Zeit gestalten – im Rhythmus der Woche

Ausschlafen, gut essen, mit Familie oder Freunden etwas unternehmen – so sieht für viele der Sonntag aus. Für Christ:innen stehen am Sonntag vor allem zwei Aspekte im Vordergrund: die Teilnahme am Gottesdienst und die Musse.

Bevor der Sonntag als Ruhetag galt, war er für die christlichen Gemeinden Versammlungstag. Im Neuen Testament finden sich Hinweise, dass sich die Anhänger:innen Jesu nach dessen Tod wöchentlich versammelt haben – jeweils am «ersten Tag der Woche» (Apostelgeschichte 20,7; Johannes 20,26). Sichere Quellen für eine Versammlung zur Eucharistie gibt es bereits ab dem 1. Jahrhundert.1

Versammlung zum Gottesdienst – wöchentliches Ostern

Der erste Tag der Woche ist nach biblischem Zeugnis der Tag, an dem Jesus auferstanden ist. Er wird auch als der Tag der Himmelfahrt Jesu und der Geistsendung beschrieben. Die Christ:innen nennen ihn «Tag des Herrn»; schon früh übernimmt man von der griechisch-römischen Planetenwoche die Bezeichnung «Tag der Sonne» mit Bezug auf Christus, der als das wahre Licht, die «Sonne der Gerechtigkeit» angebetet und erwartet wird.

Die Versammlung am Sonntag wird zum Erkennungsmal der Christ:innen – bis heute. Das Zweite Vatikanische Konzil hält im Dokument über die Liturgie fest: «An diesem Tag müssen die Christgläubigen zusammenkommen, um das Wort Gottes zu hören, an der Eucharistie teilzunehmen und so des Leidens, der Auferstehung und der Herrlichkeit des Herrn Jesus zu gedenken.»2

«Gedenken» meint nicht nur Erinnerung an Vergangenes. In der Gedächtnisfeier werden die Ereignisse der Heilsgeschichte gegenwärtig und wirksam. Gleichzeitig scheint bereits auf, was Gott den Menschen in Christus verheissen hat. Wie in der Osternacht halten die Feiernden Ausschau nach dem Kommen Christi in die Welt. Diese Dynamik wird in der Akklamation im eucharistischen Hochgebet deutlich: «Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir bis du kommst in Herrlichkeit.»

Auch wenn die Eucharistie seit Anbeginn zum Sonntag gehört, haben auch andere sonntägliche Gottesdienstformen wie die Wort-Gottes-Feier oder die Vesper Gedächtnischarakter.

Der Sonntag ist das wöchentliche Ostern. Die Getauften werden sich ihrer Würde als mit Christus zum Leben Berufene, als Kinder Gottes und Glieder des Leibes Christi bewusst. Entsprechend war in der Alten Kirche das Knien am Sonntag verboten, ebenso das Fasten.

Sonntagsgebot

Trotz der zentralen Stellung, die der Sonntagsgottesdienst im Leben der Kirche einnimmt, mussten die Getauften immer wieder zur Teilnahme an der Versammlung ermahnt werden (vgl. Hebräerbrief 10,25). Noch heute gehört sie zu den Pflichten der Katholik:innen, auch wenn dies weitgehend aus dem Bewusstsein verschwunden ist.3

Macht die «Sonntagspflicht» heute noch Sinn? Lange Zeit galt die Devise: Man kann auch Christ:in sein, ohne am (sonntäglichen) Gottesdienst teilzunehmen. Allerdings erweist es sich als schwierig, eine Glaubenspraxis über längere Zeit aufrechtzuerhalten ohne Anbindung an eine Liturgie feiernde Gemeinde. Zum Christ:insein gehört die Zugehörigkeit zu einer grösseren Glaubensgemeinschaft, die das individuelle Beten und christlich motivierte Handeln trägt, belebt und herausfordert, und den eigenen Glaubenshorizont weitet.

Was nicht regelmässig praktiziert wird, geht mit der Zeit verloren. Um dem entgegenzuwirken, kann eine vorgegebene Zeitstruktur helfen. In diesem Sinn will die «Sonntagspflicht» mehr sein als ein äusserer Zwang; vielmehr kann sie als Aufruf zur inneren Selbstverpflichtung verstanden werden.

Als während der Corona-Pandemie die Sonntagsgottesdienste ausgesetzt werden mussten, merkten einige der regelmässigen Kirchgänger:innen, dass ihre Teilnahme nicht mehr als blosse Routine gewesen war und sie die Liturgie nicht wirklich vermissten. Andere wichen auf mediale Gottesdienstübertragungen aus, die allerdings – ähnlich wie beim Film oder Konzert – die physische Versammlung nicht zu ersetzen vermögen. Wieder andere entdeckten die Hausliturgie im Familien- oder Bekanntenkreis für sich neu.

Auch wenn nur ein Bruchteil der Getauften sich regelmässig am Sonntag zum Gottesdienst versammelt, ereignet sich hier je neu Kirche als «Leib Christi», weil im Hören auf Gottes Wort und im Brechen des Brotes die Gemeinschaft Jesu Christi gebildet wird.

Tag der Freude und der Musse

Für die ersten Christ:innen war der Sonntag ein gewöhnlicher Arbeitstag, sie konnten sich deshalb nur am Abend oder am frühen Morgen treffen. Im 4. Jahrhundert erklärte Kaiser Konstantin den Tag der Sonne für Städter und Gewerbetreibende zum arbeitsfreien Tag. Im 6. Jahrhundert setzte sich schliesslich der Sonntag als Ruhetag durch; die entsprechenden Eigenschaften des Sabbats gingen auf den Sonntag über. Die Arbeitsruhe am Sonntag wurde im Laufe der Geschichte nie streng durchgehalten, auch heute steht sie aus ökonomischen Gründen unter Druck. Es wird in Frage gestellt, ob die Gesellschaft überhaupt einen gemeinsamen, verordneten und vom Staat garantierten Ruhetag braucht.

Als Ruhetag hat der Sonntag seine Wurzeln im jüdischen Sabbat. Seine religiöse Bedeutung liegt in der Schöpfungsordnung begründet. «Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag…» (Genesis 2,2). Gott ruht nicht, weil er müde ist oder Erholung braucht, sondern weil sein Werk zur Erfüllung gelangt ist. Gott freut sich seines Werks, er heiligt und segnet den siebten Tag, hebt ihn gegenüber den anderen Tagen hervor. So gibt Gott der Zeit Rhythmus und Mass.

In diesen Rhythmus darf der Mensch sich einschwingen. Sein Leben besteht nicht aus einer mehr oder weniger belanglosen Aneinanderreihung von Tagen, vielmehr hat es eine Ausrichtung, ein Ziel, einen Sinn. Es hat eine unantastbare Würde, die nicht von Leistung und Produktivität abhängt, und die der Mensch sich nicht selbst geben kann.

Daran erinnert der Sonntag als Ruhetag. Er ermöglicht nicht nur Erholung und Freizeitaktivitäten, ist nicht nur eine Unterbrechung von Tätigkeiten mit dem Ziel, danach umso effizienter arbeiten zu können. Die Tätigkeit, die zum Sonntag passt, lässt sich mit dem deutschen Wort «Musse» umschreiben. Der Duden definiert Musse als «freie Zeit und [innere] Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht».

Am Sonntag gehört der Mensch sich selbst. Ihm ist ein Zeitfenster geschenkt, in dem er – frei von inneren und äusseren Zwängen, fremden Interessen und (ökonomischen) Zwecken – anderen Menschen, seiner Mitwelt und Gott begegnen kann. Der Sonntag gibt dem Menschen eine Perspektive über sich selbst hinaus, er verweist auf eine höhere, sinnvolle, ihm nicht verfügbare Ordnung. Dieser erweiterte Horizont lässt ihn aufatmen. Auch die menschliche Gesellschaft braucht dieses regelmässige Innehalten, um sich der gemeinsamen Glaubens- und Wertvorstellungen zu vergewissern.

Der Sieben-Tage-Rhythmus mit dem Sonntag als Ruhetag ist ein jüdisches Vermächtnis an die Menschheit. Ihn gilt es zu bewahren.

  1. Vgl. zur Entstehung und Theologie des christlichen Sonntags: Gunda Brüske / Josef-Anton Willa, Gedächtnis feiern – Gott verkünden (Studiengang Theologie VII: Liturgiewissenschaft). Zürich, 2. Aufl. 2015, 312-323.
  2. Zweites Vatikanisches Konzil, Liturgiekonstitution «Sacrosanctum Concilium» 106.
  3. Vgl. Codex des kanonischen Rechts (CIC/1983) can. 1247.

    Bildnachweise: Titelbild: Eine Frag besucht mit einem Kinderwagen einen Gottesdienst. Foto: C_Ruben_Sprich / Bild 1: Die Eucharistie wird in einem Gottesdienst gefeiert. Unsplash@matcfelipe / Bild 2: Ein Gottesdienst wird auf einem Laptop gestreamt, eine Mariastatue steht daneben. Unsplash@annaelise / Bild 3: Jüdinnen:Juden feiern den Shabbat an der Klagemauer in Jerusalem. Unsplash@Sandercrombach

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