Wo wohnt Gott?

«Ich war im Weltraum, aber Gott bin ich nicht begegnet» – so soll sich Juri Gagarin, sowjetischer Kosmonaut und erster Mensch im All, nach seiner Weltumrundung im Jahr 1961 geäussert haben. Dass Gagarin in seiner Umlaufbahn um die Erde keinen rauschebärtigen Gott auf einer Wolke gesehen hat, überrascht sicherlich niemanden: Mit einer solchen Vorstellung verbinden auch die meisten Christinnen und Christen einen eher kindlichen Glauben. In jenem erscheint Gott als freundlicher älterer Herr mit strengem Blick, der von oben das Treiben seiner Schöpfung betrachtet und nach Lust und Laune in diese eingreift. In der Hoffnung auf dieses Eingreifen wird so manches Stossgebet in den Himmel geschickt: «Lieber Gott, bitte mach, dass meine Schularbeit gut ausgefallen ist …»

Die Lokalisierung des «Wohnortes» Gottes ist aber für den christlichen Glauben tatsächlich nicht ganz unwichtig. An diesem Wohnort entscheidet sich nämlich, ob und wie Gott Einfluss auf unsere Welt nehmen kann (theologisch gesprochen geht es dabei um die Bestimmung des «Gott-Welt-Verhältnisses»). Das Gebet und die Fürbitte sind typische Beispiele, um sich diesem schwierigen Thema zu nähern: Die Betenden oder Fürbittenden richten sich an Gott mit dem festen Glauben, dass Gott ihnen wegen seines Wohnorts «in der Nähe» antworten kann und auf ihre Bitte reagiert. Wäre der Wohnort Gottes in weiter Ferne oder Gott und Welt womöglich sogar streng voneinander getrennt, dann wäre Gott dazu vielleicht gar nicht in der Lage. Besitzt Gott die Fähigkeit, in seine Schöpfung einzugreifen – oder kann und will er das überhaupt nicht?

In der Bibel sind diese Fragen kein Thema. Gott gibt sich dort von Beginn an als Schöpfer:in mit eigenem Willen und eigenen Plänen zu erkennen. In einem fast spielerischen Vorgang lässt er alles werden und begleitet seine Schöpfung durch die Zeit. Diese lebendige und vor allem nahe Beziehung ist ein Hauptthema der Bibel – in ihren grossen Erzählungen von den Erzeltern, in ihren Liedern, in ihren Gebeten. Die Bibel überhöht diese äusserst nahe, personale Beziehung aber nicht, sondern relativiert sie auch: Das Buch Hiob erzählt davon, dass Gottes Handeln häufig unverständlich bleibt, schwere Leiden und früher Tod scheinbar die falschen Menschen treffen. Einige Psalmen (z.B. Psalm 88) beklagen eindrücklich, dass Bitte und Klage nicht erhört werden, die Beziehung zu Gott in der Einsamkeit der Verlassenen verhallt. Trotz aller Nähe: Gottes Handeln ist ein Geheimnis.

Hiob (Job), Jules Bastien Lepage, 1876

Als in den Jahrhunderten der frühen christlichen Kirche die Gottesvorstellungen immer stärker mit Begriffen aus der Philosophie umschrieben werden, verblassen die biblischen Vorstellungen der Nähe Gottes zu seiner Schöpfung. Gott macht in dieser Zeit zudem regelrecht Karriere: Der Gott des unbedeutenden vorderorientalischen Volkes Israel wird nun zum alleinigen Gott des spätrömischen Riesenreiches. Eine Folge: Wichtig werden die göttlichen Machtattribute, die mit «all-» beginnen und den all-umfassenden Machtanspruch Roms widerspiegeln: Gott ist all-mächtig, all-wissend, all-herrschend, all-… Als dreifaltiger Gott ist er Schöpfer, Geistspender und Erlöser in einer Person, in jeder Hinsicht das für Menschen höchste nur vorstellbare Wesen. In den Worten der zeitgenössischen Vorstellungen: Gott ist das summum bonum, das «höchste Gute». Aus christlicher Sicht besteht zwar in Jesus Christus ein fester Draht zu Gott, aber dieser Draht wird im Laufe der Jahrhunderte durch die fortdauernde Überhöhung und die philosophische Glaubenssprache immer länger und länger.

Als am Beginn der Neuzeit die naturwissenschaftliche Sichtweise ihren Siegeszug antritt, wird ein Eingreifen Gottes in der Welt für die gelehrte Welt immer unplausibler. Ein Gott, der sich in der Geschichte offenbart – indem er sein Bundesvolk Israel zur Freiheit führt oder die Menschen in Jesus Christus erlöst – diese Vorstellung erscheint zunehmend unwahrscheinlich. Was wäre das schliesslich für ein Gott, der willkürlich die Naturgesetze verändert oder beispielsweise die Fürbitte einer Person erhört, die einer anderen dagegen nicht? So ein Gott wäre doch gar nicht ernst zu nehmen!

Die Überzeugung, dass Gott wegen seines Wohnortes und damit wegen seines Verhältnisses zu Welt gar nicht in diese eingreifen könne, lässt sich beispielhaft an zwei Extrempositionen verdeutlichen: Im sogenannten «Deismus» – einer philosophisch-theologischen Strömung, die in der Epoche der Aufklärung entstand – wird Gott zum blossen «Uhrmacher» degradiert. Er ist der Schöpfer, der alles auf perfekte Weise geplant und eingerichtet hat. Wie ein Uhrwerk «funktioniert» nun seine Schöpfung nach naturwissenschaftlichen Prinzipien. Der Mensch ist in seinem Wollen und Können frei innerhalb dieser Schöpfung, Gott aber nur ein Zuschauer aus weitestmöglicher Ferne. Um die menschliche Freiheit zu sichern, darf er nicht einmal dann in die Welt eingreifen, wenn er es wollte. Die Entdeckung der Zufälligkeit der Evolution im 19. Jahrhundert machte diese Gottesvorstellung sogar noch plausibler: Offensichtlich braucht es Gott für eine fortdauerndes Schöpfungshandeln gar nicht unbedingt. Die einmalige Schöpfung hat in Gang gesetzt, was nun für vielen Jahrmilliarden selbständig weiterlaufen wird. Gott? Ist dann mal weg.

Ein Uhrmacher bei der Arbeit

Die andere Extremposition geht auf den niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza zurück, ebenso ein Kind der Epoche der Aufklärung: Ihm zufolge befindet sich Gott nicht «möglichst weit weg» wie im Deismus, sondern es gilt: «Deus sive natura». Das lässt sich übersetzen mit «Gott oder auch die Natur» und bedeutet, dass Gott und die Natur letztlich identisch sind. Die Auswirkungen beider Gottesvorstellungen sind radikal: Im «Deismus» einerseits gibt es so gut wie keine Verbindung mehr zwischen Gott und seiner Schöpfung, im sogenannten «Pantheismus» (gr. für «Alles ist Gott») von Spinoza andererseits lösen sich alle jüdisch-christlichen Gottesvorstellungen auf: Auch hier gibt es keinen Platz für einen eingreifenden, personalen Gott mit eigenem Willen oder gar einer besonderen Liebe zu seiner Schöpfung. Gott? Überall und nirgends.

Diese beiden Extrempositionen zeigen, dass für Christ:innen die Frage nach dem «Wohnort» Gottes keineswegs beliebig ist. Die Frage bleibt, wie wir uns das Verhältnis von Gott zu unserer Welt so vorstellen können, dass dieses einerseits den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (z.B. zum Alter des Universums, zur Evolution des Lebens, …) und andererseits dem christlichen Glauben gerecht wird. Eine sehr gute Möglichkeit ist die Idee des sogenannten «Panentheismus», die mittlerweile von vielen Theolog:innen vertreten wird. Die eigentliche Neuerung ist dabei im Wort Panentheismus selbst versteckt: Die griechische Silbe «en» bedeutet «in», das ganze Wort: «Alles ist in Gott». Damit wird auch der Unterschied zum Pantheismus sofort ersichtlich: Im Pantheismus ist alles ununterscheidbar Gott, im Panentheismus dagegen werden Gott und Welt klar voneinander unterschieden und behalten ihre Individualität – aber die Schöpfung ist zugleich nicht von Gott getrennt, sondern ist in ihm, ist ein Teil von ihm.

Was sich wie eine theologische Spitzfindigkeit liest, ist ganz im Gegenteil eine Möglichkeit für Christ:innen, ihren Glauben in einer naturwissenschaftlich geprägten Welt zu leben und vernünftig auszudrücken. Panentheistisch verstanden, ist Schöpfung ein dauerhaftes Geschehen, das in Gott stattfindet. Gott wirkt dauerhaft in seiner Schöpfung, in uns allen, verleiht Kraft und Wirksamkeit – ein ganz und gar biblisches Bild! Schöpfung und Evolution sind in diesem Modell überhaupt kein Widerspruch, sondern stehen in enger Beziehung zueinander – Gott selbst ist mit seiner Schöpfung Evolution. Weil die vormals scharfe Gegenüberstellung von Gott und Welt aufgehoben ist, eröffnen sich auch neue Perspektiven darauf, wie Gott in die Welt «eingreift»: Der Geist Gottes wirkt in seiner Schöpfung und damit auch in seinen menschlichen Vertretern – und umgekehrt dürfen wir davon ausgehen, dass die menschlichen Handlungen, Fürbitten und Gebete eine Art «Feedback» in Gott hervorrufen.

Das ist vielleicht das Tröstlichste des panentheistischen Modells: Gott selbst eröffnet sich eine Zukunft, die er gemeinsam mit seiner Schöpfung entdeckt. Damit schliesst sich wieder der Kreis zur Bibel: Denn als Gott Mose im brennenden Dornbusch erscheint und sich ihm vorstellt, nutzt er eine Wendung, die einige Bibelforscher wie folgt übersetzen: «Ich werde sein, wer immer ich sein werde». Das können wir panentheistisch für uns so deuten: Gott geht unseren Weg in eine ungewisse Zukunft mit – das ist wohl die wichtigste aller Zusagen, die wir haben können. Unabhängig davon, wo Gott nun tatsächlich seinen Wohnort hat und ob wir uns ihm nahe fühlen oder nicht.1

  1. Bildnachweise: Titelbild: Astronaut im Weltall. Unsplash@nasa / Bild 1: Hiob (Job), Jules Bastien Lepage, 1876, Öl auf Leinwand. Wikimedia Commons / Bild 2: Ein Uhrmacher bei der Arbeit. Unsplash@zerben4all / Bild 3: Klassischer Atheismus, Pantheismus, Panentheismus. www.theologie-naturwissenschaften.de/fileadmin/user_upload/4Peitz.jpg

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Kommentare

Ein Kommentar zu “Wo wohnt Gott?

  1. 13.10.23

    Bozkurt

    Danke für den Beitrag. Zum Teil ist es echt schwer an das noch Gute zu glauben, was unweigerlich Tötungs Gedanken hervorholt. Solche Beiträge schenken aber wieder hoffnung.

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