«Warum haben die christlichen Kirchen Mutter Erde vergessen und nur auf Vater Himmel fokussiert?» So fragte vor ein paar Wochen eine Leserin in der Rubrik «spiritueller Briefkasten» der Zeitschrift des SKF Schweizerischen Katholischen Frauenbundes. Die Frage trifft. Sie stösst mitten in unser abendländisches Wertesystem und fragt nach den tieferliegenden Gründen der gegenwärtigen ökologischen Krise und der Mitverantwortung des Glaubens.
Ja, warum – warum dieser Drang nach oben, in die lichten Sphären des Himmels? Dorthin, wo wir alles überblicken, leichtfüssig schweben? Warum dieser Drang, die Schwerkraft hinter sich zu lassen, die Herkunft, die Enge des Geburtskanals, das Seufzen der Erde, das Lachen der Kinder, das Lieben und Arbeiten? Und wer ist es, der diesem Begehren frönt, sich abzusetzen, diesem Traum, den Raum gegenseitiger Abhängigkeiten zu verlassen auf absolute Freiheit hin?
Auf die Erde verwiesen
Hildegard von Bingen (1098-1179) riet im Hochmittelalter noch zum zweifachen Blick. Wer auf Gott blicke, schaue zur Erde:
«Wer seinem Gott vertraut, wird auch den Bestand der Welt ehren; den Lauf von Sonne und Mond, Wind und Luft, Erde und Wasser, alles, was Gott um der Ehre des Menschen geschaffen hat und zu seinem Schutz. Einen anderen Halt hat der Mensch nicht.»1
Himmel und Erde lassen sich bei Hildegard nicht auseinanderdividieren. Der Mensch ist Teil einer Ordnung, eingebunden in ein grosses Ganzes trägt er Himmel und Erde in sich. In allem, was Menschen tun, begegnen sie Gott und Gottes schöpferischem Wirken. So antwortete Hildegard auf die spöttische Frage der Agnostiker ihrer Zeit, wo wir Gott denn zu sehen bekommen, nicht mit Theologie oder geistiger Literatur. Sie verwies ganz einfach auf die Natur, indem sie Gott sagen liess: «Seht ihr Mich denn nicht Tag und Nacht? Seht ihr Mich nicht, wenn ihr sät und wenn die Saat aufgeht, von Meinem Regen benetzt?»2
«Teile und herrsche»
Es war der Herrschaftsanspruch, der sich in der Neuzeit durch Technik und Technologie mehr und mehr Bahn brach, der die Zusammengehörigkeit von Himmel und Erde aufkündigte. «Teile und herrsche», lautete seit jeher der Leitspruch der Mächtigen. Alles wurde auseinandergerissen und gegeneinander ausgespielt: Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Erde, Geist und Materie, Vernunft und Seele, Mann und Frau. Durch Abgrenzung und Abwertung entstand ein komplexes hierarchisches System, das der Logik der Herrschaft folgte und die Verbundenheit verdrängte. Die Frau wurde – als der Natur näher – unten eingeordnet, ebenso die sogenannt Wilden: Beide bedürfen der Führung durch den männlichen Geist, da sie weniger fähig seien, die Vernunft walten zu lassen und sich als moralisch leicht verführbar zeigten.3
Das Naturverhältnis veränderte sich über die Jahrhunderte merklich. Hildegard beschrieb die Erkenntnis der Welt als einen Akt, bei dem Geist und Herz beteiligt seien, und verglich sie gar mit einer liebenden Umarmung.4 In der aufkommenden Neuzeit sprach man dagegen teilweise davon, man müsse die Natur auf die Folter spannen, damit sie ihre Geheimnisse preisgebe. Das Denken und Forschen geschah von einem zunehmend imperialistischen Standpunkt. Die Wissenschaft, so formulierte es Descartes (1596-1650), muss uns zu «Herren und Besitzern der Natur» machen.5 Damit spielte er auch auf den biblischen Schöpfungsauftrag in Genesis 1,26 an.
Theologische Wurzeln der Herrschaft über die Natur
Das Grunddatum des biblischen Glaubens ist der Auszug aus Ägypten und die Befreiung der Israelit:innen aus der Sklaverei. Das heisst, biblischer Glaube wurzelt in einem geschichtlichen Ereignis und nicht in erster Linie in der Überzeugung, dass Gott der Schöpfer des Universums ist. Die Schöpfungsgeschichten in Genesis 1 und 2 entstehen später als das Buch Exodus. Sie halten fest, dass der befreiende Gott auch die schöpferische Gottheit sei, Gott, der Himmel und Erde erschaffen habe und allem Lebendigen Atem schenke.
Verzerrende Interpretationen der Schöpfungsgeschichten
Sonne und Mond verlieren in der ersten Schöpfungserzählung den göttlichen Status, den sie in den babylonischen Schöpfungsmythen noch innehatten. Die Menschen wiederum werden nicht als Arbeitssklaven und -sklavinnen der Götter geschaffen. Sie sind Gottes Stellvertreter:innen und haben Anteil an der schöpferischen Lebensmacht. Doch die befreienden Elemente von Genesis 1 wurden in der Überlieferung durch einseitige und patriarchale Lesarten verzerrt.6
Die traditionelle Rede vom Sechstagewerk beispielsweise machte die Erschaffung des Menschen zum Höhepunkt der Schöpfung – der Mensch (Mann) als Krone der Schöpfung – und blendete den siebten Tag, den Schabbat, aus. Gott tut nicht nichts am siebten Tag: Er schafft einen Raum der Begegnung, einen Raum, der menschlicher Verfügungsmacht entzogen ist. In der Heiligung und Segnung kommt die Schöpfung an ihr Ziel.
Überbetonung der Transzendenz Gottes
Genesis 1 unterscheidet den Menschen von den Tieren und der übrigen Natur und gibt ihm einen besonderen Auftrag. Der Formulierung nach ist es kein sanftes Hüten (wie in Genesis 2,15), sondern ein mitunter hartes Herrschen, das dem Menschen aufgetragen wird. Die Bibelwissenschaftler Sabine und Klaus Bieberstein deuten es im Sinne einer Fortführung des Schöpfungswerkes als ein Zurückweisen der Chaosmächte und der «grossen Tiere», die Leben bedrohen.7
Die Besonderheit des Menschen wurde in der Auslegungsgeschichte – entgegen der biblischen Erzählung – überbetont. Dies führte dazu, dass die kreatürliche Verbundenheit der Menschen mit den Tieren und Pflanzen, mit denen sie Verletzlichkeit und Vergänglichkeit teilen, mehr und mehr in den Hintergrund trat. Diese Tendenz, die Menschen von den anderen Kreaturen abzusetzen, hängt mit einer anderen einseitigen Entwicklung zusammen: der Überbetonung der Transzendenz Gottes. Die Schöpfungserzählung unterscheidet Gott, den Schöpfer, von seiner Schöpfung. Die abendländische Theologie betonte die Verschiedenheit Gottes von der Welt übermässig. Sie akzentuierte die Transzendenz Gottes in einer solch absoluten Weise, dass es einem Rückzug Gottes von der Welt gleichkam. Die Unterscheidung entwickelte sich zur Trennung: Gott erschien als absolut transzendenter, beziehungsloser Herr im Himmel. Unabhängigkeit wurde so zu einem Ausdruck göttlicher Grösse erklärt und legitimierte die patriarchalen Ideale des einsamen Kriegers und stoischen Helden.
Schöpfungsspiritualität
Wer braucht einen solchen Gott, der in absoluter Freiheit und Abgeschiedenheit im Himmel thront? Die Armen und Schwachen wohl kaum. Es ist kein Zufall, dass es die franziskanische Armutsbewegung und die Mystiker:innen sind, die das Lob der Schöpfung durch die Jahrhunderte lebten und tradierten. Wir sind Teil eines Ganzen, Teilhaber:innen, und brauchen Gott im Himmel und auf Erden, als Vater und als Mutter, als Windhauch und als Grünkraft.
Eine Schöpfungsspiritualität – so sei zum Schluss kurz skizziert – betont die gegenseitige Abhängigkeit und Bezogenheit von allem, was ist. Die Natur ist keine Sache, über die wir beliebig verfügen, die wir beliebig produzieren können. Wasser ist nicht das Privateigentum einiger Konzerne. Eine ökologische Spiritualität betont weiter die Angewiesenheit aller aufeinander und pflegt und schätzt Gemeinschaft. «Wer nur gelernt hat, <ich> zu sagen, kann mit der ökologischen Katastrophe, in der wir sind und die wir ansteuern, nur in hilfloser Betroffenheit umgehen.»8 Mut machen die vielen generationenübergreifenden Projekte, die Initiativen des Teilens, interreligiöse und Friedens-Netzwerke oder auch die Bewegung des Minimalismus.
«Lehre uns
wie wir mit der Kraft des Windes und der Sonne
leben und andere Geschöpfe leben lassen.
Lehre uns
die Kraft der kleinen Leute zu spüren
und keine Angst mehr zu haben,
wenn wir widersprechen und widerhandeln
dem Luxus auf Kosten aller anderen Geschöpfe.
Lehre uns
die immer grössere Freude
beim Lebendigwerden in deiner lebendigen Welt,
weil wir unsere Erde nicht fürchten.Gott, deine Geistin erneuert das Gesicht der Erde.
Erneuere auch unser Herz
und lass uns wieder miteinander leben.
Lehr uns zu teilen, statt zu resignieren,
das Wasser und die Luft,
die Energie und die Vorräte.
Zeig uns, dass die Erde dir gehört
und darum schön ist.»9Dorothee Sölle
- Hildegard von Bingen, zit. nach Otto Betz: Hildegard von Bingen. Gestalt und Werk, München 1996, S. 82f.
- Zit. nach Betz: Hildegard von Bingen, S. 17.
- Eine wichtige Rolle in der Entwicklung dieses hierarchischen Systems spielte der Neuplatonismus und seine Abwertung von Körperlichkeit und Vergänglichkeit. Hildegard hat sich geschickt gegen die Abminderung des Weiblichen gewehrt, indem sie beispielsweise die weibliche Zuschreibung der Schwäche übernahm, aber mit den positiv konnotierten Begriffen zart und agil ergänzte. Als Variante zur Stärke des Mannes (positiv) sprach sie auch von der Härte, die positiv und negativ interpretierbar ist.
- Zit. nach Betz: Hildegard von Bingen, S. 17. «Der Mensch stand auf, entfacht vom Lebenshauch seiner Seele, und kam zur Erkenntnis der gesamten Schöpfung. In seiner Geistigkeit und mit herzlicher Liebe schloss der Mensch alle Welt in seine Arme.» (Hildegard von Bingen, zit. nach Betz, S. 90)
- Zit. nach Dominik Perler: René Descartes, München 1998, S.229. Der Schweizer Philosoph wehrt sich gegen eine pauschale Verurteilung Descartes: «Leider beruht eine solche Kritik, die Descartes als ökologischen Unhold darstellt, auf einigen gravierenden Missverständnissen und Verzerrungen. Wenn Descartes die Menschen <maîtres de la nature> nennt […], so kürt er sie nicht zu Herrschern, sondern er fordert sie auf, Meister der Natur zu werden – Meister, die wie ein Handwerksmeister durch gründliches Naturstudium ein bestimmtes Wissen und eine Fertigkeit erworben haben. Er setzt Tiere auch nicht mit Maschinen gleich, sondern schreibt ihnen durchaus Schmerzen und damit auch Leidensfähigkeit zu.» (Dominik Perler: René Descartes, S. 258)
- Vgl. dazu auch André Flury: Adam & Eva – oder vom Nacktsein, auf: https://www.glaubenssache-online.ch/2018/04/18/adam-eva-oder-vom-nacktsein/(18.04.2018)
- Klaus Bieberstein / Sabine Bieberstein: Gutes Leben für alle! Die Schöpfungsgeschichte Gen 1,1-2,4a, Stuttgart 2017, S. 51.
- Dorothee Sölle: Erinnert euch an den Regenbogen. Texte, die den Himmel auf Erden suchen, Freiburg i.Br. 2. Aufl. 1999, S. 21.
- Dorothee Sölle: Erinnert euch, S. 23.
Kommentare
5 Kommentare zu “Vater Himmel, Mutter Erde”
15.07.18
Markus Dicht
Zu „Vater Himmel, Mutter Erde“. Da ist mir die Enzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus doch lieber als die Erinnerung an den Regenbogen von Dorothee Sölle. Mit beinahe pantheistisch-esotherisch anmutenden und feministisch -ideologisch gefärbten Dogmen kann ich nicht viel anfangen. Ich bin Naturwissenschafter und praktizierender Katholik, der das „Laudato Si “ auch lebt und es nicht nur liest. Das mit der Überbetonung der Transzendenz Gottes verstehe ich nicht.Auch kann ich nichts dafür, wenn in der deutschen Sprache vom Geist und nicht von der Geistin gesprochen wird.
24.08.18
Angela Büchel Sladkovic
Es geht ja nicht um Worte, sondern um das Denken und die „Ordnung der Dinge“, die damit verbunden sind. Es ist gut, dass Sie „Laudato Si“ erwähnen. Die Enzyklika ist ein wichtiger und vielbeachteter Beitrag für einen Paradigmenwechsel, ohne den das Überleben unseres Planeten gefährdet ist. Papst Franziskus betont den Zusammenhang und die Wechselwirkung von sozialen Fragen der Gerechtigkeit und der Ökologie. Theologisch gibt er dem schöpfungs- und tierfreundlichen Strom unserer Tradition neues Gewicht und neue Kraft. Gott ist kein weltferner, absolut transzendenter Schöpfer, sondern in jedem Geschöpf und der ganzen Schöpfung präsent (vgl. LS 239; 69f.). Die heutige Überzeugung, dass alles aufeinander bezogen ist, findet man schon in den biblischen Erzählungen.
01.03.22
Esther Gisler Fischer
Genau! Und die ‚Ruach Gottes‘ ist nun halt mal weilich und wird von mir nur noch als ‚Hlg. Geistkraft‘ bezeichnet.
Übrigens könnten uns indigene Kulturen bei der Überwindung unserer Entfremdung von der Natur und zu einem neuen Verständnis eines gelingenden Zusammamelbens auch unter Menschen inspirieren: https://www.diesseits.ch/das-vivir-bien-buen-vivir-ein-konzept-des-guten-lebens-von-der-anderen-seite-der-welt/
22.11.23
Christian Offer
Warum sollte Gott nicht weiblich sein und mit GAIA identisch sein? Mutter Erde muss sich nicht nur auf unseren Planeten beziehen, sondern kann sich auch auf die gesamte Schöpfung des Universums beziehen.
19.10.24
Roswitha Steffens
Gerade bin ich über die Suchmachine „Ecosia“ mit der Frage „Ist jesus am vater des himmels erwacht, der die erde zu seiner mutter macht?“, in diese Seite gestolpert.
Der Vater ist männlich, die Mutter weiblich und Jesus, ihr gemeinsames Kind ist das geistige Produkt beider, sodass wir als Menschen in unserer Art das Leben zu empfangen, herausgefordert sind.
Das Leben ohne Zeit aus der Einheit von Gott, kann nichts verlieren, da es auf seinem Weg mit Gott die Lebenszeit gewinnt, die bereits in ihm angelegt, erst verarbeitet sein will, bevor Würde in ihrer endgültigen Form fortsetzen lässt, was bei Gott begonnen hat.
Die Erde ist letztendlich ein Himmelskörper, sodass sie in ihm einen Platz erhalten hat, den es zu erhalten gilt. Dieser Platz, durch Naturgesetze festgelegt, kann von der Menschheit nicht besetzt werden, doch die Erde bietet uns als Lebensraum an, sie zu bewohnen, sodass unser Leben direkt mit dem Lebensinhalt verbunden ist, der sich daraus ergibt.
Dieser Lebensinhalt besteht auch ohne uns, doch für uns ist er in seiner Einzigartigkeit und ihren Gesetzmäßigkeiten eine offene Baustelle, die es als geistige Herausforderung jeden Tag neu zu bewältigen gilt, sodass das Leben im Sinn seines Vaters, erfahrbar macht, was bei der Mutter begann, die mit Leib und Seele den Namen des Herrn für uns wiederholt, bis wir sein Herz in uns nicht nur hören, sonder immer besser kennenlernen wollen.