In Kapellen werden Kerzen entzündet, die Natur wird zu einem meditativen Spaziergang aufgesucht, in Gemeinschaft werden Gebete gesprochen: Eine grosse Sehnsucht, ein tiefes Vertrauen mag Menschen zu solchen Handlungen bewegen. Vielleicht machen sie in dem, was sie tun, eine Gotteserfahrung. Doch wie lässt sich Gott, das absolute Geheimnis, in dieser Welt überhaupt erfahren? Und was unterscheidet eine Gotteserfahrung von den zahlreichen anderen Erfahrungen, die Menschen in ihrem Leben machen?
Gott und der eigene Glaube sind in unserer Gesellschaft zu einem Tabuthema geworden. Erinnern Sie sich daran, wann Sie das letzte Mal im Alltag darüber gesprochen haben? Wenn ich an solche Situationen zurückdenke, dann verbinde ich damit eine oft leicht angespannte Atmosphäre: Es geht darum, schnell abzuwägen, wie viel ich von meinem Innersten preisgeben kann und will. Glaubensfragen sind sehr persönliche Fragen. Und so möchte ich in dem, was ich sage und frage, auch meinem Gegenüber auf keinen Fall zu nahe zu treten.
Wenn über eine Sache weniger gesprochen wird, so hat dies gewiss Auswirkungen auf unsere Sprachfähigkeit, möglicherweise sogar auf unsere Wahrnehmung. Konkret heisse das: Wo Glaube im Alltagsdiskurs nicht mehr vorkommt, wird es schwierig, dafür überhaupt passende Worte zu finden. Gleichzeitig würde man dann das eigene Verhalten wohl immer weniger unter dem Stichwort «Glaube» verorten und mit «Gott» in Verbindung bringen.
Göttlichkeit und Weltlichkeit: ein Gegensatz?
Dass der christliche Glaube für viele Zeitgenoss:innen nicht mehr selbstverständlich daherkommt, ist keine allzu neue Entwicklung. Bereits in den 1960er-Jahren hat der Theologe Karl Rahner († 1984) wegweisende Überlegungen zum Verhältnis zwischen Gott und der Welt angestellt.1

Für Rahner, selbst Ordensmann, Priester und Theologieprofessor, war klar, dass nichts daran vorbei führt, der Welt ihre Weltlichkeit zuzugestehen. Das bedeutet anzuerkennen, dass diese Welt ihren eigenen Dynamiken und Gesetzen folgt und im Alltäglichen auch ohne Gott «funktioniert». Müsste dann aber konsequenterweise eine Welt, die weltlich gedacht wird, nicht auch als gottlos bezeichnet werden?
So weit geht Karl Rahner nicht, Denn er fühlt sich nicht nur dieser Welt, sondern auch den christlichen Glaubensüberzeugungen verpflichtet. Christlich zu glauben, bedeutet für ihn, sowohl von Gottes Existenz als auch von seiner Erfahrbarkeit auszugehen. Denn wäre Gott für Menschen, also in dieser Welt, nicht erfahrbar, so liesse sich auch über seine Existenz nichts sagen – jedenfalls nichts, das für Menschen von Bedeutung wäre.
Wie lassen sich nun aber Weltlichkeit und Göttlichkeit beide ernstnehmen und gleichzeitig zusammendenken? Wird mit diesen zwei Begriffen nicht ein Gegensatz ausgesagt: Entweder funktionieren die Dinge nach weltlicher Logik und vernunftgemäss, oder sie sind «jenseitig» und damit ganz und gar «Glaubenssache»?
Gottesahnung
Der Weg, aus diesem Widerspruch herauszukommen, führt bei Rahner über das Gottesbild. Wenn er über Gott spricht, so klingt stets das Geheimnis(volle) mit: Gott lässt sich nicht ergründen, auf eine – wenn auch noch so komplizierte – Formel bringen. Gott sprengt den Rahmen jedes Denkens. Gott ist immer «mehr».
Derartige Rede über Gott speist sich nicht einfach aus der eigenen Glaubenserfahrung. Rahner hat den Anspruch, dass seine Gedanken philosophisch stringent und auch «von der Welt her» denkbar sind.
Entscheidend an seinen Überlegungen ist, dass Karl Rahner Gott nicht als Gegensatz zur Welt versteht. Gott ist nicht ausserhalb der Welt zu verorten. Damit ist auch gesagt, dass Gott dieser Welt nicht fremd ist. Nicht erst, wenn ein Mensch beginnt zu glauben und sich Gott bewusst zuzuwenden, kommt Gott ins Spiel. Ganz unabhängig davon, ob Gott in der Sprache der Menschen einen Platz bekommt, ist und wirkt das göttliche Geheimnis.
Gott so zu denken, lenkt den Blick wiederum auf den Menschen und damit auch auf die Welt.

Menschenbild
Auch wenn der Mensch mitten in der Welt und mit ihrer Weltlichkeit lebt, so stellen sich ihm doch auch Fragen, die darüber hinausweisen: Woher komme ich? Wohin führt mein Leben? Was ist der Sinn meines Seins?
Kein Mensch ist sich genug. Oder mit Martin Bubers Worten: «Das Ich wird am Du.» Ein solches Du kann aus gläubiger Perspektive auch Gott sein. Rahner geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er argumentiert, dass jeder Mensch schon immer mit Gott in Berührung ist. Denn Gott – als Geheimnis! – ist Grund und Ziel allen Seins.
Durch diese existentielle Verbundenheit mit Gott ist aber auch der Mensch selbst Geheimnis: staunenswert, im Letzten nicht ergründbar.
Gotteserfahrungen
Wird der Mensch in derart inniger Verbindung zu Gott gedacht, so erscheinen Gotteserfahrungen nicht (mehr) als exklusives Erlebnis von Menschen, die einen besonders spirituellen Lebensstil pflegen. Gott wird nicht erst erfahrbar, wo ein bestimmter Raum – etwa eine Kirche – aufgesucht wird. Religiöse Rituale sind nicht die einzigen Momente, in denen Gott Menschen begegnen kann.
Gotteserfahrungen geschehen im konkreten Alltag. Sie sind überall da möglich, wo dieser Alltag durchsichtig wird auf das Geheimnis hin, das alles trägt, durchwirkt und umfängt. Das mag abstrakt klingen. Doch die Erfahrung Gottes ist gerade kein abstraktes Phänomen. Sie setzt beim einzelnen Menschen an, so dass Sie sich selbst fragen können: Wo und wann habe ich schon mal die Erfahrung gemacht, zu mir selbst zu kommen bzw. ganz bei mir selbst zu sein? Es sind solche Orte und Momente, die einen Menschen auch mit Gott in Berührung bringen.

Gott ist dem Menschen ganz nah, und somit läge – salopp gesagt – auch nichts ferner als eine Erfahrung dieses Gottes. Dies hat der Apostel Paulus in treffenden Worten zum Ausdruck gebracht: «Denn in ihm [Gott] leben wir, bewegen wir uns und sind wir» (Apostelgeschichte 17,28).
Diesem Gott begegnet man auf Schritt und Tritt, mitten im Alltag. Von aussen betrachtet mögen Gotteserfahrungen ganz alltägliche Erfahrungen sein. Um Gott zu erfahren, ist vielleicht nicht mehr (aber auch nicht weniger) erforderlich, als die eigene Wahrnehmung zu schulen und mit wachen Sinnen durchs Leben zu gehen.
Und zu guter Letzt: Über Alltägliches lässt sich meist gut und leicht sprechen. Möglicherweise finden Gott und unser Glaube über die Alltagssprache wieder einen Weg in unsere Gespräche…
- Vgl. Karl, Rahner: Frömmigkeit früher und heute, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 23: Glaube im Alltag. Schriften zur Spiritualität und zum christlichen Lebensvollzug. Bearbeitet von Albert Raffelt, Freiburg i.Br. 2006, 31-46.
Bildnachweise: Titelbild: Leuchtturm am Meer. Foto Kr. / Bild 1: Grabnische von Karl Rahner in der Krypta der Jesuitenkirche Innsbrucks. Foto: Wikimedia Commons. / Bild 2: Die Erdkugel, gemalt mit Wasserfarben. Unsplash@miracleday. / Bild 3: Zwei Kinder lesen in der Bibel. Unsplash@benwhitepotography.
Kommentare
1 Kommentare zu “Gott erfahren”
22.09.25
carolina neuenschwander
Das Geheimnis oder Mysterium der Verbindung mit Gott ist aus meiner Sicht individuell, und jeder Mensch erlebt es auf eine andere Weise.
Dieses Thema wird immer schwieriger auszudrücken, denn wir leben in einer sehr offenen Gesellschaft, in der es entweder Glauben gibt oder keinen Glauben; wo die Göttlichkeit existiert oder nicht existiert; wo die Wissenschaft alles erklären will. Aber gerade unter gläubigen Menschen fällt es mir nicht schwer, über Gott als unseren Führer, Lehrer und täglichen Beistand zu sprechen.
Mit Gott begegne ich, sobald ich die Augen öffne, denn das Leben ist ein Geschenk von ihm – genauso wie unsere fünf Sinne und unsere Gesundheit. Er ist in allem gegenwärtig.
Wenn wir uns entscheiden, unser Herz für ihn zu öffnen, geben wir ihm diesen Platz in unserem Leben, und wir können nur dankbar für alles sein.
So erlebe ich es Tag für Tag. Auch wenn es in schwierigen Momenten nicht einfach ist, seine Gegenwart zu spüren, ist es gerade dann wichtig, um Kraft zu bitten – damit wir in der Schwierigkeit einen Sinn erkennen können: sei es, um zu wachsen, zu reifen oder um Verständnis zu erlangen.
Im Wunder des Lebens, im Lächeln eines Kindes,
im Leben eines alten Menschen, der sich anstrengt und das Leben genießt,
obwohl er sich dem Ende seines Lebens auf dieser Welt nähert,
in einer Blume, in einem Tier,
in den Menschen um uns herum –
überall ist Gott immer gegenwärtig.
Wie ich im Alltag über Gott spreche:
In meinem engsten Familienkreis sage ich ihnen immer: „Gott segne euch.“
In meinem sozialen Umfeld erzähle ich von Situationen, in denen ich Gottes Handeln sehe, und ich benenne es auch so.
Zum Beispiel: Wenn ich auf etwas Wichtiges warte und es positiv ausgeht, sage ich: „Gott sei Dank, das ist passiert, die Ehre sei Gott.“
Wenn es nicht so ausgeht, wie ich es mir erhofft habe, sage ich: „Gott weiß, wie er seine Dinge lenkt,“
und ich persönlich bitte dann um Verständnis.
Wenn jemand von seinen positiven Erfahrungen erzählt, sage ich immer: „Gott ist gut.“
Wenn mir jemand von schwierigen Situationen berichtet, sage ich: „Ruht euch in Gott aus, er weiß alles.“
Für mich ist es etwas Natürliches, Intrinsisches in mir, und es ist mir nicht peinlich, es auszudrücken. Außerdem habe ich den Mut, weil ich Erfahrungen gemacht habe, in denen ich die Gegenwart Gottes sehr nah gespürt habe – und wie könnte man sich über etwas so Wunderbares schämen?
Ich lade alle ein, Raum in ihren Herzen für Gott zu öffnen.