Vor kurzem bin ich den Bildmontagen des Illustrators Daniel Lienhard begegnet. Sie zeigen Heiligenfiguren in prekären Arbeitsverhältnissen und kombinieren so den Glanz des Heiligen mit dem beschwerlichen Alltag gewöhnlicher Leute.1 Die Alltagsheilige auf dem Bild vor mir ist müde und ausgelaugt. Es ist Maria alias Meryem, Verpackerin in einem Elektronik-Discounter. Im Moment hat sie wahrscheinlich Hochsaison, denn es ist Vorweihnachtszeit.
Die Bildmontagen lenken den Blick auf das, was oft unsichtbar bleibt. Sie stellen Fragen nach Arbeit, Wertschätzung und nach dem Menschsein. Was ist wichtig und «heilig»? Sie passen damit gut zu Weihnachten. Zudem verfährt der Evangelist Lukas in seiner Erzählung von Jesu Geburt ganz ähnlich, auch er lässt Welten verschmelzen.
(K)eine Weihnachtsgeschichte
Die Bibel erzählt Weihnachten bekanntlich zweimal.2 Das Lukas- wie auch das Matthäusevangelium berichten in den sogenannten Kindheitserzählungen von der Geburt Jesu in Bethlehem. Doch es sind zwei unterschiedliche Narrative, die ihre je eigenen theologischen Akzente setzen. «Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Christus, der Herr.» (Lukasevangelium 2,11) Das Lukasevangelium präsentiert uns Jesus von Anfang an als den Messias der Armen. Die Geburt wirft das göttliche Kind nicht ins volle Leben, sondern in den «Schmerz der Zeit»3, in Obdachlosigkeit und Hunger. Es ist eine dramatische, doch alltägliche Geschichte, die sich leider bis heute millionenfach wiederholt. «In jenen Tagen erging ein Erlass des Kaisers Augustus…» (2,1) Auch heute noch schikanieren Machthaber ihr Volk und Kriege zwingen Menschen, ihre Stadt zu verlassen und im Nirgendwo Unterschlupf zu finden.
Der Theologe Gotthard Fuchs bezeichnet die Weihnachtserzählungen als nach vorne verlängerte Karfreitags- und Ostererzählungen. Krippe und Kreuz sind aus demselben Holz.4 Weihnachten geht mitten hinein in das verwundete Leben.
«Gott will im Dunkeln wohnen» (1 Könige 8,12)
Wir sehen an Weihnachten das Glitzern und Leuchten. Doch der Weihnachtsstern, der über dem Stall erstrahlt, verdanken wir dem Matthäusevangelium. Der Evangelist Lukas lenkt unseren Blick ins Dunkel. Er führt uns nach draussen zu den Hirtinnen und Hirten, die weit ab von Bethlehem auf dem Feld ihre Schafe hüten. Hier erscheint ein Engel, der die Botschaft der Gottesgeburt verkündet.5 Doch die Hirtinnen und Hirten erhalten nichts an die Hand, nur ein Zeichen, das irgendwie keines ist. Als Zeichen dient ein Kind in Windeln gewickelt in einer Krippe, ein Kind also in Not, wie es sie tausendfach gibt. Und die Hirtenleute ziehen los, mit nichts als der Bereitschaft, ein obdachloses Kind zu «sehen». Sie suchen nicht «nach einem Licht oder sonst etwas Grossartigem»6, ihr Blick gilt der ihnen begegnenden Wirklichkeit. Hier, so die Anweisung des Lukasevangeliums, ist Gott, Frieden und Rettung zu suchen und zu finden. Weihnachten verkündet nicht das Licht von oben, sondern die schöpferische Macht von unten.
Menschwerdung
Gott wird Mensch in einem wehrlosen Kind und wir sind eingeladen, an diesem weihnächtlichen Geheimnis teilzuhaben. Wir können Mensch sein, menschlich sein und so Gott Raum geben. «Wäre Christus tausendmal in Bethlehem und nicht in dir geboren, du wärest ewiglich verloren», sagt Angelus Silesius in Anspielung auf die mystische Seite von Weihnachten an. Weihnachten hat auch eine politische Kraft. In der Menschwerdung Gottes fallen Mystik und Politik zusammen. Ein weltloser Glaube ist gottlos. Denn die Aufnahme Gottes geschieht in der Anerkennung des anderen und in Solidarität mit vulnerablen Menschen.
«<Menschwerdung Gottes> vollzieht sich somit immer wieder neu im Geschehen der <Menschwerdung> der Menschen füreinander. Findet diese <Menschwerdung> nicht statt, bleiben diese Anerkennung und diese Aufnahme des konkreten Anderen aus, bleiben letztlich die Erkenntnis und die Aufnahme des <fleischgewordenen Wortes> durch die Welt aus.»7
Gott einen Ort sichern
Die «Freiheit, in Tuchfühlung mit den Männern und Frauen der ganzen Erde und mit meinen jeweils gegebenen Nachbarn und Nachbarinnen zu leben»8, suchte Madeleine Delbrêl (1904-1964), die auch Mystikerin der Strasse genannt wird. Die überzeugte Christin lebte ab 1933 als Sozialarbeiterin in einer Arbeiterstadt in der Banlieue von Paris. «Wir … Leute von der Strasse, glauben aus aller Kraft, dass diese Strasse, diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat, für uns der Ort der Heiligkeit ist.»9 Während des Krieges bemerkt sie, wie die Härte und Brutalität des Lebens sich überall zeigt und die Menschen sich klein machen, wie sie schreibt, um das Leiden auszuhalten:
«Diese Menschen, denen die Haut quasi bei lebendigem Leib abgezogen wird, müsste man in Zärtlichkeit und Sanftheit einhüllen. Was bedeutet Zärtlichkeit? Es heisst, jemanden berühren, ohne ihm weh zu tun. … Zeuginnen sein, dass es das Feingefühl noch gibt.»10
Berühren und berührbar bleiben – das Thema der Menschwerdung scheint in Delbrêls Aufzeichnungen durchgängig auf. In der Verletzlichkeit und dem Risiko der Liebe will sie Gott einen Ort sichern, eingetaucht in die Welt eine Insel göttlicher Anwesenheit sein.11
- Daniel Lienhard: Wer in diesem Land die Arbeit macht. Zwölf Porträts auf zwölf Postkarten. www.lienhardillustrator.com
- Vgl. Detlef Hecking: Zweimal Weihnachten. Die Entflechtung der Kindheitsgeschichten als pastorale Chance, in: SKZ 50 (2014), S. 727-730.734. Zur Weihnachtsgeschichte bei Lukas vgl. Hermann-Josef Venetz: Der Evangelist des Alltags, Freiburg 2000, S. 45-59.
- Den Ausdruck verdanke ich Katrin Kusmierz, die im Liturgik Blog der Uni Bern auf das Weihnachtslied «Christus wird geboren in den Schmerz der Zeit» (KG 354) von Dieter Frettlöh (1924-2004) hinweist. http://liturgikblog.unibe.ch/index.php/2022/12/22/jenseits-der-weihnachtslieder-hitparade/#comments [Zugriff 5.12.2023]
- Vgl. Welt im Wechselmodus. Weihnachten als modernes Mysterium. Florian Breitmeier im Gespräch mit Gotthard Fuchs. https://www.ndr.de/kultur/Welt-im-Wechselmodus-Weihnachten-als-modernes-Mysterium,weihnachtsmysterium112.html [Zugriff 5.12.2023]
- Vgl. Venetz: Der Evangelist, S. 52ff. Genau gesagt, ist es die Geburt eines Retters, eines Messias (Christus), die der Engel ankündigt. Die Bezeichnung von Christus als Gott setzt erst in den folgenden Jahrhunderten ein.
- Venetz: Der Evangelist, S. 57.
- Saskia Wendel: Weihnachten. Heilige Nacht in unheiliger Zeit, in: Christ in der Gegenwart 67 (2015). https://www.herder.de/cig/geistesleben/2015/07-12-2015/weihnachten-heilige-nacht-in-unheiliger-zeit/ [Zugriff 9.12.2023]
- Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern. Texte – Gedichte – Gebete, Ostfildern 2007, S. 34
- Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern, S. 35.
- Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern, S. 97.
- Vgl. Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern, S. 128.
Bildnachweise: Titelbild: Fresko von Fritz Pauli, Weihnachtsgeschehen, in der evangelisch-lutherischen Antoniterkirche (auch Antonierkirche) in der Altstadt in Bern. / Bild 1: Bild einer Ausstellung von Daniel Lienhard: «Maria alias Meryem, Verpackerin in einem Elektronik-Discounter. (Maria der Verkündigung, Domenico d’Agostino, 1369)» Bildmontage: Daniel Lienhard, zvg / Bild 2: Maria hält das Baby Jesus. Unsplash@ianborg / Bild 3: Eine Frau gibt einem Obdachlosen ein Sack Essen. Unsplash@jontyson
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