Am 9. April 1945 wurde der evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer wegen seines Widerstands gegen das Nazi-Regime im KZ Flossenbürg hingerichtet. Einige Jahre später erschien das Buch «Widerstand und Ergebung», eine Sammlung von Briefen Bonhoeffers aus dem Gefängnis. Der Titel fasst Bonhoeffers Kampf mit zwei Grundhaltungen zusammen. Dabei ist er keinesfalls zu lesen als politischer Widerstand gegen das Unrechtssystem Hitlers und religiöse Ergebung in das Schicksal.
Eine solche Spaltung des Lebens ist bei Bonhoeffer nicht möglich: Widerstand und Ergebung sind Ausdruck seiner Frömmigkeit. Christsein heisst für Bonhoeffer nicht Glaube an ein höchstes und allmächtiges Wesen, sondern ein neues Leben im «Dasein-für-andere». Dieses «Dasein für» verlangt Widerstand gegen die Mächte des Todes. «Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen», formulierte Bonhoeffer provokativ. Es ging ihm auch um die Glaubwürdigkeit der Kirche, deren Stimme zugunsten der verfolgten (jüdischen) Mitbürger:innen nur leise zu hören war.
Unchristliche Passivität dem Leiden gegenüber
Die kirchliche Lehre vom Leiden als Sündenstrafe führte im Christentum zu einer Passivität dem Leiden gegenüber. Das gleiche gilt für die Überzeugung, Leiden sei eine Läuterung oder eine Prüfung Gottes. Strafe ist zu ertragen, Medizin zu schlucken! Glücklicherweise ist man heute von einer solch undifferenzierten Haltung abgerückt. Wir wissen, Leiden ist nicht gleich Leiden, und unterscheiden zwischen abschaffbarem und unvermeidlichem Leiden, zwischen verschuldetem und unverschuldetem Leiden, zwischen sinnlosem Leiden und Leiden, an dem wir wachsen können. Zudem ist uns bewusst, dass, wer eigenes oder fremdes Leiden als Strafe versteht, nicht interessiert ist an einer Änderung der Umstände. Wenn die Ursachen, die Menschen leiden machen, nicht in den Blick genommen werden, wird den Ausbeutern in die Hände gearbeitet, dürfen Hunger und Katastrophen weiter ihre Opfer holen. Eine solche Religion wirkt wirklich wie Opium. Sie hilft beim geduldigen Ertragen des Unerträglichen und vertröstet auf bessere Zeiten. Vergessen wird dabei das Urdatum jüdisch-christlichen Glaubens: die Befreiung aus dem Sklaverei in Ägypten.
Gottes Schmerz
Das zweite Buch Mose berichtet uns von einem Gott, der sich vom Leiden der Menschen betroffen zeigt. «Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreissen und aus jenem Land herauszuführen. Und jetzt geh! Ich sende dich. Ich bin mit dir.» (Exodus 2,7.10.12) Und das Volk Israel fasst Mut, steht auf und zieht unter der charismatischen Führung von Mose aus der Unterdrückung aus. Frauen und Männer haben sich diesen Grund-Text jüdischen Glaubens über Jahrhunderte als kostbares Gut weitergegeben. Sie schöpften Kraft aus der Erinnerung, dass Leid und Ungerechtigkeit Gott nicht kalt lässt. Auch uns kann dieser Text ermutigen, nicht nur von diesem sadistischen Gott abzurücken, der mit Leiden straft oder erzieht, sondern sich auch zu verabschieden von der Vorstellung, dass Gott unberührbar, schmerzfrei und absolut überlegen über allem thront. Gott leidet mit, wenn Menschen ihrer Würde beraubt und gequält werden. Die Bibel zeigt uns einen leidenschaftlichen Gott, dessen Herz mit den Leidenden schlägt.
Eine Zeitdiagnose: Leidensunfähigkeit
Die moderne westliche Gesellschaft hat in der Bekämpfung von Armut, Krankheit und Elend grosse Erfolge erzielt. Zugleich aber hat der Drang, Leiden abzuschaffen, zu einer eigenartigen Leidensunfähigkeit geführt. Wir haben keine Kultur mehr im Umgang mit dem Tod, mit Krankheit und Behinderung, mit Mangel überhaupt. Es fehlen uns die Sprache und die Gesten, um uns mit dem Leiden auseinanderzusetzen. Und die Zeit. In der Mitte unseres Lebens müssen wir Funktionieren. Unsere Gesellschaft verlangt Ordnung, Produktivität, Wissenschaftlichkeit, Erfolg, Ästhetik und Design. Für langwierige und schmerzvolle Prozesse des Abschiednehmens oder des Wachsens fehlen oft die Räume. Indem die Leiderfahrungen zurückgedrängt werden, verliert das Leben jedoch an Tiefe. Auch Glück und Freude können nicht mehr intensiv gelebt werden. Indem die Zeiten des Wartens und Hoffens, des Ertragens und Ausharrens nicht mehr notwendig sind, weil immer alles schon da ist, erstarrt das Leben. Langeweile breitet sich aus. Einer Gesellschaft, die Leiden um jeden Preis abschaffen will, fehlt die Kraft, sich dem Leiden tatsächlich entgegen zu stellen: Leiden wird verdrängt oder elegant vermieden. Wir können dem Leiden aber nicht entgehen, ausser wir verweigern uns dem Leben überhaupt. Wollen wir diesen Preis nicht zahlen, müssen wir uns mit dem Leiden auseinandersetzen.
Am Leiden wachsen – aus Leiden lernen: durch Leiden zur Veränderung
Abschied, Schmerz, Angst, Hilflosigkeit und Frustration gehören zum Leben. Wir können lernen, Abschiede bewusst zu leben, Schmerz zuzulassen, mit unseren Ängsten umzugehen. Durch den Umgang mit Leiden können wir reifen. Menschen erzählen vom Sinn, den sie – oft im Nachhinein erst – in ihrer Krankheit und ihrem Leiden erkannt haben. Menschen erfahren im Leiden die Chance, das Leben neu zu sehen, neu zu leben. Sie haben vielleicht mehr Zeit, geniessen die Langsamkeit. Sie entdecken neue Begabungen. Leiden macht sie empfindlicher für das Leiden und die Nöte anderer. Die Erfahrung der eigenen Zerbrechlichkeit lässt sie wachsen in der Liebe, in der Sorge um die Welt.
Leiden kann uns menschlicher machen. Erstaunlicherweise trifft dies auch auf das Leiden zu, das Menschen einander aufgrund von Egoismus, Gleichgültigkeit, Hass, Machtgier oder Bosheit zufügen. Wir sehen, dass soziales Leiden, Unrecht und Verfolgung Menschen stumm, bitter und verzweifelt machen. Wir sehen aber auch Menschen, die dieses Leiden in den Widerstand ruft. Die Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt lässt sie das Leben noch mehr lieben und bestärkt sie in ihrem Kampf. Die Klage über eigenes und fremdes Leiden lässt ihre Hoffnungen wachsen. Bitter ist es, wenn die Hoffnungen sterben – immer wieder. Sinnlos ist das Leiden, das die Menschen im Innersten zerstört und ihnen alle Möglichkeiten raubt, im Leiden aktiv zu sein.
Das Leiden öffnen: Wozu? Wofür?
Aktive Auseinandersetzung mit dem Leiden ist Voraussetzung für Widerstand und Ergebung. Denn letzteres meint keine Unterwerfung. Es sind Wege zu gehen, bis wir Leiden annehmen können. Schmerzvolle Wege, denn nicht mit Unerschütterlichkeit ist Leiden anzunehmen, sondern mit Hingabe. Nur wenn wir uns berühren lassen, weinen und klagen, ist Veränderung möglich. Vielleicht gelingt es uns, von der rückwärtsgewandten Frage nach dem Warum zur Frage «Wozu? Wofür?» zu gelangen. So können wir das Leiden auf die Verheissungen Gottes hin öffnen.
«Glauben können heisst soviel wie jasagen zu diesem Leben, zu dieser Endlichkeit, an ihr arbeiten und sie offenhalten für die versprochene Zukunft.» (Dorothee Sölle)
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