Zeit gestalten – im Rhythmus des Jahres

Noch bevor sich das bürgerliche Jahr dem Ende zuneigt, beginnen Christ:innen mit der Adventszeit ein neues Jahr, sie nennen es: Kirchenjahr oder liturgisches Jahr. Mit seinen Festzeiten, den zahlreichen Feiertagen und Heiligengedenktagen ist das Kirchenjahr – ähnlich einer Kathedrale – im Laufe von Jahrhunderten entstanden. Es ist ein «Haus in der Zeit».1 Treten wir ein!

Der Kern, die Urzelle oder das Fundament dieses Hauses bildet die Feier von Ostern, und zwar in einer doppelten Ausprägung: als jährlicher und als wöchentlicher Feiertag (Sonntag). In den ersten Jahrhunderten der Kirche gab es– neben den lokalen Gedenktagen der Märtyr:innen und für Judenchrist:innen zusätzlich zu den jüdischen Festen – nur diese beiden christlichen Festtage.

Entfaltung des Ereignisses von Ostern

Erst ab dem 4. Jahrhundert traten weitere Festtage hinzu. Diese sind nichts anderes als eine Entfaltung dessen, was an Ostern und an jedem Sonntag gefeiert wird: die Überwindung des Todes und die Befreiung zum Leben durch das Kreuz und die Auferweckung Jesu Christi von den Toten.2

Dieses Ereignis ist so epochal und tiefgründig, dass es immer wieder von einer anderen Seite her betrachtet, bestaunt und gefeiert werden kann. Der Festreigen des Kirchenjahres erzählt die Episoden aus der Geschichte Gottes mit seinem Volk und aus dem Leben Jesu stets im Licht des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Die christlichen Festtage bekommen erst von Ostern her ihren tieferen Sinn.

Auf Weihnachtsdarstellungen ostkirchlicher Ikonen erinnern die Krippe des Jesuskindes an das Grab Jesu und die Windeln des Neugeborenen an die Leinentücher des verstorbenen Jesus. So ist am Fest der Geburt Jesu auch seine Lebenshingabe am Kreuz präsent, was wiederum eine Hoffnungsperspektive eröffnet: Wir feiern nicht nur die erste Ankunft Jesu in dieser Welt; wir erwarten auch das rettende Wiederkommen des vom Tod Erstandenen in unsere Zeit und am Ende der Tage.

Wie damals so auch heute

An Palmsonntag zieht die christliche Gemeinde in Prozession mit Palmzweigen in den Händen und mit dem Gesang des «Hosanna» in die Kirche ein. Sie spielt damit nicht ein biblisches und historisches Ereignis nach.

Die Feiern des Kirchenjahres illustrieren nicht bloss vergangene Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament, uns zur Ermahnung oder als gutes Beispiel. Nach jüdisch-christlichem Verständnis bleiben diese Ereignisse gültig, sie sind auch für uns heute von Bedeutung, weil in ihnen der ewige Gott handelt, der Gott, der Raum und Zeit übersteigt.

Im Gebet nach der 3. Lesung der Osternacht (Exodus 14,15 –15,1) heisst es: «Gott, deine uralten Wunder leuchten noch in unseren Tagen. Was einst dein mächtiger Arm an einem Volk getan hat, das tust du jetzt an allen Völkern…»

Was Gott in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und an einem bestimmten Volk gewirkt hat, das ist für ihn nicht vergangen; er wirkt es auch heute und über alle Zeiten hinweg. Durch die rituelle Inszenierung werden diese Ereignisse für uns gegenwärtig; wir können an ihnen teilhaben und die Erfahrung der Menschen von damals zu unserer Erfahrung machen.

Was wir in der Liturgie erzählen, hören, beten, singen und tun, geschieht im «Heute» der Feier. Ausdrücklich wird dies beispielsweise, wenn es im Hochgebet an Gründonnerstag heisst: «… in der Nacht, da er (Jesus) verraten wurde – das ist heute –, nahm er das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern…».3 In der Messe am Fest «Erscheinung des Herrn» (6. Januar) wird gebetet: «…heute enthüllst du das Geheimnis unseres Heils, heute offenbarst du das Licht der Völker, deinen Sohn Jesus Christus…»

Ein Weg der Hoffnung

Jede Religion und Kultur kennt regelmässig wiederkehrende Feste und Gedenktage. Es sind Momente, in denen die Menschen Abstand vom Alltag gewinnen und auf das Leben als Ganzes blicken, in denen eine Gemeinschaft sich ihres Fundaments und ihrer Werte vergewissert. Feiertage stiften Identität und fördern den Zusammenhalt von Gemeinschaften und der Gesellschaft insgesamt.

Manche dieser besonderen Tage fügen sich in den natürlichen Zyklus eines Jahres ein: Feste zu den Sonnenwenden, zur Aussaat und zur Ernte haben ihre Wurzeln in archaischen und landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften. Sie deuten die Zeit als permanenten Kreislauf, eine ständige Wiederkehr des Gleichen, einen unveränderlichen Wechsel von Werden und Vergehen.

Eine andere Kategorie von Feiern begeht den Jahrestag eines biografischen oder geschichtlichen Ereignisses: den Geburtstag, Hochzeitstag, Todestag, den Gründungstag einer Organisation oder eines Staates, das Gedenken an einen Kriegsbeginn oder Friedensschluss usw. Dieser Art von Feiern liegt ein lineares Verständnis der Zeit zugrunde: Die Zeit schreitet unaufhaltsam voran; was vergangen ist, ist endgültig vorbei.

Das Kirchenjahr offenbart demgegenüber nochmals ein anderes Zeitverständnis, das sich am ehesten mit einer Spirale darstellen lässt. Die christlichen Feiertage sind in unseren Breitengraden zwar eingeschrieben in den Wechsel der Jahreszeiten, begehen aber nicht wiederkehrende Naturphänomene, sondern Ereignisse der Geschichte Gottes mit den Menschen. Als solche sind diese Geschehnisse einmalig und nicht wiederholbar. Sie sind aber nicht vergangen und verloren, vielmehr leuchten sie – «noch in unseren Tagen» und jedes Jahr neu – in die Gegenwart der Feier hinein. Und sie bilden einen Vorschein dessen, was Mensch und Schöpfung erwarten darf. Die Kirche begeht das Jahr auf Hoffnung hin, sie ist mit Christus unterwegs durch die Zeit bis zu seinem endgültigen Erscheinen am Ende der Tage.

Erfüllte Zeit

Das Kirchenjahr besteht aus einem dynamischen Wechsel von Festzeiten und normale Zeiten, von Feiertag und Alltag. Um die liturgischen Feiern mit ihren je eigenen Texten, Riten und Gesängen ranken sich religiöse Bräuche, die heute noch in Familien und in Teilen der Gesellschaft gepflegt werden. Wer im «Haus in der Zeit» umhergeht, gestaltet Zeit bewusst und erfährt sie als gemeinschaftliche, sinnenhafte und sinnerfüllte, als gott-erfüllte Zeit.

  1. Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 7. Aufl. 2005, 355.
  2. Kirche und Theologie sprechen vom «Pascha-Mysterium». Es ist ein Grundbegriff der Liturgiekonstitution des Zweites Vatikanisches Konzils.
  3. Eucharistisches Hochgebet III, Eigentext der Messe vom Letzten Abendmahl an Gründonnerstag.

     

    Bildnachweise: Titelbild: Zwei Mädchen öffnen einen Adventskalender. C_Harald_Oppitz_KNA / Bild 1: Jesus am Kreuz und Engel um ihn herum. Mit Lichtern gestaltet. Unsplash@Chamie88 / Bild 2: Kirchendecke mit verschiedenen biblischen Erzählungen. Unslash@matcfelipe / Bild 3: Uhrenturm mit Lichtern. Unsplash@ocd_studios.

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