Marias Weg in die Freiheit

‹Ich sehe Dich in tausend Bildern›, schreibt der romantische Dichter Novalis in seinem Marienlied. Schaut man in die ältesten Schriften der Jesusbewegung, in die Paulusbriefe und das Markusevangelium, findet sich Maria kaum. Es ist vor allem das Lukasevangelium, das Interesse an der Person der Maria aus Nazaret zeigt. Das Evangelium der Armen zeichnet ein bedeutendes Bild von ihr.

Mirjam, ein Name mit Gewicht

Historisch wissen wir von der Mutter Jesu wenig. Als junge jüdische Frau vom Lande gehörte Maria zu den Menschen ganz unten in der sozialen Ordnung, deren Alltag von harter Arbeit und wenig Beachtung geprägt war. Ihre Heimat wurde von römischen Truppen besetzt, was die Situation junger Frauen noch verletzlicher machte. Maria, hebräisch Mirjam, war ein weit verbreiteter Mädchenname im Palästina des 1. Jahrhunderts. Ein Allerweltsname gewissermassen und doch im Kontext des Glaubens ein klingender Name. Mirjam, die Schwester von Mose und Aaron, die beim Auszug des israelitischen Volkes aus der Sklaverei auf die Pauke schlägt und Gottes rettende Kraft preist, wird Prophetin genannt (vgl. Exodus 15,20). Und als eine solche wird im Lukasevangelium auch Maria von Nazaret vorgestellt.

Das Lied der Prophetin Mirjam von Luca Giorda, ca. 1687

Prophetin der Befreiung

Die bekannte Verkündigungsszene in Kapitel 1,26-38 schildert, wie ein Engel namens Gabriel der jungen Maria die Geburt eines Kindes verheisst, der Sohn des Höchsten genannt werden wird. Maria fragt kritisch nach, wie das geschehen soll und gibt dann ihr Einverständnis: «Siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du gesagt hast.» (Vers 38) Fatalerweise wurde diese Antwort in der kirchlichen Auslegungstradition mehrheitlich zu Lasten der Frauen gelesen: als passive Zustimmung einer hilflosen ledigen Frau, die auf jegliches Eigeninteresse verzichtet und sich Gottes Wille unterwirft. Das Lukasevangelium aber erzählt hier die Berufung einer Jüngerin.1 Maria, die eine befreiende Macht erfährt, tritt entschlossen in Gottes Geschichte ein. Sie stellt sich auf die Seite jenes prophetischen Gottes, der die Kleinen erwählt und sich dem Unrecht entgegenstellt. Der Begriff «Magd Gottes» macht dies deutlich. Es ist ein Ausdruck der Bindung an Gott, ein Ehrentitel gewissermassen, den viele in der männlichen Spielart wahrscheinlich kennen. Knecht Gottes werden die grossen Gestalten Israels genannt, Abraham, Mose und David. Und auch Paulus bezeichnet sich im Brief an die Gemeinde in Rom als «Knecht Jesu Christi, berufen zum Apostel, ausgesondert, das Evangelium Gottes zu verkünden» (1,1) Seine Rede von der Aussonderung lässt ahnen, dass im Begriff «Knecht/Magd Gottes» − man kann den griechischen Ausdruck auch als «Sklave/Sklavin Gottes» übersetzen − mehr mitschwingt als die…

«Vorstellung einer sanften, demütigen Glaubenshaltung. Sklavinnen und Sklaven standen auf der untersten sozialen Stufe. Ohne Rechte und ohne Schutz […] Wenn Maria sich ‹Sklavin› nennt, dann drückt sie damit die Konsequenzen aus, die ihr Weg der Nachfolge für sie bedeuten wird und trifft eine bewusste und aktive Entscheidung».2

Magnifikat – das Lied vom «heiligen Umsturz»

Die Geschichte von Maria im Lukasevangelium ist eng verwoben mit der Geschichte Elisabets,3 einer älteren und kinderlosen Frau, die überraschenderweise doch noch Mutter wird. Sie ist schwanger mit Johannes dem Täufer, als Maria nach dem Weggang des Engels zu ihr aufbricht.

Maria besucht Elisabet, Psalter von Eleonore von Aquitanien ca. 1185

«Elisabet und Maria sind vielfach in Konkurrenz zueinander beschrieben worden. Maria wird Elisabet als Mutter Christi übergeordnet: Das Wunder ihrer Schwangerschaft steigere das der Schwangerschaft Elisabets. Lk 1,39-56 schildert aber eine andere Situation: Die beiden Frauen bilden eine solidarische Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig Unterstützung und Hilfe bieten.»4

Bei Elisabet erfährt Maria etwas von der neuen geschwisterlichen Welt. Und sie fängt zu singen an. Wie bei Mirjam, Judit und Hanna bricht laut ein Lied aus ihr heraus. Mit den Frauen der jüdischen Geschichte preist sie Gottes befreiende Taten, und Elisabet stimmt wohl ebenfalls ein in das Magnifikat, das Lied vom «heiligen Umsturz» (H.-J. Venetz). Leidenschaftlich und voller Freude singen sie:

«Alles, was in mir ist, jubelt Gott zu und ich freue mich über Gott, meine Rettung. Denn Gott hat hingesehen auf die Erniedrigung seiner Sklavin. […] Grosses hat sie an mir getan, die Kraft Gottes – und heilig ist ihr Name. […] Gott hat die Gewalt¬herrscher von ihren Thronen gestürzt und die Erniedrigten aufgerichtet, hat Hungernde reichlich mit Gütern beschenkt und Reiche mit leeren Händen weggeschickt.»5

Die Gotteserfahrung erniedrigter Frauen

Eine alte kinderlose Frau und ein junges schwangeres Mädchen sind die zentralen Protagonistinnen in der lukanischen Eröffnung des Evangeliums von Jesus Christus. Und das ist kein Zufall. Im Schlusskapitel sind Frauen die Zeuginnen der Auferstehung. Während die Jünger noch zweifeln, beginnen die Frauen Ohnmacht und Resignation zu durchbrechen. Parallel dazu zweifelt auch Zacharias, Elisabets Mann, zuerst an den Worten des himmlischen Boten. Wenn Lukas sein Evangelium mit zwei schwangeren Frauen beginnen lässt, weist er zudem darauf hin, dass der Neubeginn, das Kommen des Reiches Gottes, eine ganz konkrete, leibliche Dimension hat. Elisabet und Maria erfahren in ihrem Alltag als Frauen, ja an ihrem Frauenkörper diesen heiligen Umsturz, von dem sie singen:

«Denn auf die Niedrigkeit (Erniedrigung) seiner Sklavin hat er geschaut… der Mächtige hat Grosses an mir getan.» (Lukasevangelium 1,48-49b)

Heimsuchung der Jungfrau Maria (das Magnificat) von Jean Jouvenet, 1716

Elisabets Geschichte zeigt, dass der Begriff tapeinōsis, den die gängigen Bibelübersetzungen mit Niedrigkeit wiedergeben, nicht anthropologisch zu deuten ist im Sinne der Kleinheit des Menschen vor Gott. Es geht um konkrete Erfahrungen der Erniedrigung, wie Frauen sie im Kontext von Mutterschaft erleben. Elisabet leidet unter dem Stigma der Kinderlosigkeit. Um welche Erniedrigung es bei Marias Schwangerschaft geht, bleibt im Dunkeln. Doch aus dem schwangeren Mädchen vom Land wird in der Gottesbegegnung eine selbstbestimmte Frau. Ihr Weg in die Freiheit, so der Text, geschieht nicht durch den Willen eines Mannes, sondern allein durch die Kraft des göttlichen Geistes. Der Theologe Rainer Bucher weist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Umsturz der Wertungen hin, wenn er schreibt:

«Plötzlich kehren sich die Verhältnisse um. Sonst entscheiden Männer über Frauen und sind Menschheitsfragen immer Männerfragen. Hier entscheidet aber eine Frau über einen Mann: Maria entscheidet über die Ankunft Jesu. Und hier sind Menschheitsfragen, ja die Menschheitsfrage: ob Gott einen Ort in der Geschichte der Menschheit bekommt, Fragen an eine Frau.»6

Die Gestalt der Maria, wie sie uns im Lukasevangelium begegnet, trägt eine beeindruckende Kraft in sich und es erstaunt nicht, dass sie bis heute Menschen weltweit inspiriert und begleitet auf dem Weg in die Freiheit.

  1. Das Lukasevangelium folgt denn auch literarisch dem aus dem Alten Testament bekannten Berufungsschema: Ankündigung durch einen Engel, Bedenken der berufenen Person, Hinweis auf ein Zeichen. Vgl. Genesis 17,15-22 und 1. Samuel 1.
  2. Claudia Janssen: Auf dem Weg in die Freiheit. Maria, eine Sklavin Gottes (Lk 1,26-28), in: Bibel heute 36 (2000), S. 71-72, hier S. 71. Der Titel dieses glaubenssache-online-Beitrags ist in Anlehnung an Janssens Artikel formuliert. Zur Freiheit Marias vgl. Marie-Louise Gubler: «Nach der Engelankündigung stimmt Maria aus eigenem Antrieb zu, die Mutter des Messias zu werden – ohne Konsultation ihrer Familie (Lk 1,38). Eine erstaunliche Freiheit, die der theologischen Konzeption des Evangeliums nach Lukas entspricht: es sind gerade die Geringen, die Frauen, die Kranken und Menschen am Rand, die Gott erwählt und denen er Würde gibt.» (Bibel heute 36 [2000], S. 69)
  3. Hermann-Josef Venetz: Selig, die geglaubt hat (Lk 1,45). Zwei schwangere Prophetinnen proklamieren den Neubeginn, in: Hermann-Josef Venetz: Der Evangelist des Alltags. Streifzüge durch das Lukasevangelium, Freiburg 2000, S. 30-44.
  4. Claudia Janssen, Regene Lamb: Das Evangelium nach Lukas. Die Erniedrigten werden erhöht, in: Luise Schottroff, Marie-Theres Wacker (Hgg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 21999, S. 513-525, hier S. 519. Vgl. auch Luise Schottroff: Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 1994, S. 258-296.
  5. Lukasevangelium 1,46-50.52.53 in einer Übersetzung von Dietlinde Jessen, aus: Bibel heute 55 (2019), S.19.
  6. Rainer Bucher: Versuche zu Maria (1), https://www.feinschwarz.net/versuche-zu-maria-1/ (28.04.2023).

     

    Bildnachweise: Titelbild: Ukrainische Maria. Ikone auf Munitionskiste. Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko. Foto: Peter Sladkovic / Bild 1: Das Lied der Prophetin Mirjam (El cántico de la profetisa María) von Luca Giorda, ca. 1687, im Museum del Prado, Madrid. Wikimedia Commmons. / Bild 2: Bilder aus dem Leben Christi – Die Heimsuchung, Maria trifft die heilige Elisabeth – Psalter der Eleonore von Aquitanien ca. 1185, Koninklijke Bibliotheek Den Haag. Wikimedia Commons. / Bild 3: Heimsuchung der Jungfrau Maria (La Visitation de la Vierge [Le Magnificat]), Jean Jouvenet, 1716, Öl auf Leinwand. Ausgestellt im Louvre, Paris. Wikimedia Commons.

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Kommentare

2 Kommentare zu “Marias Weg in die Freiheit

  1. 04.05.23

    Maria Furrer

    zum neuen Artikel von Angela Büchel Sladkovic

    Danke, dass der Aspekt der freien Einwilligung Marias hervorgehoben wird!
    Maria Furrer

  2. 16.05.23

    Angela Büchel Sladkovic

    Liebe Maria,
    danke für das Feedback. Ja, die Einwilligung ist zentral und wichtig. Dies hervorzuheben ist heute dringlich, denn es gibt auch einen spirituellen Missbrauch, der die Menschen und ihr Ja bzw. ihre Antwort negiert oder kleinredet.

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