Keine Zeit für Wölfe

Der Mensch ist zum Höchsten und zum Niedersten fähig. In der Bibel kommt zum Ausdruck, dass wir den Glauben an das Gute im Menschen nicht verlieren sollen.

Homo homini lupus est – Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Mit dieser Charakterzeichnung brachte Thomas Hobbes (1588-1679) seinen kühlen und realistischen Blick auf das Wesen des Menschen in einen bis heute bekannten Ausspruch. Zur Zeit Hobbes stand der Wolf wie in den Märchen der Gebrüder Grimm für den Inbegriff der gefährlichen und unberechenbaren Natur, noch nichts war bekannt von seinem Sozialverhalten im Rudel. So zeigt der Mensch für Hobbes sein Wolfsnatur nicht nur durch schiere Kraft, sondern vor allem durch seine Fähigkeit zum raubtierhaften Denken: Die Starken zu überwältigen, das gelingt auch den körperlich Schwachen mit Gift oder anderen intelligenten Überwältigungsstrategien. Die Quintessenz des hobbe’schen Menschenbildes: Keiner kann vor seinem Nächsten sicher sein. Homo homini lupus est – dieser Spruch steht deshalb am Ausgangspunkt von Hobbes Hauptwerk «Leviathan», in dem es um die Frage geht, ob und wie die wölfische und destruktive Natur des Menschen eingehegt werden kann.

Die „Kapitolinische Wölfin“ mit Romulus und Remus in Rom

Es scheint so, als hätte das negative Menschenbild von Thomas Hobbes nichts von seiner Aktualität verloren. Vom Englischen Bürgerkrieg (1642–1649), der durch zahllose Tote auf beiden Seiten, Brutalität und Chaos wohl auch Hobbes nüchternen Blick auf die Menschennatur stark beeinflusst hat, lassen sich zahllose Verbindungslinien bis in unsere Gegenwart ziehen. Wenn es überhaupt eine Bestätigung bräuchte, dann könnte man die enorme Zahl an Menschen nennen, die sich heute weltweit auf der Flucht vor ihresgleichen befinden: UNHCR, das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, nennt für Ende 2020, also noch für die Zeit vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Zahl von über 82 Millionen Menschen, die sich weltweit gegen ihren Willen auf der Flucht befinden. Diese Zahl ist letztlich nicht mehr gedanklich zu fassen. Auch wenn die Fluchtursachen sicherlich nicht in allen Fällen unmittelbar auf Kriege, Vertreibungen oder unmittelbare Lebensgefährdungen zurückzuführen sind: Eine Flucht vor dem Raubtier Mensch ist bereits an sich gefährlich, traumatisierend und fast immer allerletzter Ausweg aus der Not.

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – der daraus entspringende Fluchtreflex zeigt sich nicht nur in dieser lebensgefährlichen Form der Flucht, sondern auch in ganz vielen «kleinen Fluchten», die wir Menschen aus den wohlbehüteten Staaten Mitteleuropas bestens kennen. «Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein», diesen berühmten Ausspruch aus Goethes Faust können viele nur noch in kürzeren Momenten des Glücks für sich in Anspruch nehmen, im Urlaub, im Wellness-Hotel, beim Shopping, beim Genuss von Kunst und Kultur. Das ist Eskapismus, also Fluchtverhalten, in Reinform – als Reaktion auf einen Alltag, der als überfordernd und unverzeihend-herzlos wahrgenommen wird. Sei es bei der Arbeit, im familiären Umfeld, selbst unter engen Freunden – es gibt keinen Ort, wo sich nicht auf vielfältige Weise die wölfische Natur des Menschen offenbaren kann: So in der üblen Nachrede auf die Erfolge des Anderen, in der Missgunst oder im Mobbing. Nicht von ungefähr zeigen sich die sozialen Medien heute als Heimstätten von Wolfsrudeln, die einen hervorragenden Riecher für die Schwächeren einer Gesellschaft haben.

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Ob «kleine Flucht» oder lebensbedrohende Flucht vor Krieg und Hunger – es ist zusammengefasst ein echter Skandal, dass wir Menschen offenbar nicht aus unserer Wolfshaut kommen – denn natürlich sind wir oft genug selber auf der Seite der Wölf:innen, jedenfalls aus der Sicht der anderen.

Doch bildet Hobbes mit seinem negativen Menschenbild zum Glück nur die eine Seite der Medaille ab. Auf der anderen Seite leuchtet ein Menschenbild, das den Menschen als lernfähiges, am Gemeinwohl orientiertes, auf Glück und menschliche Solidarität bezogenes Wesen beschreibt. Ein berühmter Vertreter dieses Menschenbildes ist der Genfer Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), aber man kann an Stelle seines Namens fast alle Philosophen aus der Zeit der Aufklärung einsetzen oder auch die Vertreter:innen des Humanismus. Gemein ist ihnen, dass sie auf die moralische Bildungsfähigkeit des Menschen und seine Fähigkeit des Strebens nach dem Höheren, nach dem Guten vertrauen. Und tatsächlich: Es rührt ans Herz, dass sich dieses positive Menschenbild in unserem Alltag genauso verwirklicht finden lässt wie das negative. Die selbstlose Hilfe so vieler Menschen bei Naturkatastrophen oder bei der Unterstützung von Flüchtenden ohne Gegenleistung ist dafür nur das eingängigste Beispiel, viele anderen fallen Ihnen sicherlich sofort ein.

NoFrontex Demonstration, Bern

Diese Eigenschaft des Menschen, sowohl zum Höchsten wie auch zum Niedersten fähig zu sein, hat die Philosophen und Theologen zu allen Zeiten fasziniert und gleichzeitig irritiert. Wie kann es sein, dass ein Geschöpf auf der einen Seite zu Krieg, Mord und Todschlag fähig ist, auf der anderen Seite aber genauso zu selbstaufopfernder Hilfe? Wohl keiner hat diese Spannung so schön ins Wort gebracht wie der italienische Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola (1463-1494) in seiner humanistischen Programmschrift «Rede über die Würde des Menschen»:

«Der Mensch hingegen ist frei in die Mitte der Welt gestellt, damit er sich dort umschauen, alles Vorhandene erkunden und dann seine Wahl treffen kann. Damit wird er zu seinem eigenen Gestalter, der nach seinem freien Willen selbst entscheidet, wie und wo er sein will. Hierin liegt das Wunderbare seiner Natur und seine besondere Würde, und insofern ist er Abbild Gottes. Er ist weder himmlisch noch irdisch. Daher kann er gemäß seiner Entscheidung zum Tier entarten oder pflanzenartig vegetieren oder auch seine Vernunftanlage so entwickeln, dass er engelartig wird.»

Die Anleihen an biblische Schöpfungserzählungen sind in Picos Darstellung unverkennbar: Der Mensch ist Ebenbild Gottes, weil er Anteil hat an seiner Schöpfungstätigkeit. Zudem, fast noch wichtiger: Er ist durch seinen freien Willen dazu herausgefordert, ja gezwungen, sein Tun und Lassen fortwährend zu reflektieren und vor seinem inneren Gerichtshof, seinem Gewissen, zu begründen. In dieser Hinsicht ist der freie Wille vor allem eine Herausforderung, denn der Mensch kann sich schlicht nicht dazu entscheiden, ihn aufzugeben. Eben weil der Mensch nicht aufgrund eigener Entscheidung zum Automaten werden kann, ist er förmlich dazu gezwungen, sich selbst und seine Umwelt zu gestalten, mit allen möglichen von Pico beschriebenen Auswirkungen. Die Bandbreite der Auswirkungen stellt uns auch das Buch Genesis, letztlich die gesamte Bibel vor Augen: Zwischen den von Pico genannten Polen «himmlisch» und «irdisch» kann für den Menschen in der Gestaltung seiner unterschiedlichen Beziehungen jederzeit viel schief gehen – die Nennung der Namen Kain und Abel, Saul und David, Jesus und Judas mag an dieser Stelle ausreichend sein.

Decke der Sixtinischen Kapelle, Vatikan

Die Bibel will natürlich kein Erziehungsratgeber sein und keine ethisch-philosophische Abhandlung über das Wesen des Menschen. In der ihr eigenen Vielstimmigkeit berichtet sie davon, wozu Menschen im Guten wie im Bösen fähig sind – und wie sie immer wieder von ihrem Gott aufgefangen werden, selbst bei grösster persönlicher Schuld oder in tiefster seelischer Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Als Spiegelbild der Probleme menschlicher Existenz und als Reflexionsfläche für unsere eigenen Entscheidungen vermittelt die Bibel damit eine zentrale Botschaft durch die Jahrtausende, die sich damit in ihrem Hoffnungscharakter auch von der der Philosophie abhebt: «Habt Vertrauen auf den barmherzigen, liebevollen Gott, wisst um Eure allzumenschlichen Schwächen und versucht dennoch, selbst für andere da zu sein!» Um es mit Jesus zu sagen: «Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.» (Johannesevangelium 13,34)

In diesem universalen Liebesgebot kommt der wahre christliche Geist zum Ausdruck: Nicht am Menschen zu verzweifeln und vor allem den Glauben daran nicht zu verlieren, dass er trotz allem Gottes Ebenbild und kein Wolf sein könnte. Das ist immer wieder herausfordernd und doch die einzige Lösung, damit wir auf dieser kleinen Erde irgendwie miteinander auskommen können.1

  1. Bildnachweise: Titelbild: iStock / Bild 1: Die „Kapitolinische Wölfin“ mit Roms Gründern Romulus und Remus, Kapitolinische Müssen, Rom. Unsplash@dabliu_andrea / Bild 2: Armoaöl-Massage. Unsplash@caishan119 / Bild 3: NoFrontex Demonstration 23. April 2022 Bern, Schweiz. Unsplash@mortaza_shahed / Bild 4: Die Decke der Sixtinische Kapelle, Vatikan. Unsplash@_calvincraig

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