Diktatoren mögen das nicht!

Im November 2023 feiern wir das Jubiläum eine der grossartigsten Errungenschaften der jüngeren Geschichte: 75 Jahre «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte».

In einer Zeit, in der weltweit neue Konflikte auflodern, Diktaturen die Meinungsfreiheit ihrer Bürger:innen einschränken und Überwachungstechniken zum Alltag gehören, lohnt ein Rückblick auf die Geburtsstunde «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» sehr. Und es lohnt ein Blick auf ihr Versprechen: Alle Menschen sind gleich an Rechten und sollen ihre persönlichen Ziele verfolgen dürfen, sollen Freiheit und Schutz geniessen, sollen Gewissens- und Meinungsfreiheit haben, sollen vor staatlicher Repression geschützt werden und Anspruch auf faire und gerechte Entlohnung für ihre Arbeit haben… Was damals revolutionär war, liest sich in (zu) vielen Weltteilen auch heute noch wie eine Utopie.

Menschenschlächterei

Der Proklamation der Menschenrechte im Jahr 1948 vorausgegangen war eine Epoche der Menschenschlächterei. Mit dem 1. und 2. Weltkrieg und verknüpft mit Namen wie Verdun und Stalingrad, mit Konzentrationslagern und Gulags und nicht zuletzt mit der Erfindung der Atombombe hatte das individuelle Leben seinen Wert praktisch verloren. Das maschinelle Töten von Menschen war eine Sache grösster Perfektion geworden, das Überleben der Menschheit schien grundsätzlich in Frage gestellt. Die Alliierten waren deshalb bereits in der Spätphase des 2. Weltkriegs überzeugt, dass es nach Kriegsende eine neue globale Ordnungsstruktur für den Schutz der Menschenrechte brauchen würde. Alle Menschen sollen in Frieden und frei von Verfolgung und Unterdrückung leben können; dieses menschenrechtliche Grundüberzeugung soll zum Glaubensbekenntnis einer neuen Zeit werden. In dieser Zeit soll eine Herrschaft des Rechts gelten, sollen Zusammenarbeit und Freundschaft die Nationen untereinander verbinden. Als der Krieg dann wirklich im Sommer 1945 mit der Kapitulation Japans vorbei war, wurde dieser Plan umgesetzt. Gegründet werden noch im gleichen Jahr die Vereinten Nationen (UN), zu deren Aufgabenbereich künftig der Schutz der Menschenrechte zählen soll.

Eine Karte der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Ende 1945. Hellblau sind Mitgliedsstaaten, Dunkelblau sind Kolonien von Mitgliedsstaaten, Grau sind Nicht-Mitgliedsstaaten

Der historischen Genauigkeit halber ist zu ergänzen: Rechte des Menschen, die im Mensch-sein selbst begründet werden, waren bereits vor lange vor 1948 formuliert worden. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 werden solche Rechte proklamiert, noch berühmter sind aber die «Droits de l’homme» aus der Zeit der Französischen Revolution. Doch der Sache nach wurden die damals proklamierten Menschenrechte eher als Ausdruck der Emanzipation vom Mutterland oder vom Adel ausgelegt, als dass darunter tatsächlich universale, überall geltende und sogar einklagbare Rechte verstanden worden wären. Sie blieben eine wohlklingende Idee mit wenig politischer und sozialer Durchschlagskraft. Die folgende Epoche bis ins Jahr 1948 bewies dies nur zu deutlich.

Mit Garantie

Das aber änderte sich 1948 radikal. Es wurden nun nicht einfach bloss Rechte im revolutionären Überschwang formuliert. Es wurden gleichermassen Strukturen geschaffen, damit diese Rechte auch zu Verpflichtungen werden konnten. Denn das war ja vorher das Hauptproblem gewesen: Menschenrechte waren formuliert worden, aber niemand hatte sich dazu verpflichtet gesehen, ihren Schutz auch zu garantieren. Wie wurde dieses Problem gelöst?

Nun, mit der Proklamation der Menschenrechte durch die UN setzte sich ein mehrstufiger Prozess in Gang. Nach ihrer Verkündigung im November 1948 wurden sie anschliessend von den UN-Mitgliedsstaaten «ratifiziert». Mit diesem Schritt stellten sich die Staaten unter die Herrschaft der Menschenrechte und verpflichteten sich zugleich, ihren Schutz und ihre Geltung in ihrem Staatsgebiet zu garantieren. Aus diesem Vorgang ergeben sich weitere interessante (und häufig vergessene) Folgen: Die Garantie der Menschenrechte ist nicht Sache von den Bürger:innen, sondern ausschliesslich von einzelnen Staaten! Wenn Sie Ihr Nachbar in seinen Keller verschleppt und foltert, verstösst er damit nicht gegen das Menschenrecht auf Schutz vor Folter. Nur Staaten können Menschenrechte verletzen, indem sie beispielsweise menschenunwürdige Verhältnisse in Gefängnissen tolerieren oder ihre Bürger:innen in allen Lebensbereichen überwachen.

Unantastbare Grossmächte

Diese Logik ist – zumal im Blick auf die Entstehung der UN in der damaligen Zeit – verständlich, aber sorgt für Probleme bis heute. Denn die Staaten stehen zwar in der Pflicht, die Menschenrechte zu garantieren – aber was ist, wenn sie das nicht tun? Es gibt es zwar verschiedene Organisationen (z. B. den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag), die Verbrechen gegen die Menschenrechte bzw. das Völkerstrafrecht verfolgen; aber eine wirkliche globale «Sanktionsmacht», das heisst eine Organisation wie vergleichsweise eine nationale Polizei, gibt es bis heute nicht. Wenn irgendwo auf der Welt schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit passieren, ist das häufig noch lange kein hinreichender Grund, dass auf globaler Ebene Massnahmen dagegen ergriffen werden. Ein bekanntes Beispiel ist heute China, das als kommunistischer Staat in vielerlei Hinsicht ein sehr problembeladenes Verhältnis zu den Menschenrechten hat (Unterdrückung der Uiguren, Überwachung der Bürger:innen, …) aber wegen seiner immensen Relevanz für den Welthandel auf dem internationalen Parkett unangreifbar scheint. Dieses Beispiel macht unmittelbar die nach wie vor bestehende Spannung zwischen universal geltenden Menschenrechten und nationalstaatlicher Verantwortung für ihren Schutz offensichtlich.

Demonstration gegen den Genozid an den Uiguren vor dem Weissen Haus, USA

Multireligiöses Team

Aber kehren wir in das Jahr 1948 zurück und beleuchten noch eine weitere revolutionäre Neuerung: An der Formulierung der universalen Menschenrechte war ein Team von Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkünfte beteiligt. Ein Detail, aber von immenser Wichtigkeit. Denn nach wie vor wird gegen die Menschenrechte vorgebracht, dass sie einem ausgesprochen «westlichen» oder sogar «christlichen» Denken entsprächen. Das macht man daran fest, dass die Menschenrechte nur auf die einzelne Person bezogen seien. Kritisiert wird, dass damit Kulturen benachteiligt würden, in denen vorgeblich Gemeinschaften oder Gruppen im Mittelpunkt stehen. Auch bei den Diktatoren dieser Welt erfreut sich dieses Argument ausgesprochener Beliebtheit. Die Menschenrechte gelten ihnen als giftiger Ausfluss eines «dekadenten» Westens, der durch seinen «Individualismus» die eigene Herrschaft untergräbt.

Da unterschiedliche Philosoph:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen die Menschenrechte aus der Sicht ihrer jeweils eigenen Traditionen und religiösen Überzeugungen formulieren konnten, treffen diese Vorwürfe schlicht nicht zu. Ganz im Gegenteil sorgt ihre Entstehungsgeschichte dafür, dass den Menschenrechten letztlich alle Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Herkünften zustimmen können, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden. Denn alle Menschen wollen doch ein Leben in Freiheit und Sicherheit leben, ohne Gefahr durch staatliche Überwachung oder Folter – oder nicht?

Religionen, Philosophien, erlebte Geschichte

Die Inhalte eines «angemessenen» Mensch-seins, auf die sich alle einigen können, erschliessen sich allerdings nicht von selbst. Überall wurzeln sie in Religionen, Philosophien und erlebter Geschichte. In unserer, also der “westlichen” Tradition sind sie das Ergebnis einer langen geistesgeschichtlichen Entwicklung, die eng mit der griechischen Philosophie und dem Christentum verknüpft ist. Wenn Paulus in seinem Brief an die Galater schreibt, dass in ihrer Gemeinde «nicht Jude noch Grieche, … nicht Sklave noch Freier, … nicht Mann noch Frau» ist, dann spricht er von der Gotteskindschaft aller Menschen; zugleich keimt in diesen Worten die Vorstellung einer universalen Gleichheit aller Menschen. Auch die Idee einer Würde aller Menschen ist eine Vorstellung, die das Christentum im dauerhaften Gespräch mit der Philosophie zur «Marktreife» gebracht hat. Viele weitere Stationen auf dem Weg zu den Menschenrechten wären aus unserer Geistesgeschichte noch zu nennen, aber das sind zusammen mit der «Bergpredigt» Jesu sicherlich die zentralen.

Darstellung der Bergpredigt in der Matthäus-Kirche von Kopenhagen, Dänemark

Sich dafür einsetzen

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die Menschenrechte sind kein «christliches Projekt» – aber wer sich als Christ:in versteht, dem fällt es aufgrund der Gottes- und Menschenbilder in der christlichen Botschaft üblicherweise leicht, auch die Menschenrechte sehr sinnvoll zu finden. Nun ist es natürlich nicht notwendig, dass alle Christ:innen die verwinkelte Geschichte kennen, die ihren Glauben mit den Menschenrechten verbindet. Aber sie lernen aus ihrem Glauben Vorstellungen vom Mensch-sein kennen, die sie mit immer wieder frischer Kraft für die Menschenrechte einsetzen lässt – und damit für diejenigen, die das aus eigener Kraft nicht können. Menschenrechte sind also nicht einfach «da», sondern sie benötigen immer wieder Selbstbildung – damit nie eintrete, was der französische Philosoph Michel Foucault einmal über die mit dem Begriff «Mensch» verbundene Vorstellungen gesagt hat: Sie werden verschwinden wie eine Spur im Sand am Meeresufer. Einen Rückfall in die Zeit vor 1948? Das kann man nicht ernsthaft wollen, so dunkel die Zeiten auch sein mögen. Die universalen Menschenrechte: Ein bleibender Hoffnungsschimmer, wenn wir uns für sie einsetzen.1

  1. Bildnachweise: Titelbild: Eleanor Roosevelt mit einem Poster der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, November 1949. Wikimedia Commons / Bild 1: Eine Karte der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Ende 1945. Hellblau sind Mitgliedsstaaten, Dunkelblau sind Kolonien von Mitgliedsstaaten, Grau sind Nicht-Mitgliedsstaaten. Wikimedia Commons / Bild 2: Demonstration gegen den Genozid an den Uiguren vor dem Weissen Haus, USA. Unsplash@kuzzat / Bild 3: Darstellung der Bergpredigt in der Matthäus-Kirche (Sankt Matthæus Kirke) von Kopenhagen, Dänemark von Henrik Olrik, ca. 1860. Wikimedia commons.

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