Fleisch geworden

Der Evangelist Johannes beginnt seine Darstellung des Lebens Jesu mit poetischen Worten. Unter anderem heisst es da: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt…» (Johannesevangelium 1,14). In diesen weihnächtlichen Sätzen liegt eine Sprengkraft. Denn sie richten den Blick auf die gesamte Schöpfung und lassen die Frage aufkommen, wie wir Menschen – gerade heute – mit unserer Mitwelt umgehen.

Im sogenannten Johannesprolog (Johannesevangelium 1,1-34) wird umschrieben, wer dieser Jesus Christus, von dessen Leben gleich die Rede sein wird, ist und woher er kommt. Klar wird sofort, dass es sich bei diesem Menschen um etwas Spezielles handelt. Dem Evangelisten Johannes ist es wichtig, gleich zu Beginn festzuhalten, dass dieser Jesus nicht ein Mensch ist wie du und ich. Stärker als in den anderen drei Evangelien, die Eingang in das Neue Testament gefunden haben, wird im Johannesevangelium die göttliche Herkunft Jesu betont. Dazu greift der Evangelist auf philosophische Denkmuster zurück: Jesus Christus wird als der «Logos» bezeichnet, wobei die Bedeutung von «Logos» in der deutschen Übersetzung mit «Wort» nicht aufgeht. Der «Logos» ist mehr: Es ist die Weisheit und die Vernunft als das Prinzip allen Seins. Ohne «Logos», so könnte man sagen, gibt es keine Welt mit ihren Gesetzen und ihrer Ordnung. Wenn Jesus der «Logos» ist, so ist damit bereits angedeutet, was im Prolog entfaltet wird: Jesus Christus ist seit Beginn, noch vor der Schöpfung der Welt da und existiert sozusagen bereits vor seiner eigenen Geburt.

Das Bild zeigt eine Kombination von Aufnahmen des Hubble-Teleskopes und zeigt das tiefste Bild des Universums. Bei den einzelnen Punkten handelt es sich um Galaxien.

Wenn der «Logos» ins Fleisch eingeht…

Von diesem «Logos» wird nun gesagt, dass er «Fleisch» wird. Er geht ganz in die Schöpfung, an deren Hervorgang er selbst beteiligt war, ein. Das mag denkerisch eine Herausforderung sein: Wie kann das, was alles erst hervorgebracht hat, nun selbst zu einem (kleinen) Teil alles Geschaffenen werden? Hier wird im Grunde angesprochen, was die ganze jüdisch-christliche Geschichte durchzieht und bereits in der Bibel greifbar wird: Gott, der un(be)greifbare Ursprung und tragende Grund allen Seins, gibt sich in der Geschichte zu erkennen. Gott handelt so, weil er in Beziehung treten und Teil der je eigenen Geschichte von Menschen werden möchte.

Von einer «Menschwerdung» Gottes kann im Johannesprolog allerdings nicht direkt die Rede sein – und schon gar nicht von einer «Mannwerdung». Vielmehr müsste man von einer «Fleischwerdung» Gottes sprechen: Denn der «Logos» ist gemäss diesem Hymnus «Sarx» (griechisch für «Fleisch») geworden. Wenn gemeinhin mit Verweis auf Jesus gesagt wird, dass Gott im Antlitz eines jeden Menschen aufleuchte, so müsste man auch hier erweiternd präzisieren: Gott kann in «allem Fleisch», in der gesamten Schöpfung gesucht und gefunden werden, weil er im «Sarx» die gesamte Geschöpflichkeit (und nicht etwa nur eine vernunftbegabte Menschlichkeit) angenommen hat. So wird die ganze Mitwelt zum Ort, an dem Gott nahe ist und sich offenbart. Mit allen Sinnen kann der Mensch in dieser Welt auf Spurensuche Gottes gehen.

Wenn der Mensch die Sinne schärft…

Wer mit wachen Sinnen durch die Welt geht, nimmt früher oder später wahr, dass die Schöpfung nicht (mehr) in einem Gleichgewicht ist. Das rasante Artensterben und die steigende Erwärmung der Erde mit katastrophalen und in ihrer Tragweite kaum kalkulierbaren Folgen für das Leben auf diesem Planeten stimmen nachdenklich. Und das erst recht, wenn man – inspiriert vom Johannesprolog – dabei auch Gottes Mitsein und Mitleiden im «Fleisch» bedenkt.

An Wissen und wissenschaftlich belegten Fakten über die Klimakrise mangelt es nicht. Was aber vielleicht fehlt, ist eine tatsächliche Betroffenheit, ein Sich-berühren-Lassen von der Schöpfung in ihrer aktuellen Fragilität. Die Rede von Gottes «Fleischwerdung» könnte dazu anregen, die Wahrnehmung für das zu schulen, was da ist. In der Enzyklika «Laudato si’»1 von 2015 schafft Papst Franziskus nicht nur Raum für eine naturwissenschaftlich fundierte Analyse, sondern er wird auch nicht müde zu betonen, «dass alles miteinander verbunden ist» (LS 138). Wem es gelingt, mit wachen Sinnen in und mit der Schöpfung zu sein, der/die wird auch ein Gespür gewinnen für die Verbundenheit allen Lebens – miteinander und mit Gott.

Wenn Spiritualität neu verstanden und gelebt wird…

Die Spiritualität wurde in der Kirche lange geistig verengt gesehen und gepflegt. Demgegenüber ist in «Laudato si’» die Rede von einer Spiritualität, die «weder von der Leiblichkeit noch von der Natur oder den Wirklichkeiten dieser Welt getrennt ist, sondern damit und darin gelebt wird, in Gemeinschaft mit allem, was uns umgibt» (Laudato si’ 216).

Praktische Anregung: Geh nach draussen und richte deine Aufmerksamkeit auf deine verschiedenen Sinne – darauf, was du wahrnimmst mit den Augen, mit den Ohren, mit der Nase und über die Haut. Welche Farben, Formen, Dürfte sind da? Wie fühlen sich das Licht, die Luft, die Temperatur an?

Der Johannesprolog versucht, mit den begrenzten Mitteln der menschlichen Sprache ein Gespür zu wecken für die Zugewandtheit des unergründlichen Gottes. Franziskus spricht in seiner Enzyklika von der «Schönheit» Gottes (Laudato si’ 243), die uns bereits in dieser Welt begegnet und immer wieder staunen lässt.

Praktische Anregung: Nimm dir einen Augenblick Zeit und überlege, wann du das letzte Mal gestaunt hast. Vielleicht magst du dich mit jemandem über deine Momente des Staunens austauschen.

Mit der «Fleischwerdung» überschreitet Gott sich selbst und geht in das Andere ein. In einer «Grundhaltung des Sich-selbst-Überschreitens» (Laudato si’) liegt gemäss Franziskus die Wurzel aller Achtsamkeit. Eine solche Haltung setzt jedoch voraus, dass ich mich selbst spüre und kenne.

Praktische Anregung: Versuche, bewusst da zu sein: Nimm wahr, wie du über deine Füsse mit der Erde verbunden bist. Spüre deine Bodenhaftung. Und teste sie ruhig aus, indem du deinen Körper sanft nach vorne, nach hinten und zur Seite bewegst. Achte darauf, wie deine Körperhaltung ist und richte deine Aufmerksamkeit auch auf deinen Atem. Lass dich hineinnehmen in die Bewegung von Ein- und Ausatmen, von Annehmen und Gehenlassen.

Vom fleischgewordenen «Logo» wird gesagt, dass er «unter uns gewohnt» hat (Johannesevangelium 1,14). Die tröstlichste und zuweilen vielleicht auch herausforderndste Tatsache dieses Lebens ist, dass wir nicht alleine auf dieser Erde sind. Das Leben in dieser Welt verbindet uns – nicht nur mit anderen Menschen, sondern mit allem Leben, mit Gott und seiner gesamten Schöpfung. In «Laudate Deum»2, dem Folgeschreiben zu «Laudato si’» von 2023 bezeichnet Papst Franziskus die ganze Welt als «Kontaktzone» (Laudate Deum 66). Das bedeutet: Wo immer ich bin, habe ich die Möglichkeit, in Beziehung zu treten und Verbundenheit zu erleben.

Praktische Anregung: Überlege dir, wo, wie, mit wem oder womit du im Alltag Verbundenheit erfährst. Gestalte diese Verbundenheit bewusst und nimm wahr, was sie dir bedeutet.

Wenn Gott wirklich unter uns wohnt…

Jederzeit und überall ist es möglich, eine Haltung der Achtsamkeit einzuüben. Der Hymnus von Gottes «Fleischwerdung» mag dazu inspirieren und einladen. Wo die Verbundenheit mit Gott in allen Geschöpfen erfahren – oder zumindest erahnt – wird, hat dies Auswirkungen auf die Art und Weise zu leben. Leben und handeln in dieser Welt gewinnen dann selbst eine spirituelle Dimension. In der Enzyklika «Laudato si’» heisst es dazu: «Eine ganzheitliche Ökologie beinhaltet auch, sich etwas Zeit zu nehmen, um den ruhigen Einklang mit der Schöpfung wiederzugewinnen, um über unseren Lebensstil und unsere Ideale nachzudenken, um den Schöpfer zu betrachten, der unter uns und in unserer Umgebung lebt und dessen Gegenwart nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden muss» (Laudato si’ 225).

Gott ist schon da, und Gott ist wirklich da: in allem Geschaffenen, das uns umgibt und von dem wir selbst Teil sind. Gott wartet nur darauf, von uns entdeckt, enthüllt zu werden…

  1. Die Enzyklika ist zu finden auf: https://www.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html.
  2. Das Schreiben ist zu finden auf: https://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/20231004-laudate-deum.html.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Nahaufnahme einer Hand. Photocase / Bild 1: Das Bild zeigt eine Kombination von Aufnahmen des Hubble-Teleskopes und zeigt das tiefste Bild des Universums. Bei den einzelnen Punkten handelt es sich um Galaxien. Das Bild wurde von der NASA erstellt. Wikimedia Commons / Bild 2: Die Natur berühren. Unsplash@sxth / Bild 3: Sich gemeinsam um die Natur kümmern. Eine Frau und ein Mädchen pflanzen einen Baum. Unsplash@eyoelkahssay.

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