, heisst Missgunst, Neid und mit der Dauerspannung zwischen elterlicher Hoffnungen und eigenen Ambitionen irgendwie vernünftig umgehen zu lernen. Zu seinen diesbezüglichen Erfahrungen kann übrigens auch Jesus selbst befragt werden, der von seinen Geschwistern ja eher nicht so ganz ernst genommen wurde, wir aus dem Evangelium nach Markus (Markusevangelium 3,20-21) berühmterweise hervorgeht.
Diese Ambivalenzen mitbedacht gilt es also, bereit unsere heutige, idealisierte Vorstellung von Geschwisterlichkeit zu erweitern: Um ein markiges «trotz alledem!». Auch wenn wir wissen, dass geschwisterliche Erfahrungen schmerzhaft sein können, sind die darunterliegenden Fundamente so wichtig und vielleicht tragfähig, dass wir mit einem «trotz alledem» auf den Lippen geschwisterlich aufeinander zugehen können sollten. Aus unserem Kulturrucksack heraus unterstützt uns dabei vielleicht auch das Wissen, dass unsere heutige Vorstellung einer blutsverwandten Geschwisterlichkeit eine idealisierte Idee der jüngsten Zeit ist; häufige Kindsbettttode, Wiederverheiratungen usw. liessen in der ganzen Menschheitsgeschichte komplizierte Patchworkfamilien mit Halbgeschwistern entstehen, gegen die unsere «sortenreinen» Kleinfamilienideale, wirkmächtig vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die absolute Ausnahme bilden.
Halten wir also zunächst fest: «Geschwisterlichkeit – trotz alledem!» als ethischer Aufruf hält uns heute dazu an, nicht zuletzt aus Eigeninteresse mit unseren Geschwistern und schliesslich allen Menschen als unseren Nächsten wertschätzend umzugehen. Dies auch dann, wenn es uns aus niederen Instinkten (Neid, Missgunst, …) schwerfällt. Denn wir wissen ja selbst: Den anderen fällt dies genauso schwer wie uns. Wesentlich werden wir dabei unterstützt von unserem kulturellen Rucksack, der uns bestimmte «geschwisterliche» Verhaltensweisen nahelegt und uns dabei hilft, mit Ambivalenzen umzugehen und die richtige Haltung einzunehmen.

Damit öffnet sich der Blick auf den zweiten Teil dieses Beitrags. Denn diese Grundingredienzien für gelebte Geschwisterlichkeit – die Erfahrung von Geschwistern oder wenigstens nahestehenden Altersgenossen – und der damit verbundene kulturelle Rucksack werden sich in den nächsten Jahrzehnten wegen des demographischen Wandels weitgehend auflösen. Wenn wir von diesem Wandel in den Medien hören, bezieht sich die Berichterstattung meistens auf die «Baby Boomer» und den «Fachkräftemangel», auf «AHV-Lücken» oder gar den «aufgekündigten Gesellschaftsvertrag». Nur selten aber wird problematisiert, welche krassen Folgen das weitgehende Ausbleiben ganzer Generationenfolgen für unsere Weltwahrnehmung haben werden – und was sich daraus für ethische Probleme ergeben.
Die demographische Entwicklung wird unweigerlich das ethische Lernen prägen
Fehlende Generationenfolgen? Seit dem Ende des 2. Weltkriegs weist die Kurve der Erdbevölkerung steil nach oben, stellen exponentielles Wachstum und der irrsinnige Ressourcenverbrauch doch ein Grundproblem unserer Zeit dar, mit Auswirkungen von immer heftigeren Klimakatastrophen bis hin zur Zerstörung natürlicher Lebensräume! Wäre da nicht eine schrumpfende Weltbevölkerung etwas ausnehmend Positives? – Das stimmt natürlich, lässt aber ausser Acht, wie radikal sich unsere Lebenswelt durch die unbarmherzigen Folgen der Demographie verändern wird: Die Erfahrung zunächst mit Geschwistern und später gemeinsam mit anderen Altersgenossen aufzuwachsen und gemeinsam eigene Interessen zu realisieren, für wichtige Projekte einzustehen und für diese Verantwortung zu übernehmen, wird immer schwieriger. Ethisches Verhalten gegenüber dem Nächsten muss gelernt werden – etwas, das zukünftig immer schwieriger werden wird.
Dazu einige Zahlen und Entwicklungen: In Deutschland lebt seit dem Jahr 2023 mehr als die Hälfte der Kinder in einer familiären Einzelkindkonstellation, in der Schweiz und in Österreich dürfte die Situation weitgehend vergleichbar sein. Das als kinderlieb geltende Italien ist in Europa seit Jahren das Schlusslicht bei der Geburt von Kindern. Wer durch das ligurische Hinterland fährt, wird sich an den Film «Children of Men» aus dem Jahr 2006 erinnert fühlen; in diesem Film sind seit Jahrzehnten alle Frauen weltweit unfruchtbar, entsprechend kinderleer und zugleich hoffnungslos ist der Ausblick dieses Films.
Noch wesentlich krasser aber ist die Lage in Ländern wie Südkorea, China und Japan. Bis zum Ende unseres Jahrhunderts wird sich ihre Bevölkerungszahl im Extremfall bis auf 10% (!) der heutigen Bevölkerungszahl verringern. Die in vielen Ländern gestarteten politischen Projekte zur Stabilisierung der Bevölkerung zeigen bislang übrigens nur wenig Erfolg. Steuererleichterungen für werdende Eltern, der Bau von Krippen und Kitas kann einen letztlich unumkehrbaren Prozess nicht mehr stoppen, denn schon heute fehlen die nachwachsenden Generationen, die für die künftigen Generationenfolgen als Eltern in Frage kommen. So unglaublich es auch klingen mag: Es verbleiben global gesehen nur noch wenige Regionen, darunter das sub-saharische Afrika, in denen in den nächsten Jahrzehnten mit höheren Kinderzahlen gerechnet werden darf, wenn auch dort mit stetig abnehmendem Niveau.

«Geschwisterlichkeit» im Sinne einer ethischen Haltung ganz praktisch einüben zu können – langfristig sind die Aussichten dafür also nur als sehr schlecht zu bezeichnen. Umso wichtiger ist es, im eigenen kulturellen Rucksack nach guten, ergänzenden Alternativen zu suchen. Passend erscheinen da die der christlichen Ethik nahestehenden advokatorischen («anwaltlichen») Ethiken. Diese legen ein geschwisterliches Verhalten nicht deshalb nahe, weil die oder der Nächste als «Schwester» oder «Bruder» wahrgenommen wird, sondern weil jene:r als ganz und gar wertvoller Teil einer gewollten Schöpfung adressiert wird – und als solcher Teil selbst dann gilt, wenn sie oder er für sich nicht einstehen kann oder noch nicht einmal geboren ist. Das bedeutet schlussendlich, selbst nur so zu handeln, wie es im Interesse anderer beteiligter Personen ist.
Wie werden unsere Nachkommen mit der Erfahrung umgehen, in einer schrumpfenden Welt zu leben? Wie werden sie sich gegenüber ihren Nächsten verhalten, wenn sie wenig Gelegenheit haben, aus eigenen Erfahrungen ethisch zu lernen? Das sind grosse Fragen, die sich wegen der weltgeschichtlich einmaligen Situation heute noch nicht beantworten lassen. Gar nicht gross genug darf man aber die Relevanz der christlichen Ethik dabei einschätzen, hält sie uns doch – Stichwort advokatorische Ethik – immer wieder dazu an, Geschwisterlichkeit wahrhaft universal und unabhängig von Nähe und Ferne zu denken; Geschwisterlichkeit in christlichem Sinne ist vielmehr bestimmt durch die geteilte Freude, Teil der Schöpfung zu sein und aus Dankbarkeit für dieses Geschenk sich um diese und alle ihre Ausformungen – Menschen, Tiere, die Natur — zu sorgen.1
- Bildnachweise: Titelbild: Mehrere Affenfiguren schweben in der Luft und haben die Arme ineinander verschlungen. Unsplash@parktroopers / Bild 1: Christus bei Maria und Martha. Adolf Zimmermann, 1836 n. Chr. Standort des Gemäldes: Sakristei der St. Marienkirche in Pirna. Wikimedia Commons. / Bild 2: Zwei Plakate mit der Aufschrift: „Be Kind. Let’s look out for one another.“ (Übersetzt: „Seid freundlich. Lasst uns aufeinander achtgeben.“). Unsplash@john_cameron / Bild 3: Statue von Mutter und Kind. Die Mutter hält die Tochter an der Hand und blickt in die Ferne. Unsplash@pir
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